Die Lüge

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disul

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Die Lüge

Thomas verlangsamt die nächtliche Fahrt, unsicher, ob er vorhin wirklich nach rechts hätte abbiegen sollen. Alles liegt in tiefem Dunkel. Seit dem letzten Dorf gibt es keine Strassenlaternen mehr, und Thomas fährt gegen gegen eine pechschwarze Wand, die wohl ein nächster Waldabschnitt sein muss. „Papa, geht es noch lange, bis wir dort sind?“, ertönt Lisas Stimme vom Rücksitz des Autos. Thomas schaut in den Spiegel, kann aber seine Tochter hinter dem riesigen Plüschbären, den sie vor ein paar Stunden zur Bescherung bekommen hat, kaum sehen. „Nein, mein Schatz, es dauert nur noch eine kleine Weile,“ entgegnet er, obwohl er seinen Worten und vor allem dem Routenplaner, dem er seine Informationen entnommen hat, nicht ganz so traut. Rasch schaut er nach rechts, wo seine Frau Anita sitzt. Sie hat ihre Augen geschlossen und lächelt fein.
Schon drei Tage führen Thomas und Anita das Geheimnis der nächtlichen Reise mit sich. Genau so lange, wie die Lüge, die Thomas - ebenfalls vor drei Tagen - seiner Tochter aufgetischt hat. Thomas hasst Unehrlichkeiten, und Lügen sind ihm zutiefst zuwider. Seine Frau ist da genau gleich, und obwohl es ihnen manchmal mehr als schwer fällt, ihrer Tochter die Wahrheit zu sagen, können sie von sich behaupten, dass sie dies doch immer in einer Art und Weise probieren, damit sie ein zehnjähriges Mädchen verstehen kann.

Vor drei Tagen, stand seine Tochter am Fenster, wie sie es des Abends in letzter Zeit immer häufiger tat, und schaute nach draussen. Sie wird wohl die weihnächtliche Beleuchtung bewundern, dachte Thomas, und widmete sich weiterhin seiner Zeitung. Es war ja auch wirklich viel, was es von der vierten Etage ihres Wohnblocks in der Vorstadt aus zu bestaunen gab. Thomas wunderte sich nicht, dass Lisa wahrscheinlich deswegen immer und immer wieder für eine bestimmte Zeit am Fenster stand und - ohne etwas zu sagen - nach draussen blickte.
„Papa, stimmt es wirklich, dass wir als Sterne zur Erde hinunter schauen, wenn wir gestorben sind?“
Thomas spürte, wie sich eine eisige Kälte in seinem Körper ausbreitete; er legte langsam seine Zeitung zur Seite und trat neben seine Tochter. „Was hast du gesagt, mein Schatz?“ fragte er, obwohl er sehr wohl verstanden hatte. Dass Lisa die Frage „Was ist nach dem Tod?“ in Anbetracht ihrer Krankheit, die sehr wohl tödlich enden konnte, einmal stellen würde, wusste er, und er war um jeden Tag froh, an dem sie noch nicht kam. „Ja, mein Schatz, das ist so“, antwortete Thomas ohne zu zögern, und noch jetzt konnte er nicht nachvollziehen, wie ihm diese Lüge ohne Bedenken über die Lippen gekommen war. Aber wie konnte man einem Kind, das dem Tod vielleicht bald ins Auge blicken musste, sagen, dass es da für den Verstorbenen selber einfach nichts mehr gab? Kein Paradies, keine Wiedergeburt, kein Seelenhimmel, kein Wiedersehen mit Oma und Opa, rein gar nichts. „Ja, das ist so, mein Schatz“. Lange Zeit standen die beiden ohne zu sprechen nebeneinander und blickten nach draussen. Wie ein Stich fuhr es Thomas durchs Herz, als er Lisas Schluchzen vernahm. „Aber Papa, warum hat es dann fast keine Sterne am Himmel? Es sind ja schon so viele Menschen gestorben?“ Genau in dem Moment, als Lisa dies sagte, wurde Thomas bewusst, dass er, seit er am Fenster stand, trotz Wolkenlosigkeit und Halbmond zu einem fast sternenlosen Himmel hochschaute. Und er stellte mit Schrecken fest, dass seine Tochter wahrscheinlich noch nie einen anderen Himmel als diesen gesehen hatte. „Weisst du, Lisa, die Sterne sind schon da, aber du kannst sie nicht sehen.“ Und Thomas erklärte seiner Tochter, was Lichtverschmutzung bedeutete. Er nahm sie in die Arme und erklärte ihr, dass Oma und Opa und all die Verstorbenen wirklich als Sterne am Himmel stünden, dass man diese aber wegen des zu vielen Lichts nicht sehen konnte. Langsam beruhigte sich Lisa, ihr Schluchzen verebbte und sie schmiegte sich immer wie enger an ihren Vater. „Dann bin ich froh, dann kann ich jeden Abend zu euch herunterschauen, wenn ich nicht mehr da bin. Sterben ist dann gar nicht mehr so schlimm, wie ich mir das vorgestellt habe.“
„Ja, das ist so, mein Schatz.“
Erst spät am Abend erzählte Thomas schluchzend seiner Frau von Lisas Ahnen um ihren möglichen Tod, von ihrer Frage, von seiner Lüge und von dem Glück und der Hoffnung, die diese Lüge seiner Tochter gegeben hatte. Und so kam es, dass seine Frau ihm den Vorschlag zu dieser nächtlichen Reise machte.
Zum Glück spielte das Wetter mit, als sie nach der Bescherung am Heilig Abend, die sie in die frühen Nachmittagsstunden vorverlegten, ins Auto stiegen und sich auf die gut dreistündige Autofahrt aufmachten, die sie hinaus aufs Land auf einen kleinen Berg in einem Mittelgebirge führen sollte.

