Die Leipziger Jahre - Teil 1: Auffällige Gesichtsröte? ...

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- Auffällige Gesichtsröte? Kriegen Sie bei uns schon für 30 Euro!-


"Auf der schwäbsche Eisebahne wollt a mal a Bäurle fahre..."
Verdammt, jetzt ist mir doch glatt der Text entfleucht! Und auch mit dem Akzent haut 's wohl noch nicht ganz so hin. Aber egal, dann übersumm ich halt die nächsten paar Zeilen und komm gleich zu meiner Lieblingsstelle..."Trulla, trulla, trullala..." Was für ein Refrain!

Ich hasse Ohrwürmer! Man steht morgens auf, wischt sich noch verträumt den Sandmann aus den Augen (mit ein wenig Glück sogar mit dem Taschentuch, in dem nicht der Lungenhering vom Vorabend schlummert), schaltet schlaftrunken das Radio ein und wenn nicht gerade eine unsagbar penetrant ultrakurzwellige Amusementnovizin namens F. (sprich: Eff Punkt) bei eiNem dieseR Juppigen Zonensendern einem den Abgesang der ostdeutschen Moderations-Kultur in die Ohren gilft, besteht doch die dezente Möglichkeit, dass der erste Song, der sich an diesem noch jungfräulichem Tag mühevoll den Weg vorbei an Hammer, Steigbügel und Ambos den Gehörmuschelgang entlang schleimt, sich sofort in dein gerade mal halb waches Gehirn einquartiert und dort den ganzen Tag sitzstreikt!
Wie kann ein Morgen überhaupt schöner beginnen als mit gelbem Auswurf und "We had joy, we had fun, we had seasons in the sun"? Sitzt man abends jedoch noch auf der Schüssel und begrüßt das erste Fäkal-Würmchen mit einem "You are my sunshine, my only sunshine" sollte man besser zum Arzt gehen oder schleunigst einen Sexualtherapeuten aufsuchen. Nervt doch total, stundenlang von ein und demselben Lied gepeinigt zu werden. Eben erwähnte Eff Punkt übersteigt jedoch das Maß an Unerträglichkeit noch um etliche Potenzen, die mathematisch gar nicht mehr erfassbar sind.
Ich bin ja nun wirklich ein recht friedliebender Mensch, treusorgender Familienvater und Mitglied beim Landesvogelschutzbund Bayerns (die sind jetzt aber wieder mit dem NaBu zusammen, hab ich mir sagen lassen). Ich hab den Dienst an der Waffe verweigert und mich damals zu 68er Zeiten nackt mit auf dieses Bild an die Wand gestellt, bin Ehrenvorsitzender der Heilsarmee, hatte ein enges Verhältnis zu und mit Mutter Theresa und trag rosa Schlüpfer mit der Aufschrift "Make love not war!"... Läuft mir diese widerliche Wachtel von Eff Punkt jedoch hier in Leipzig auch nur ein einziges Mal über den Weg, würde ich keine Sekunde zögern, ihr ihre gottverdammte Gebärmutter bei lebendigem Leib heraus zureißen und ihr in ihre dämliche, stimmbandbeherbergende Fresse zu schieben!

