Die Lust, zu leiden

Heiner Bauer

Mitglied
Sie war seine erste große Liebe, reichlich spät, mit fünfundzwanzig Jahren. Aber sie war es tatsächlich. Die Erste jedenfalls, die er rumgekriegt hatte. Und es war höchste Zeit gewesen, wie er fand!

Sie wusste das nicht. Und er hätte es ihr auch nie gesagt, weil er meinte, sie würde dann weniger Angst haben, ihn zu verlieren, wenn sie gewusst hätte, dass sie seine Allererste war! Und er brauchte das Bewusstsein ihrer Angst, ihn zu verlieren, um sich sicher zu fühlen!

Er lag jetzt auf dem Rücken, den Hinterkopf in der Beuge des linken Armes, während er mit den rötlichen Haarbüscheln in seiner Achselhöhle spielte und seinen Körper betrachtete: die Haare auf der schmalen Brust, die Schambehaarung unter dem Nabel und die langen Füße, bei denen die mittleren Zehen merkwürdigerweise länger waren als die großen.

Sie duschte im Bad. Und er konnte sie dabei singen hören durch das Rauschen des Wassers. Sie duschte jedes Mal danach, entspannt, erlöst und heiter, während er aber nackt auf dem Bett lag und grübelte.

Er grübelte, wie ein kleines bockiges Kind, das immerfort vom Schlimmsten phantasiert, es fürchtet, aber es dennoch herbeisehnt, damit alle Welt es bedauern musste über sein böses Schicksal.

Er meinte, zu wissen, dass sie ihn eines Tages verlassen würde! Ganz sicher würde sie das tun! Und alles, was sie sagte oder tat oder nicht sagte oder nicht tat, nahm er als ein Indiz für seine Vorahnung, und er registrierte es mit einer abgrundtiefen Trauer.

Bei allem, was sie miteinander taten, hatte er den Hintergedanken, es könne das letzte Mal gewesen sein. Ja, sogar dann, wenn er mit ihr schlief, wurde er diesen Gedanken nicht los! Diesen entsetzlichen Gedanken, das nächste Mal könne schon irgendein Fremder an seiner statt in sie eindringen! Nein, er wurde diese Angst nicht los! Keinen einzigen Augenblick gelang ihm das ganz!

Es machte ihn oft grundlos traurig und verbiestert, aber er war ja schließlich und letztendlich vollkommen davon überzeugt, sie zu verlieren, obwohl sie ihm doch wieder und wieder, oft unter Tränen, versichert hatte, dass sie ihn niemals verlassen würde.

Tatsächlich war er sich jedoch seiner Prognose vollkommen sicher. Spätestens dann, wenn sie auf die Frage einer möglichen Heirat und eines Kindes zu sprechen kamen! Sie weigerte sich kategorisch, ihn jetzt schon zu heiraten oder ihm ein Kind zu gebären. Sie wollte noch einiges von der Welt sehen und noch einige nette Leute kennenlernen, ehe es dann soweit sein würde.

Und er, traurig und verbittert, bedrängt sie immer wieder aufs neue. Aber nur in den Augenblicken der Ekstase, wenn er in sie eindrang, dann hatte sie auf seine Frage „Willst du mich endlich heiraten?“ ein lautes „Ja! Ja! Ja!“ hinausgestöhnt, um es hinterher heftig und bestimmt zu widerrufen.

Er quälte sie mit seiner Fragerei und seiner Eifersucht. Er quälte sie mit den Szenen, die er ihr machte, indem er sich bockig vor ihr zurückzog, sich irgendwo verkroch und vor ihr fortlief und doch wartete, dass sie ihn suchte.

Er spürte es schließlich ganz genau, wie er sie damit überforderte! Sie war ja schließlich erst achtzehn! Aber er konnte nicht anders! Eine böse innere Stimme hieß ihn, dies zu tun! Und diese böse innere Stimme redete immerfort zu ihm, dass sie ihn ohnehin verlassen würde! Sie würde ihn verlassen, so die böse innere Stimme, weil die Welt schlecht war und eine Lüge, ein Ort des Betruges und der Barbarei!