Thomas schaut erneut in den Rückspiegel und sieht, dass seine Tochter sich wieder zum Schlafen gelegt hat. Sie schläft sehr fiel und die Ärzte sagen, dass der Schlaf das beste Medikament für Lisa sei. Er glaubt ihnen nicht.
Das Ortsschild, das in der Dunkelheit auftaucht, lässt Thomas wissen, dass das nächtliche Ziel nun bald erreicht ist. Es ist wolkenlos und der Mond ist kaum mehr als schmale Sichel zu sehen.
Nach kurzer Zeit am Ziel angekommen parkiert er sein Auto auf dem verlassenen Parkplatz. Hier herrscht wirkliche Nacht, wahre Dunkelheit. Die nächste Siedlung liegt einige Kilometer entfernt hinter dem Wald, welcher nicht mehr auszumachen ist, da sein tiefes Dunkel sich mit dem erhabenen Schwarz der Nacht vermischt. Thomas steigt aus. Seine Augen gewöhnen sich rasch an die Dunkelheit. Er schaut zum Himmel empor und muss einen Freudenschrei unterdrücken. Tausende von kleinen, noch kleineren und kleinsten Punkten, einzeln oder in prunkvollen Gruppen stehend, mehr oder weniger funkelnd, weiss, gelblich, eher ins bläuliche neigend, überall am ganzen Himmel verstreut, eine Menge von Sternen, unzählbar. Und dort, beinahe am Horizont, einem durchscheinenden, zarten Leintuch gleich die Milchstrasse! Unfassbare, unvorstellbare Weiten, die Wissen und Unwissen, Wahrheiten und Lügen, alles und jedes in Frage stellen.
Thomas schreitet ums Auto, öffnet die Türen und lässt Lisa und Anita aussteigen. Nun stehen alle drei staunend und in stiller Ehrfurcht ergriffen unter dem riesigen Himmelszelt. „Mama, Papa, da tauchen ja immer wie mehr und wie mehr Sterne auf. Hunderte, Tausende, vielleicht sogar Millionen. So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Das ist, wie wenn unzählige Diamanten den Himmel verzieren würden. Nun schauen unsere Verstorbenen zu uns herunter. Ihr hättet mir und Oma und Opa kein schöneres Weihnachtsgeschenk machen können.“ Thomas spürt, wie eine kleine, warme Hand nach der seinen greift und in diesem Moment weiss er, dass er seiner Lüge nicht Lüge sagen muss.

© by Disul / Dezember 2008
 



 
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