"Trulla, trulla, trullala..." Hat irgendwie was harmonisches, ausgleichendes und beruhigendes an sich! Doch wie kam ich nur zu diesem Ohrwurm? Eben stand ich noch so gänzlich unbefangen an der Haltestelle "Breite Straße" und versuchte krampfhaft, aber vergebens Augenkontakt zu einer ostdeutschen Angela Jolie aufzubauen und nun sitz ich hier in der Tram und werde von meinem eigenen Musikantenstadl mit Volksliedern über debile in der Landwirtschaft tätige Mitbürger aus Baden Württemberg gequält, die ihre Ziege hinten an nen Zug binden und dann ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, wenn von besungenem Tierchen am Final Destination nimmer all zuviel übrigbleibt. (Tierschützer, Rindviecher und Christian Anders-Fans nennen es gerne mal den Zug ins Nirgendwo)
Zunächst wollte ich mich ja eigentlich gar nicht hinsetzen: Das unappetitliche Etwas, welches auf dem ohnehin schon recht geschmacklosen Sitzbezug der Bahn thronte, war nämlich alles andere als eine Einladung für meinen süßen kleinen Hintern, sich fallen zulassen. Könnte mal ein Döner gewesen sein, oder Durchfall...?! Das eine schließt das andere ja nicht aus! Dieser Platz war jedoch der einzige, von dem aus ich weiterhin die Möglichkeit hatte, meine Haltestellen-Angelina zu bespannen, also musste ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und Captain Kirk-mäßig mit allem zusammengekratzten Wagemut den Erstkontakt mit dieser fremden Substanz herstellen. Hm... fühlt sich gut an! Macht sogar recht witzige Geräusche, wenn man seine Hüfte hin und her bewegt. Hüfte auf Dönerresten hin und her bewegen praktiziert aber normalerweise eh keiner, weil’s doch ziemlich beknackt ausschaut und wie gesagt doch schon ziemlich eklig ist. Trotzdem Augen zu und durch: Die sieben Minuten bis zum Augustusplatz müssen flirtfaktorentechnisch vollends ausgereizt werden. Es is’ ja schließlich Frühling und jeder weiß, was da hormonell so alles mit einem passiert!
Doch ob Frühling oder Herbst ist eigentlich Jacke wie Hose: Ich fahr gerne mit der Bahn. Nun ja, eigentlich ist das nur ne Halbwahrheit: Ich hasse es einfach mit dem Rad zufahren und welche Optionen bleiben einem da sonst noch großartig, wenn man sich keinen Helikopter leisten kann!? Außerdem ist eine illustere Bahnfahrt immer wieder gut, um ab und an ein paar nette, skurrile Geschichten zu erleben, die einem – anders als Eff Punkt – den Tag oder den Abend (je nach dem) versüßen können.
Hier trifft der Chemielaborant den Sandler und der Franke auf den Sachsen. Where everybody knows your name! LVB, my home sweet home! Rote Stern Leipzig-Anhänger singen „Wir lieben große Titten und den Suff, wir gehen dreimal täglich in den Puff...!“ und der Bundesverwaltungsrichter wird beim schwarz fahren erwischt... gibt’s hier schon für 30 Euro! Und falls es einem doch mal langweilig werden sollte, blickt man einfach in seine Mitreisegruppe und übt sich im munteren Berufe erraten, was meist jedoch in eine recht langweilige und sinnlose Beschäftigung münden kann, da hier im Osten zur Rush Hour eh jeder zweite ausschaut wie ein potentieller Kinderschänder.

"Trulla trulla trullala...! Ein sanfter Ruck und das gelb-blau bepinselte Schlachtross der LVB setzt sich langsam und geschmeidig in Bewegung. Das war eine Lüge! Die Worte sanft und geschmeidig sind nämlich wohl eher welche der Unbekannteren im Wortschatz eines gestandenen Leipziger Straßenbahnfahrers... für den einen zwei süße, kleine Adjektive, für den anderen ein verbales, schwarzes Loch! Aber so weiß ich jetzt wenigstens, wie der Döner auf meinen Sitz kam!
Apropos Döner: Offensichtlich überrascht vom Einsetzen des dezenten Dahingleitens unseres luxuriösen LVB-Dampfers taumelt ein Gruppe Muselmänner durch den Gang der Tram und kommt erst im zugegebenermaßen recht breiten Kreuz einer recht beleibten Sozialhilfeempfängerin aus Delitzsch zum Halt und das mitten in meinem Blickfeld zu meiner Haltestellen-Angelina. Verdammt: Operation „Augenkontakt“ erleidet schon beim Versuch der Landung einen herben Rückschlag! Omaha-Beach-Stimmung macht sich breit – Verdammte Ausländer!