Es war vollkommen gleichgültig, was sie noch miteinander erlebten und ob sie heute glücklich waren, denn sie würde eines Tages gehen und einem anderen Mann gehören, dessen war er sich vollkommen sicher!
Sie kam jetzt herein, lächelnd, duftend, in ein Badetuch gehüllt. Und sie setzte eines ihrer langen schlanken Beine auf die Kante seines Bettes, und sie begann, es einzucremen mit einer Lotion. Sie tat dies immer nach dem Duschen, um die austrocknende Wirkung des Wassers aufzuheben.

Sie lächelte ihm zu. Und als ihr Blick auf sein Gesicht fiel, verdunkelten sich ihre hellen Augen.

„Grübelst du schon wieder?“, fragte sie strafend.

Und als er den Kopf schüttelte, beugte sie sich hinab und biss mit den Schneidezähnen leise und zärtlich in seine Nasenspitze. Und sie sagte wie zu einem Kinde, das noch an Gespenster glaubte, um es zu beruhigen, eindringlich und langsam: „Ich weiß nicht, was irgendwelche anderen Weiber vor mir mit dir getan haben, aber ich bin ich und nicht die! Hörst du? Und ich verlasse dich nie! Merk dir das endlich! Du machst mich noch ganz krank mit Deinen Zweifeln und Deinem Misstrauen!“

Für Sekunden war er zuversichtlich und heiter. Sein Gemüt war wie ein strahlender Sommerhimmel, aber am Horizont zogen dunkle Wolken auf, gegen die er nicht ankam!

Er knurrte irgendetwas, und er dachte bei sich: Nichts als Geschwätz! Nichts als Geschwätz! Eines Tages wird irgendein Anderer kommen, erfolgreicher als ich, muskulöser als ich, interessanter als ich, und dann ist es passiert! Und ich kann nichts, absolut gar nichts dagegen tun!

„Versprich mir, dass du mit der Grübelei aufhörst!“, drängte sie jetzt.

„Sonst?“, fragte er drohend und betroffen, den Hinterkopf immer noch in der Beuge des linken Armes.

„Sonst? Sonst?“, äffte sie. Und sie schien jetzt wirklich ärgerlich zu werden.

„Sonst? Sonst? Bist du schon wieder misstrauisch? So kann man doch nicht leben! Das ist ja wie in einem Gefängnis!“

Resolut lief sie ins Bad zurück. Und er hörte, wie sie sich anzog. Wobei ihm der Gedanke kam, es könne das letzte Mal gewesen sein, dass er sie nackt gesehen hatte.

Da war es wieder gewesen! Gefängnis! Gefängnis! Er und seine Liebe waren also ein Gefängnis! Darum wollte sie ihn nicht heiraten! Darum wollte sie keine Kinder von ihm!

Und er überlegte einen Moment lang, ob er sich jetzt abrupt anziehen und einfach wortlos davonlaufen sollte, wie er es schon so oft getan hatte, nur um sie zu bestrafen, nur, damit sie sich ängstigte und ihm nachlief, hilflos und weinend.

„Was denkst du jetzt schon wieder?“, fragte sie besorgt und steckte den Kopf mit dem Föhn aus der Badezimmertür.

„Nichts!“ murmelte er einsilbig und leise, dabei blickte er zur Seite, aus dem halbgeöffneten Fenster in den Abendhimmel, hörte die Stimmen der tobenden Kinder vor dem Haus, und er sonnte sich in Selbstmitleid.

