Die Leiche im Buch

Causemann

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„Eine letzte Frage, Dr. Willich: Wo verstecken Sie die Leiche?"
Dr. Willich ließ sich viel Zeit mit der Antwort. Erst als er ein neues Holzscheit in den Kamin geworfen und mit dem Haken in aller Ruhe zurecht geschoben hatte, drehte er sich zu Kommissar Schnöderling um und sagte: „In dem Buch, das ich gerade lese."

Kommissar Schnöderling knöpfte seinen neuen beige-grauen Ledermantel zu.
„Hören Sie, ich erkenne sofort, wenn mich jemand belügt."
„Nein, wirklich. Ich benutze sie als Lesezeichen."
Der oberste Knopf am Mantel schien zu fehlen. Kommissar Schnöderling fingerte blind am Kragen herum, doch alles, was er ertasten konnte, war ein Knopfloch.
„Sehr mysteriös dieser Fall. Sehr mysteriös."

Dr. Willich hängte den Haken zu dem anderen Besteck an den Kamin.
„Wollen Sie sie sehen?"
„Wen?"
„Die Leiche."
„Wie groß ist das Buch, das Sie gerade lesen?"
„Normal, würde ich sagen. Ungefähr 600 Seiten. Gebundene Ausgabe. Ich mag keine Taschenbücher."
„Würden Sie sagen, das ist eine Marotte von Ihnen?"
„Leichen als Lesezeichen zu verwenden?"
„Auch."
„Ich denke ... beides, ja."
„Ach, das ist ja interessant. Was denn noch?"
„Was „was denn noch"?"
„Ich meine nur, Sie scheinen sehr viele Marotten zu haben."
„Mag sein."

Kommissar Schnöderling überlegte, ob er den Mantel doch eine Nummer größer hätte nehmen sollen.
„Sie geben es also zu?"
„Ich sagte „mag sein"."
„Ok, war nur ein Versuch."
„Ach so."

„Hören Sie, Dr. Willich, das Buch beschäftigt mich."
„Möchten Sie es lesen?"
„Nein."
„Soll ich es Ihnen ausleihen?"
„Ist es denn ein Krimi? Ich lese nur Krimis."
„Nein, nicht wirklich. Obwohl, es gibt auch eine Leiche darin ... Warum lesen Sie nur Krimis? Ist das eine Marotte von Ihnen?"
„Was wollen Sie damit sagen?"
„Was sollte ich damit sagen wollen?"
„Zum Beispiel, ich wäre deshalb auch zu einem Mord fähig."
„Nicht unbedingt."
„Also ja."
„Das haben SIE gesagt."
Jetzt fing der Mantel an, unter der linken Achsel zu spannen. Sicher hatte er den Kassenzettel noch irgendwo.

„Ist es in Leder gebunden?"
„Das Buch?"
„Ja."
„Ja, in Leder. Es hat etwa die gleiche Farbe wie Ihr Mantel."
„Ich nehme an, Sie haben das Buch nicht wegen der Farbe seines Einbandes gekauft?"
„Nein."
„Sehen Sie, das unterscheidet Ihr Buch von meinem Mantel. Mir gefiel nämlich die Farbe. Die sieht man nicht sehr oft ... bei einem Ledermantel."
„Ich mag sie auch."
„Danke."
„Bitte."

„Aber zurück zu Ihrem Buch." Kommissar Schnöderling reckte den linken Arm erst nach vorne, dann nach hinten - ohne Erfolg. „An welcher Stelle sind Sie gerade? Wissen Sie schon, wer der Mörder ist?"
„Es ist kein Krimi."
„Das heißt, es war kein Mord?"
„Nein, ein Unfall."
„Warum wurde die Leiche dann versteckt?"
„Sprechen Sie über das Buch?"
„Ja."
„Die Leiche wurde nicht versteckt."
„Aha."
„Die Leiche wurde von einem Zug erfasst und in ein Gebüsch geschleudert."
„Und Sie haben Sie dort gefunden?"
„Ich? Wieso ich?"
„Wenn Sie wüssten, wie oft ich diese Worte schon gehört habe."

Kommissar Schnöderling zerrte wild an den Ärmeln. „Der macht mich noch wahnsinnig!"
„Wer?"
„Dieser verfluchte Mantel."
„Sie haben ihn nur falsch zugeknöpft."
„Ich habe was?" Kommissar Schnöderling sah an sich herunter. „Oh."

„Soll ich jetzt das Foto holen?" Dr. Willich sah den Kommissar fragend an.
„Welches Foto?"
„Das von der Leiche ... in meinem Buch."
„Oh ... ja ... bitte."
Dr. Willich ging auf ein Nebenzimmer zu, während Kommissar Schnöderling seinen Mantel wieder aufknöpfte.
„Und den medizischen Bericht hätte ich gerne morgen früh auf meinem Schreibtisch."
Dr. Willich drehte sich noch einmal um.
„Wenn Sie wüssten, wie oft ich diese Worte schon gehört habe."
 



 
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