- An dieser Stelle möchte ich nun einen Moment inne halten, um die Gunst der Stunde zu nutzen, mich von jeglichen ausländerfeindlichen Be- und Anmerkungen in diesem Text und somit von meiner selbst zu distanzieren und sämtliche Äußerungen dieser Art aufs schärfste zu kritisieren! Aus zeitlichem Mangel und Platznot verweise ich hierbei auf das Kapitel „Edmund macht frei“ in Günter Becksteins kürzlich erschienenem Buch „Ich bin kein Nazi, dafür Bayer!“ Die Gourmets unter uns werden auch an seinem Erstlingswerk „Kochen mit Roland“ nicht vorbeikommen und mit Sicherheit daran ihre helle Freude haben, selbst wenn das gerade gar nicht hier her passt. Für Sportfanatiker ist sein Reitbuch „Araber – Dressur und Abschiebung“ sehr zu empfehlen! Nonsens? Vielleicht! Aber eine geile Überleitung! -

Es gibt drei Arten von Arabern: Den netten Kebabverkäufer von neben an, von unten am Eck, oder von drüben auf der anderen Straßenseite. Immer gut gelaunt, mit osmanischen Klangfarben auf den Lippen, versorgt er uns selbstlos mit Fladen und allem möglichen Grün-, Fleisch- und Käsegezeugs, was man sich dazwischen legen kann. Jedes mal stell ich mir hier die Frage, wo bei soviel Freundlichkeit wohl der Hund begraben liegt. Vielleicht als Leiche im Keller? Oder am Ende gar am Spieß? Irgendwo muss da doch ein Hacken sein! Terrorzelle? Furcht vor der Abschiebung? Man wird es wohl nie erfahren!
Als nächstes gibt es den Typ offener Hemdkragen mit Goldkettchen über 'm Brusthaartoupet, der hauptberuflich zuhält und in seiner Freizeit für die Mafia Aufträge killt.
Das Tripel komplettiert zu guter letzt der eher ungepflegte Schlabberaber mit 6 ½Wochenbart und Taliban-Look, der am Bahnhof Blumen, Drogen, oder illegal aus dem Netz gezogene Nacktaufnahmen von Kim Basinger vercheckt.
Auf meine drei Halbmondritter der Knobi-Connection trifft jedoch irgendwie keines dieser Klischees zu. Nach dem unfreiwilligen Purzelbaumschlagen durch die volle Straßenbahn sehen die Jungs eher aus wie irakische Kriegstouristen kurz nach dem Photo-Shooting ("Hey Dave, mate, hurry up! Let's go to the Kebab store and take some pictures!" ) "Nächste Haltestelle: Koehlerstraße. Übergang zur Linie 7 Richtung Sommerfeld und 72/73 Richtung Paunsdorf." Puh... Entwarnung! Das letzte Mg-Nest ausgehoben, jetzt folgt der Durchbruch: Saving Private Love!
Meine drei Sichtblendenaraber haben die Haltephase genutzt und sich in den osmanischen Teil des Abteils bewegt. Auch die nun hereinströmende Rentnerfraktion kann einem neuerlichen Flirtanlauf nicht mehr im Weg stehen. Der Evolution sei Dank schrumpfen Menschen mit zunehmendem Alter ja bekanntlich und so wird es nun auch kein großes Problem werden, über den Pulk Grufties hinwegzuspannen. „Knappes T-Shirt, kurzer Rock, ohne Omma macht’s mehr Bock!“ Ein dezent selbstgefälliges Grinsen macht sich breit. Wie kreativ ich doch manchmal sein kann! Nicht immer ganz political correct, aber dennoch gut! Wenn sie das nur wüsste! Wenn sie doch mal rüberblicken würde, ganz kurz nur, für einen winzigen Augenschlag nur...