Sie wird fortgehn!, dachte er gequält wie schon so oft: Sie wird fortgehn! Ganz sicher wird sie das tun! Fortgehn mit irgendeinem anderen Kerl und mich einfach so zurücklassen wie eine leergetrunkene Colaflasche! Das wird sie tun! Genau das! Und ich werde dann ganz allein sein! Schrecklich allein! Und ich werde mich umbringen! Mich aufhängen oder vor einen Zug werfen! Und sie wird es lesen, in der Zeitung, und sie wird vor dem Schwein erschrecken, das tief in ihr steckt! Alle werden wissen, dass sie schuldig ist! Aber sie soll mein Grab nie finden! Das wird ihre Strafe sein! Nie wird sie es finden! Niemals! Man müsste in einen Hochofen springen!, dachte er.

„Du grübelst doch schon wieder!“, rief sie jetzt laut und verzweifelt aus dem Bad.

Er sonnte sich in seinem Selbstmitleid und ihrer Sorge.

„Nein!“, rief er halblaut, und es sollte resigniert klingen: „Nein! Ich grübele nicht!“
Dabei sah er immer noch zum Fenster hinaus, und er dachte tieftraurig: Vielleicht geht sie heute noch weg! Ganz sicher geht sie heute noch weg! Und ich bin dann allein! Und ich werde mich umbringen! Ich werde es tun! Ich werde die Kraft dazu finden, wenn ich erst ohne sie bin! Ich werde stark genug sein, es zu tun, denn sie mit einem Anderen, das ist zuviel! Und das ertrage ich nicht! Also werde ich es tun!

„Doch! Du grübelst!“, rief sie noch lauter und noch hilfloser, schon den Tränen nahe aus Verzweiflung.

„Du grübelst! Du grübelst! Ich seh das ganz genau, an der Falte zwischen Deinen Augenbrauen und an Deinem Gesichtsausdruck! Du denkst immer, ich seh das nicht! Aber ich seh das ganz genau! Du grübelst! Und dabei war es doch vorhin so schön! Was soll ich denn nur tun, damit du mir glaubst, dass ich dich liebe und niemals verlasse? Was soll ich denn nur tun? Was soll ich denn nur tun?“

„Nichts!“, sagte er kalt und einsilbig, sah die Tränen in ihren Augen und wandte sein Gesicht wieder dem Abendhimmel zu.

Wenn du mich lieben würdest, wirklich lieben würdest, dachte er verbittert, dann wüsstest du, was zu tun ist! Dann würdest du mich heiraten und ein Kind mit mir haben! Aber du wirst beides nicht tun, denn du liebst mich nicht! Du sagst: Heiraten und Kind, das hat mit Liebe nichts zu tun! Aber für mich hat das sehr wohl mit Liebe zu tun! Denn da ist die Grenze zwischen Nichtlieben und Lieben, zwischen Spaß und Ernst! Bei Heiraten und Kind, da hört die Spielerei auf und der Flirt und die jederzeit beendbare Beziehung und das Experiment! Bei Heiraten und Kind fängt es an, der Verzicht und der Stress und das Windelwaschen und am Bettchen Wache halten und die Verantwortung und die Verpflichtung! Das alles fängt da an! Aber du willst das alles nicht, noch nicht, wie du sagst! Und wenn du mich liebst, wie du behauptest, ist es dann nicht scheißegal, ob wir jetzt heiraten oder in fünf Jahren, ob unser Kind nächstes Jahr geboren wird oder in zehn Jahren? Aber das kapierst du nicht! Weil du nicht willst und sowieso weggehn wirst und mir das Herz brichst!

Das alles dachte er nur still für sich hin, aber bestimmt. Er hätte sich geschämt, ihr es laut zu sagen, weil er nicht wusste, wie sie darauf reagiert hätte. Und weil es ihm peinlich war, ihr seine Verlustängste einzugestehn, weil er sich schämte, sie mit Ehe und Kind festbinden zu wollen und auch, weil er Angst hatte, sie würde dies erkennen.

Er dachte dies alles nur, während sie schon auf dem Fußende seines Bettes saß, den Föhn immer noch in der Hand und in seinem Gesicht forschend.

Sie schien doch tatsächlich seine Gedanken fast vollständig zu erraten, so gut kannte sie ihn also, weil sie jetzt zu ihm sagte: „Heiraten? Das Heiraten und das Kind? Ist es das? Ist es das? Natürlich ist es das! Natürlich ist es das! Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass ich noch nicht heiraten will und noch nicht rumlaufen mit einem dicken Bauch! Verstehst du? Verstehst du? Ich will ganz einfach noch ein Bisschen erreichen, im Leben, vorher! Und ich will noch fertig werden! Verstehst du mich denn nicht? Ein richtiger fertiger Mensch, reif und erwachsen für Kind und Ehe! Denn das bin ich jetzt noch nicht! Verstehtst du mich?“

„Hm!“, machte er halblaut. Und er sah sie dabei aus den Augenwinkeln an wie eine Ware mit Mängeln oder wie ein Beichtkind, dem man die Absolution versagen musste.

Den Blick wieder starr in den Abendhimmel gerichtet, dachte er dann: Wenn du mich über alles liebst, wie du sagst, kannst du dann mehr erreichen als mich und ein Kind von mir?

Und er sah sie nicht an, als es ihm durch den Kopf schoss, dass sie war, wie alle jungen Mädchen: noch im Experimentierstadium, das er jedoch längst hinter sich gelassen hatte! Und er war zu schwach, um sie zu binden und zu halten! Das war ihrer beider Tragik! Sie war, wie alle jungen Mädchen, sie versprachen einem das Absolute, die Ewigkeit, und dann waren sie plötzlich verschwunden, dahin, an der Seite irgendeines Wildfremden, der aus dem Nichts dahergekommen war.

Er aber, war ein Mensch, der Gewissheit und Garantien brauchte, um frei atmen zu können! Nur dann vermochte er, den flüchtigen Augenblick unbeschwert zu genießen.

Und er sah noch immer in den Abendhimmel hinaus, als er sehr leise zu ihr sagte: „Die erste Liebe hält nie fürs Leben!“

In ihr kindlich weiches Gesicht kam ein flüchtiger Zug von Betroffenheit, der aber sofort wieder verschwand, als sie ihm berührte, um zu antworten: „Ich halte nichts von Pauschalisierungen! Aber es mag durchaus hin und wieder so sein! Ich kann dir nur sagen: Ich habe jedenfalls momentan nicht die Absicht, dich zu verlassen! Und warum soll ich mir jetzt Gedanken darüber machen, was in fünf Jahren sein könnte?“

„Momentan! Momentan!“, äffte er ärgerlich, und er richtete sich auf, gestützt auf die Ellenbogen. Flüchtig bemerkte er den großen, noch nassen Fleck, links neben sich, auf dem Laken, der langsam eintrocknete, ehe er weitersprach: „Wenn du in fünf Jahren sowieso weg sein könntest, warum sollten wir dann jetzt weitermachen? Dann ist doch sowieso alles ganz umsonst!“

Ihr Gesicht versteinerte sich mehr und mehr, während er sehr laut weitersprach: „Menschen sind doch keine Wegwerfgegenstände! Es muss doch Garantien geben, im Leben! Irgendetwas, worauf man sich verlassen kann! Etwas, worauf man bauen kann! Etwas zum Festhalten! Verstehst du? Und wenn schon der geliebte Partner nicht mehr kalkulierbar ist, der wichtigste Mensch auf dieser Welt, was ist dann überhaupt noch kalkulierbar auf dieser Scheißwelt? Dann will ich nicht mehr leben, verdammte Scheiße!“

„Du suchst das Absolute!“, entgegnete sie altklug, und er wunderte sich noch, woher sie mit ihren achtzehn Jahren diese Philosophie nahm.