„Trulla, trulla, trullala!“ Weiter geht’s! Langsam wird’s voll hier, langsam wird’s warm hier, langsam wird die Luft dünn! Von draußen hämmert die Frühlingssonne ungebändigt gegen die Scheiben. Es riecht nach Buttersäure. Kurzes zögern: Bin ich der Übeltäter? Schnell die Nase im 45° Winkel nach unten auf 9 Uhr und unauffällig an den Achseln gerochen. Nein: Entwarnung! Zwar kein Flieder, aber fürs Abteil noch zu halbgar. Wird wohl der Typ halbrechts stehend vor mir sein. Graumeliertes Haupthaar, Scheitel leicht böhmisch, karierter Kaki-Sacko mit passender Hose (nicht farblich, dafür hinsichtlich schlechten Geschmacks). Das schwarze Aktenköfferchen aus tschechischem Kunstleder fest unterm schweißbefleckten Arm geklemmt. Wie der stinkt! Is’ ja widerlich! Setz Dich bloß net her! Untersteh Dich! Geh weg! Setz D...
„Ändschuldüchnsä, jungoa Mann, wäa dou vüllaischd nu frai?“ Nein, Du Stinkbär! – denkt sich der Petsch, aber wie sooft in imitiertem Sächsisch: „Nü gloar!“ Na klasse, prima hingekriegt! Und jetzt krieg ich auch noch Hunger! Nebst Frage nach einem freiem Sitzplatz kam nämlich noch etwas anderes bei mir an und zwar ein Schwall verwelkter Mundflora: Ich tipp auf Stulle mit Bierwurst! Mit oder ohne Spreewaldgurken lässt sich nicht mehr genau feststellen, jedenfalls sehe ich da nur noch Wurst zwischen seinen Zähnen hängen. Riecht auch ein bisschen nach faulem Zahn... könnte aber genauso tote Ratte sein!
Er müsse zwar schon an der nächsten Haltestelle gleich wieder raus, habe es aber an der Hüfte und müsse sich deswegen setzen, fährt Stinkbär nach Hinsetzen im Nachsetzen freundlich fort und da ich es aus überraschungstechnischen Gründen leider nicht mehr geschafft hab, die Luft anzuhalten, bin ich mir nun zu 99,9% sicher, dass es sich bei seiner Mundflora eher um Fauna in Form von toter Ratte handelt. Tote Ratte, die verdammt krass schwitzt!
„Kein Problem“, entgegne ich und ertappe mich dabei, wie ich mir beinahe kindisch an die Nase fasse, um zu ertasten, ob sie schon gewachsen ist. Mein Gott, Pinocchio, eine Haltestelle wirst du schon aushalten neben diesem Stinker.

A b e r
m a n
g l a u b t
e s
k a u m ,
w i e
l a n g e
3
M i n u t e n
w e r d e n
k ö n n e n !!!

„Schaunse ma’ da drüben – ein Reh!“ Ich gebe zu, nicht gerade sonderlich kreativ, aber mittlerweile war Stinkbär schon bei seinem Prostataleiden angekommen und ehe mir seine komplette Restkrankenhistorie noch den allerletzten Atemzug zu nehmen drohte, musste halt der gute, alte Bambi-Trick herhalten. Da Stinkbär es auch augenscheinlich mit dem Halswirbeln hatte, konnte ich bei seiner abrupten Blick-nach-rechts-Bewegung förmlich hören, wie nun wieder olfaktorische Ruhe einkehrte.