„Du suchst das Absolute!“, fuhr sie fort, „aber das Absolute gibt es nicht! Und wer immer es sucht, der wird auf dieser Suche zugrunde gehen, denn es gibt nur das Unvollkommene und das Flüchtige, nur den Augenblick! Und den muß man genießen! Denn wer das nicht kann, den flüchtigen Augenblick unbeschwert genießen, der wird kaputtgehn, früher oder später!“

„Ich bin aber tiefgründiger!“, rief er heftig, „so kann ich nicht leben! So oberflächlich kann ich nicht leben, nur für den Augenblick!“

„Ich weiß nicht was Du hast!“, schluchzte sie auf einmal hilflos: „Du bist so ein schwieriger und sensibler Mensch! Ich weiß einfach nicht, was Du immer hast und was ich vielleicht falsch mache! Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Hilf mir doch, bitte! Ich weiß einfach nicht mehr weiter!“ „Dann geh doch und such dir einen Anderen!“, sagte er grob und laut. Denn, wenn sie schon so unglücklich mit ihm war, dann war es ja völlig egal, wann sie gehen würde, früher oder später! Und alles war sowieso umsonst und vollkommen sinnlos, weil von ihnen beiden nichts

blieb, als ein schaler Nachgeschmack, die Peinlichkeit bei einem unverhofften Wiedersehen und ansonsten nur Schmerz und Enttäuschung und die krampfhafte Suche nach einem neuen und besseren Partner!
„Du tust mir so weh!“, jammerte sie, und sie schluchzte jetzt vollkommen hemmungslos und laut.

Ich sollte sie jetzt vielleicht trösten!, dachte er, aber er ließ es, weil die böse innere Stimme in ihm wieder mächtig und laut zu ihm sprach, er solle sie lassen.

Und so dachte er nur: Wer tröstet denn mich, wenn ich traurig über sie bin? Niemand!

Deshalb hörte er wieder auf die böse innere Stimme. Und er ließ es, sie zu streicheln und zu trösten, obwohl er wusste, dass genau dies notwendig gewesen wäre und von ihm erwartet wurde.

Deshalb sagte er nur kalt und flüchtig zu ihr: „Du tust mir ja auch weh!“, ehe er sich wieder beleidigt dem Abendhimmel zuwandte.

Da drehte sie sich mit einem Ausdruck entsetztem Unglaubens auf dem Gesicht vollends zu ihm um. Und dann schrie sie, unerwartet laut und hysterisch, während ihre kleinen weißen Fäuste auf das fleckige Laken trommelten: „So? So? So? Ich, ich tu dir also weh? Ich tu dir weh? Wie kannst du so etwas behaupten? Ich mach doch schon alles, wie du es willst! Und ich liebe dich und vertraue dir noch, obwohl mir das manchmal schon schwerfällt! Aber ich habe jedenfalls den festen Willen! Und ich vertraue dir! Aber du, du wirst noch alles kaputtmachen mit Deinem ewigen Mißtraun und Deinen Zweifeln, wenn du so weitermachst! Oh, ich weiß nicht mehr weiter! Ich weiß wirklich nicht mehr weiter! Und ich fühl mich so alt und so kaputt! Und so will und kann ich nicht mehr leben...!“

Sie weinte jetzt laut und heftig, den Kopf in das fleckige Laken gepresst. Immer, wenn sie vom Schluchzen geschüttelt, den Kopf einmal hob, bemerkte er, beleidigt und distanziert und mit kühlem Beobachterblick, wie hässlich jetzt ihre roten verquollenen Augen waren und ihre rote Nase, wenn sie weinte.

Wird sich nachher einen Haufen kaltes Wasser ins Gesicht schaufeln müssen, ehe sie wieder auf die Straße kann!, dachte er.

Und er spürte plötzlich eine dunkle Sorge, irgendein Außenstehender, vielleicht ihre Eltern, vielleicht ein Nachbar, könne von ihren Streitereien erfahren und sie beide, zu ihrem Wohle, trennen. Er spürte die unklare Furcht, sie könne einen Weinkrampf bekommen oder einen Nervenzusammenbruch, der sie seiner Gegenwart enthob, als sie sich plötzlich aufrichtete und ihm gellend laut ins Gesicht schrie: „Du wirst es schon noch so weit treiben, dass ich fortlauf! Du bist doch nicht normal! Guck nicht so! Ja! Ja! Du..., du bist ja ... krank! Du bist ja irre! Du bist ja total irre!“

Sie warf sich neben ihn aufs Bett, zerrte sich an den blonden Haaren, riss sie sich büschelweise aus und strampelte mit den Füßen, während sie zum Gotterbarmen weinte, dass es einen Stein erbarmt hätte.