„Nächste Haltestelle: Gerichtsweg!“ Heiliger Strohsack! Noch nie fand ich die Stimme der Haltestellenansagerin erotischer! Noch nie in all den Jahren war mir mehr gewahr, dass es sich bei dieser göttlichen Person um einen Engel handeln musste, der day by day auf einem Tonband gefesselt zum Kommentieren sämtlicher Ein- und Ausstiegsstationen verdammt war, nur um eines Tages einem dem Erstickungstod nahen Frankenbuben das Leben zu retten. Mit einem tiefen Ausdruck von grenzenloser Erleichterung und Dankbarkeit im Gesicht, einer freien Nase dank eines freien Sitzes neben mir und Sir Eltons „Candle In The Wind“ im Ohr setzte ich meine Reise fort, da die Bahn sich in Bewegung. Aus stilistischen Gründen und um meine völlige Wertschätzung meiner Rettung adäquat mit dem Hint zur Königin der Herzen zu untermauern, verzichte ich nun hier auf ein weiteres Trulla, trulla, trullala in der Hoffung, den Lesefluss und –genuss nicht zu schmälern!
Jetzt, da mein Gehirn wieder einigermaßen ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden konnte, meldete sich auch mein eigentliches Vorhaben bei meinem Gedächtnis zu Worte: Ich hatte eine Mission zu erfüllen! Pflichtbewusst steht mein Augenpaar Spalier und befolgt fahnentreu den Befehl: Reeeeeeeeechts um! Die Lider hooooch! Kompanie: Spannen!
Geschrieen, getan: Mademoiselle Jolie hatte es sich am anderen Ende des Abteils in einem Zweisitzer entgegen der Fahrtrichtung bequem gemacht, ihr neongelbes Handtäschchen mit der roten Aufschrift Achtung: Schlampe! possierlich neben sich gebettet. Das Logo Siehe Handtasche auf ihrem zugegeben recht spärlichem Trägerlosen und der an Stoff und Länge aus römisch-katholischer Sicht eigentlich gar nicht vorhandene, dafür recht egoistische Rock ließen darauf schließen, dass es sich bei Angelina wohl um eine nette, sympathische Klosterschülerin aus Borna handeln musste, die hier in Leipzig ihre schwer an Brustkrebs erkrankte Tante mütterlicherseits Besuchen war. (Egoistisch deswegen, weil der Rock es partout nicht zulassen konnte, die zu bedeckenden Körperteile mit widrigem anderen Gestöff wie Unterwäsche zu teilen!)

Ach Angie, wie Du wohl im wahren Leben heißt? Vielleicht Catherine, Florence oder Ann-Sophie...?! Ein Mobiles klingelt – ziemlich penetrant! Ich werde rot: Isses meins? Nein, kann nicht sein! Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass mein altersschwaches Motorola den neuen Hit von Overground polyphon von sich gibt. Ich steh mehr auf schlichtes Bieeep, bieeep oder Ring, ring! Früher hatte ich mal selbst eigenhändig (oder eigenhandyg, was für ein Wortspiel!) die Frankenhymne in ein geliehenes Nokia eingeklickert... „Wohl auf, die Luft geht frisch und rein, wer lange geht, muss rasten...“ War total stark, kam aber hier im Osten net ganz so gut an!
Es klingelt weiter. Vor meinem geistigen Auge hab ich die Jungs dieser schlecht zusammen gecasteten Gruppierung Sackhaarloser Gesangsmutanten leib- und videohaftig vor mir: Geil und verdreckt im Unterhemd sich in den Vaginalbereich pubertierender Junggroupies schleimend. Und wie vor der Glotze beim MTV- sehen kommt nun auch jetzt in mir die Großmutter zum Vorschein und sagt: Gebt dem einen Kleinen doch mal was zu essen, der schaut so verhungert aus! Der Text des Liedes ist da nur Nebensache: Nicht sonderlich tiefgründig, aber deswegen heißen sie wohl auch Overground.
Jetzt geht doch endlich mal einer ran, das ist ja nimmer zum aushalten! Hektisch hantiert Angie, Catherine, Florence oder Anne-Sophie in ihrem Handtäschchen ( die vorausgegangene Sharon Stone Beinumschlag-Nummer verschweige ich nun aus religiös-moralisch motivierten Gründen) und kramt den Ursprung des Straßenbahnorchesters hervor. „Hallö? Mandy hiar!“ Na ja, leicht verschätzt, aber auch ein schöner Name! Mandy? Oh Mandy! (Wieder so ein Ohrwurm!) Meine Mandy!!!
Verträumt drehe ich den Kopf nach links und blicke durch die Scheiben mitten ins Herz meiner Stadt hinaus. Menschen, Automobile, Fahrräder, Trabbis, Kamelherden und die schmucken, teils renovierten, teils brach vor sich hinliegenden Häuserzeilen aus der Gründerzeit fliegen an mir und der Straßenbahn vorbei. Ich schließe die Augen: Mandy!!!

Auf einer malerischen Heide im sächsischen Vogtland hüpfen wir beide in Slo-Mo Hand in Hand übers saftige Grün der beblümten Wiesen, hinweg über klare Quellen, umgestürztes Tannengehölz hinzu auf eine Lichtung der Zweisamkeit, wo keine Pilze, nur die Liebe sprießt. (Jetzt ein Wernersgrüner!) Wir legen uns blickumschlungen dar nieder auf ein Bett von Rosen, Tulpen, Lilien oder ähnlichem Geblüm und lassen die Libellen über unseren Häuptern ihren Liebestanz aufführen. Ein Pfau stolziert vorbei. Ich öffne ihren BH (einhändig, mit links, 1,8 Sekunden!), da – plötzlich – „Ihr Fahrschein, bitte!“ „Verpiss Dich!“ Ui, ui, ui, ui, ui… Im Gegensatz zu vorheriger Reinfallkonversation mit hüftbeschädigtem Olfaktoren-Dämon Stinkbär ist diesmal keine Diskrepanz zwischen Gedankenhain und Sprachzentrum zu verspüren und somit ist das Gesicht, in das ich nun unsanft aus meinem Traum gerissen blicke, keines der Kategorie „Bester Freund“!
Ein augenscheinlich jüngst dem Teutoburger Wald entflohener ur-germanischer Ur-Sachse sieht mir bluthungrig und zähnefletschend in die Augen. Ich bekomme Angst: Ist er doch der Sorte Mensch Ex-Stasi-ABM-Kontrolleur zu zuordnen, bei denen keiner so richtig weiß, ob sie jetzt noch die Kalaschnikow unterm Ledermantel tragen oder doch nur am Wochenende in Schönefeld in ihrer Datsche Rosen züchten. Bei allem von Olaf Schubert so heldenhaft propagiertem Großstadtrebellentum entscheide ich mich dieses eine Mal ausnahmsweise für die Variante „höflich Kuschen“, wühle in meinem trostlos vor gähnender Leere heulenden – und jetzt übersetz ich wortgetreu aus dem Französischen – Geldhafen, ziehe mit meinem besten I.M.- Dennis-Lächeln meine Fahrkarte hervor und halte sie ihm direkt unter seine Windhundnase, wobei der Begriff „unterwürfig und bittstellend vor seinem Killerface wedelnd“ wohl der Treffendere gewesen wäre!
Beinahe enttäuscht ob der Gültigkeit meiner Papiere und der daraus resultierenden Absage der sofortigen Erschießung des LVB-Verräters Petsch zieht er murrend weiter, um wenig später zwei Reihen hinter mir an seine Polnischkenntnisgrenzen bei einem ehemaligen Gewichte stemmenden Olympioniken aus Krakau zu stoßen.