Hilflos und ängstlich lag er daneben, immer noch den Oberkörper auf die Ellenbogen gestützt, beleidigt und nicht fähig, sie zu berühren oder ein Wort der Versöhnung zu sprechen.

Ich Idiot!, dachte er: Ich mach alles kaputt! Ich muss mich ändern!

Aber er wusste auch, dass er sich nicht ändern konnte.

Er kaute also an seinen Fingernägeln, während sie, noch auf Trost wartend, neben ihm heulte. Sie weinte also eine ganze endlose Weile lang, immer noch auf die streichelnde Hand wartend. Und er kaute also eine ganze endlose Weile lang an seinen Fingernägeln, bis er wusste, dass es höchste Zeit war, sie nun zu trösten und zu beruhigen, wenn er nicht wollte, dass irgendetwas in ihr zurückblieb! Aber er konnte es einfach nicht! Er konnte sie einfach nicht berühren, wie sie jetzt neben ihm lag und heulte! Es war ein Tabu zwischen sie getreten, schicksalhaft, aus seiner Seele heraus, obwohl er wissen musste, dass er jetzt der Starke war und sie die Schwache. Dabei war ihm gleichzeitig bewusst, er war tatsächlich auf dem besten Wege, alles endgültig kaputtzumachen und zu zerstören, aber er konnte dem keinen Einhalt mehr gebieten, zu stark war die böse innere Stimme!

Sie aber, sie lag neben ihm. Und ein Weinkrampf, der ihr beinahe die Luft nahm, schüttelte sie.

Er saß stumm dabei, und er dachte wieder: Ich Idiot! Ich mach alles kaputt!, während die innere böse, aber auch dunkle, traurige Stimme in seinem Kopf wieder zu sprechen begann, immer wieder ein- und dieselben Worte, die er nun schon kannte und fürchtete und die ihm dennoch Kraft gaben und Trost. Denn er war der ärmste und bemitleidenswerteste Mensch auf dieser Welt, weil sie ihn verlassen würde, wie die dunkle, traurige Stimme in seinem Kopf ein- ums andere Mal bestätigte! Jawohl, sie würde ihn verlassen! Mit irgendeinem wildfremden Mann würde sie fortgehn, für immer! Und nichts würde von ihnen beiden bleiben, als Verbitterung, vielleicht Hass, womöglich ein paar vergessene Briefe und Urlaubsbilder, der man sich ungern erinnerte! Und er, er würde ganz schrecklich allein sein! Verloren und vergessen! Und vielleicht würde er auch ein bisschen weinen, über der großen, großen Wunde in seiner enttäuschten Seele, die er doch ganz genau hatte kommen sehen.
 

anemone

Mitglied
er könnte auch durchaus 35 Jahre alt sein

Er ist zu reif für dieses Kind, das sein Leben noch vor sich hat, ihr Wunsch ist verständlich. Sie denkt nicht so weit. Sicher liebt sie ihn. Sie hätte sich besser einen jüngeren Freund gesucht.

Er sucht den Hafen, in dem er sich ausruht. Dazu hätte er besser eine ältere Freundin genommen.
 

Heiner Bauer

Mitglied
an annemone

Hallo Annemone,
ich weiß nicht, ob es in diesem Forum üblich ist, zu antworten. Also tue ich es. Danke für Dein Interesse an meiner Kurzgeschichte. Du hast das Substrat der Geschichte in einige Sätze gebracht. Das, was Du beschreibst, will ich mit der Geschichte sagen. Gern hätte ich auch ein wenig Kritik. Ich glaube, unabhängig vom Schreiben, Kritik braucht jeder Mensch, auch, wenn sie schmerzt, um Selbst- und Fremdbild in Einklang zu bringen.

Schöne Weihnachten und ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2002 wünscht Die Heiner
 

Deminien

Mitglied
trapped - andere Ansicht

Hi,

ich widerspreche anemones These, als auch der Aussage des Autors, daß Sie genau zusammengefasst hat, was er sagen wollte.

Meiner Ansicht nach ist der Mann nicht fähig, Vertrauen zu schenken. Er kann seine Gefühle und Ängste anderen gegenüber nicht formulieren und zieht sich in sich selbst zurück, lebt teilweise in einer eigenen Welt. Er ist daher nicht wirklich fähig eine festere Bindung zu anderen Menschen aufzubauen. Nicht nur zu Frauen sondern zu seinem gesamten Umfeld. Daraus folgt, daß er Menschen nur für die Dauer des ersten Kennenlernens trifft, diese sich im laufe der Zeit aber von ihm zurückziehen, da er von sich nichts preisgibt.
Aus diesen fortlaufenden Enttäuschungen ist ihm das Gefühl erwachsen, daß nie jemand für "immer" bei ihm bleiben wird, die Enttäuschung des verlassen werdens somit vorprogrammiert ist.
Er sitzt in seinem eigenen "Gefängnis". Er kann seine Ängste nicht äußern und dadurch werden sie bestätigt.
Seelisch leidet er mit, wirkt nach außen aber wie ein kühler Beobachter, der er nicht ist. Er weiß sogar, daß er sich öffnen muß, daß er hier in der Geschichte "Sie" trösten muß, ist aber unfähig dies zu tun.

Die Frau in dieser Geschichte verhält sich normal. Sie liebt ihn, versucht sich anzupassen, sucht den Grund seines "grübelns" nimmt sogar an, daß sie "etwas" verkehrt macht. Sie hofft vergeblich auf eine Äußerung seinerseits, ahnt nicht, daß er gefangener seiner selbst ist und sie den wahren Grund seiner unerklärlichen Verhaltensweisen nie erfahren wird.

Sie wird sich früher oder später von ihm trennen, da seine äußere Gefühlskälte unerträglich werden wird.
Er kann sich nicht von ihr trennen, auch wenn er es sich irgendwann wünschen wird (weil er glaubt seine Qualen damit zu beenden). Kommt es dann zur Trennung wird er vorerst erleichtert sein und ihr dann lange hinterhertrauern.

Ein Hinweis auf seine innere Welt sind seine Selbstmordgedanken. Er würde es aus Rache tun wollen, dann würden "Sie" sehen was sie ihm angetan haben. In dieser Phantasie ist kein Platz für einen einfachen Gedanken über die reale Welt. Denn wenn er sich tatsächlich das Leben nehmen würde wäre er tod und hätte folglich von seiner Rache nichts.


Kritik: Der wiederkehrende Hinweis auf die vorherige sexuelle Tätigkeit der beiden wird etwas zu häufig eingestreut. Auch wäre eine Formulierung in Form von:
"die Laken in denen sie sich zuvor erst geliebt hatten"
dem Leser etwas gefälliger anstatt profan zu schreiben
"...bemerkte er den großen, noch nassen Fleck..."



Deminien

PS: meine Gedanken über Persönlichkeit und Herkunftt des Mannes habe ich der Kürze halber weggelassen.
 

anemone

Mitglied
hallo Heiner,

Das schöne an Geschichten ist, dass man sie sich selber stricken kann.

Ich neige dazu, sie möglichst "gut" ausgehen zu lassen,
damit der Leser, der sich damit identifiziert seine Hoffnung und den Glauben nicht verliert und an einer scheinbar ausweglosen Situation versucht etwas oder sich zu ändern.

Wenn du in erster Linie an Kritik über den Schreibstil interessiert bist, dafür gibt es die Schreibwerkstatt.
Dort kann man die Texte mit Hilfe bearbeiten.

Dir auch ein schönes Fest
 



 
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