„Nächste Haltestelle Johannisplatz!“ Die Erotik in ihrer Stimme hatte merklich abgenommen, aber das lag wahrscheinlich größtenteils an dem Umstand, dass ich viel zu sehr beschäftigt damit war, mir die Schweißperlen von der Stirn zu wischen. Das is ja noch mal gut gegangen!
Die Schiebetür öffnet sich und eine Straßenbahnfahrtgepeinigte Traube Ostdeutscher schiebt sich in die freie Welt hinaus aus der Tram. Erst raus, dann rein besagt die goldene Regel der öffentlichen Verkehrsmittelbenutzer, an die sich nicht immer alle beteiligten Parteien zu halten pflegen. Dabei isses doch so einfach: Wie beim Geschlechtsverkehr, nur andersherum! (Welchen Status in diesem Zusammenhang die Regel hat, möchte ich wirklich nur ganz kurz streifen! Immerhin zieht sich ja ein ganz anderer roter Faden durch diesen Text)
Locker, lässig, mit leicht gorilla-artigem Catchergang betreten zwei sympathische, junge Herren das Parkett, sprich das Abteil: Sven Nazi und Silvio Penis, meine beiden Lieblings-Ostgoten. Erstaunlich, dass man sie hier wirklich an jeder Ecke trifft und noch erstaunlicher, dass sie auch wirklich so aussehen, wie sie heißen.
Zielbestrebt fokussierend marschieren sie an mir vorbei. Im Gleichschritt Links, rechts, links, rechts. Eisige Stille im Abteil. Wo sind eigentlich die Araber? Man könnte eine Stecknadel fallen hören, oder - situationsbedingt wohl besser - das Eiserne Kreuz!
Kaum einer getraut sich zu atmen und ich kann es durchaus verstehen: Die Jungs machen echt was her! High Noon im Wilden Osten... Sergio Leone hätte seine helle Freude! Leider hab ich meine Mundharmonika zu Hause liegen gelassen! Mein Herz pocht. Was heißt es pocht: Ich kann es in meinen Zehen spüren. Meine Zehennägel brechen fast ab, so hochfrequent geht die alte Raucherpumpe. Was haben Svenny-Boy und Silvio nur vor?
Im Stechschritt - und bei den engen Hosen, die die beiden Zonen-Outlaws tragen, wohl auch mit einem Stechen im Schritt - nähern sich die beiden Tötungsmaschinen Schwarzenegger-like auf den von meiner Mandy nebst Handtäschchen bepflanzten Zweisitzer zu und – die Spannung zerreist fast das Abteil – mit einem „Hallo Schatz!“ schiebt – ob es nun der Penis oder der Nazi war kann ich im Ereignisüberschlagen des Gefechtseifers nicht mit Bestimmtheit sagen – meiner Mandy seine lange, glibberige Sonnenbank gebräunte und Fitnessstudio gestählte Zunge in den Mund...!

“Trulla, trulla, trullala!“ Diesmal in Moll! Die Mistel wich der Trauerweide, die letzte Dattel dem Verdursten.
Angewidert, frustriert, wütend und enttäuscht wende ich mich ab. Naja, eigentlich nur angewidert. Manche Menschen küssen echt vulgär! Und außerdem: Soooo toll war sie nun auch wieder nicht! Mandy? Was für ein beknackter Name! Was für ein beknacktes Lied!!!
Sind schon ein hübsches Pärchen, die Beiden. Nur schnell verdrängen, nur schnell vergessen. Was für eine Schmach: Ein Penis sticht mich aus!
Mein linkes Bein beginnt zu zucken. Nicht schon wieder! Ich muss mich stellen. Wenn ich es schon nicht geschafft hab, das Herz der einen zu erobern, dann versuch ich es eben bei der nächsten: Gekränkter Männerstolz!
„Bitte setzen Sie sich doch!“ kehre ich meine beste Kinderstube heraus und schmachte süffisant lächelnd eine 82-jährige Mutti an, die sich verzweifelt am Ticketautomaten festhält, um nicht von der Fliehkraft durch die ganze Bahn geschleudert zu werden. Sähe bestimmt witzig aus, wenn sie so an der Stange hinge mit ihren knochigen alten Händchen und nach und nach erst ihr Toupet, dann der Zahnersatz und vielleicht noch die Stützstrümpfe durchs Abteil wirbeln würden. Beim Fahrstil des Tramchauffeurs durchaus keine Dystopie! Ich wiederhole mich: „Wollen Sie sich nicht setzen?“ Ihrem unsicheren Blick entnehme ich, dass ich wahrscheinlich der erste Langhaarige bin, den sie zu Gesicht bekommt, seit damals ein versprengter Rotarmist in ihrem Kaff bei Königsberg erst über ihr frisch gepflanztes Geranienbeet trampelte und sie dann im Keller nahm. Vielleicht eine etwas vage Theorie und es ist damals auch ganz anders gewesen („Hallo Juri, kleines Teechen gefällig?“), aber dennoch entgegnet sie mir mit einem ängstlichen „Nein, Danke!“
Das hab ich gerne: Immer über die Jugend schimpfen und wenn dann aber mal einer kommt, der versucht freundlich zu sein, ist es ihnen auch nicht recht. Dezent verweise ich auf die umgedrehte Alterspyramide, drohe mit Sterbehilfe und fahre sie an, dass ich jetzt extra für sie aufgestanden bin und wenn sie sich nicht sofort auf meinen Platz setzen würde, der Track nach Dresden nichts gegen meinen aufkommenden Groll gewesen sei!
Das hat gezogen. Wusste ich’s doch: Nur mal kurz mit dem Zaunpfahl, Iwan oder Bomber Harris gewunken und die Sache rollt. Die Mutti setzt sich brav und der Dennis steht nun und hält sich seinerseits an der Stange am Ticketautomaten fest, um nicht selbst Opfer der Fliehkraft zu werden. Jetzt penetrieren auch Sven und Mandy nicht mehr meine Sehnerven, hören kann ich sie aber immer noch: Die küssen echt widerlich! Er komme grad vom Amt und habe sich die Stütze geholt. Na prima!
Ich blicke auf den mittig im Abteil angebrachten Monitor und verfolge gebannt die Schlagzeilen. „Ehemaliger US-Präsident gestorben.“ Der mit dem Alzheimer. Den Namen hab ich vergessen!
Wie ich da so stehe und beidhändig das klebrige Gestänge umfasse kommt mir der Gedanke, wie viele meiner männlichen Vorgänger, die schon an der gleichen Stelle standen, wohl nach dem Abtröpfeln sich die Hände gewaschen haben. Mir wird schlecht! Los lassen is aber nicht, weil der Straßenbahnfahrer gerade ne Scharfe Rechte nimmt und dabei zu Höchstleistung auffährt. Ich spinne den Gedanken fort und überlege mir, wie viele meiner weiblichen Vorgängerinnen, die schon ihre Hände an dieser Stange, vorher das Teil von irgendwelchen Typen, die nicht mal abtröpfeln in selbigen hatten. Igitt!
Oper und Gewandhaus kommen in Sicht und bleiben es auch für den winzigen Augenblick des Sturzes, in dem kurz verschwommen das Konterfei von Kurt Masur vor meinem geistigen Auge auftaucht, ehe ich nach dem Loslassen erst abtauche, dann mit dem Kopf auf dem Boden aufschlage und auf einmal gar nichts mehr sehe.

„Nächste Haltestelle Augustusplatz. Zentraler Umsteigepunkt. Zugang zur Innenstadt.“
Geschafft! Hat dieser Höllenritt nun endlich ein Ende! Mit Döner an den Arschbacken, Urin an den Händen und dem immer wieder kehrenden Bild eines knutschenden Pimmels im Gedächtnis rappele ich mich auf und schleppe mich in Richtung Ausgang. Ich will gerade im Windschatten von Sven Nazi und Sylvio Penis die Bahn verlassen, um beide hinterrücks mit meinem Wohnungsschlüssel dar niedermetzeln, da erkenne ich gerade noch eine Tür weiter ein kleines, schwarzhaariges Etwas die Tram betreten. Eff Punkt!!! Was für eine Freude!
Trulla, trulla, trullala... Ich fahr wohl doch noch bis zum Bahnhof!
 



 
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