Die Maschine von Philipus

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Rainer Lieser

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Die Maschine von Philipus

Für viele Menschen war jener Montag um Punkt 9.00 Uhr, der beginn einer ganz normalen Arbeitswoche. Für Philipus war es der Start ins Leben. Kaum hatte er im Kreissaal das Licht der Welt erblickt, machten sich seine Augen auch schon an der größten Maschine im Raum fest – und daran änderte sich auch nichts, als man ihn in die Arme seiner Mutter gab. Maschinen interessierten ihn von Anfang an mehr als Menschen.

Vier Jahre später ging Philipus in den Keller seines Elternhauses und begann mit der Arbeit an SEINER ganz eigenen Maschine. Diese Arbeit gefiel ihm so gut, dass er von nun an seine Zeit lieber allein im Keller verbrachte, statt zusammen mit anderen Kindern zu spielen. Nur bei der Lotte machte er eine Ausnahme. Die Lotte wohnte in der Nachbarschaft und war genauso alt wie Philipus. Philipus mochte sie, denn die Lotte arbeitete an seiner Maschine ebenso gerne, wie er selbst. Allerdings machte die Lotte auch noch viele andere Dinge gerne, wie zum Beispiel: Spaghetti-Eis essen mit den Eltern, im Wald fangen spielen mit den Freunden oder Schildkröten mit Salatblättern füttern. Dinge an denen Philipus nicht das geringste Interesse hatte. Den Eltern von Philipus gefiel es gar nicht, dass ihr Sohn sich so sehr von all den anderen Kindern unterschied, da sie doch nur ein ganz normales Familienleben führen wollten. Als Philipus sich nach dem sonntäglichen Gottesdienst beim Herrn Pfarrer erkundigte, ob ihm dieser nicht vielleicht ein paar ganz bestimmte Teile des Kirchenaltars schenken würde, weil Philipus genau diese gerne in seine Maschine einarbeiten wollte – da hatten die Eltern endgültig genug von dem seltsamen Verhalten ihres Sohnes. Sie liessen ihn von allerlei Ärzten untersuchen, um herauszufinden, ob es da vielleicht eine Krankheit gebe, unter der Philipus leide.
Einmal besuchte einer der Ärzte Philipus im Keller. An dem Tag war auch gerade die Lotte da. Der Arzt stellte Philipus eine Frage. »Das ist also die Maschine, an der du arbeitest. Zeig mir doch bitte einmal, was man damit machen kann.«
»Sie ist noch nicht fertig, deshalb kann man damit noch gar nichts machen.«
»Na schön. Was aber wird man damit machen können, wenn sie einmal fertig ist?«
»Die Menschen werden sich darüber freuen.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage!« Womit der Arzt recht hatte, wie Philipus wußte. Doch es war die einzige Antwort die Philipus ihm geben konnte.
Da stellte sich die Lotte an die Seite von Philipus. »Philipus hat mir gesagt, dass die Maschine eines Tages den Müttern dabei behilflich sein soll, bessere Pfannkuchen zu backen. Doch das soll eigentlich noch ein Geheimnis bleiben, solange bis die Maschine fertig ist. Ich verrate ihnen das jetzt aber schon, weil ich nicht möchte, dass sie etwas falsches über Philipus denken. Denn wenn sie etwas falsches über Philipus denken, dann bringen sie ihn vielleicht weg und darüber wäre ich sehr traurig.«
Der Arzt sah Philipus ernst an. »Stimmt das, was deine Freundin sagt?«
Natürlich stimmte das nicht. Doch weil Philipus der Lotte vertraute und nicht wollte, dass der Arzt sie für eine Lügnerin hielt, war es bestimmt am besten, wenn er auch log. Also nickte Philipus mit dem Kopf.
»So so« sagte der Arzt »du darfst der Lotte jetzt aber nicht böse sein, weil sie das Geheimnis verraten hat. Versprichst du mir das?«
Philipus nickte erneut mit dem Kopf.
»Du magst den kleinen Philipus sehr gerne, junge Dame, nicht wahr?«
Jetzt nickte auch die Lotte mit dem Kopf.
»Das verrät mir mehr über ihn, als ich wohl je von ihm selbst erfahren hätte.« Der Arzt fuhr Philipus lächelnd mit der Hand über den Kopf. »Ich kann dich beruhigen, junge Dame, ich sehe keinen Grund dafür, deinen Freund weg zu bringen.« Mit diesen Worten stieg der Arzt die Kellertreppe hinauf.
Von dieser Stunde an, verzichteten die Eltern darauf, Philipus weiter untersuchen zu lassen.

Philipus wurde älter, ging in die Schule, bekam gute Noten und machte einen feinen Abschluss, ganz so wie die Eltern sich das gewünscht hatten. Doch er blieb ein Sonderling, der seine Freizeit am liebsten im Keller bei seiner Maschine verbrachte. Gerade fügte er ihr ein paar neue Teile hinzu, als die Lotte herunter gerannt kam und mit schwerem Atem vor ihm stehen blieb. Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. War ganz verstört. So kannte Philipus die Lotte gar nicht. Dann nahm sie ihn erst an der Hand und drückte Philipus anschließend an sich. Sie drückte ihn ganz fest. Philipus war überrascht von ihrer Stärke.
»Ich habe einen Studienplatz im Ausland erhalten. In zwei Monaten fahre ich weg.« Die Lotte weinte. »Wir werden uns dann nicht mehr so oft sehen können, wie bisher.« Nachdem sie das mit zitternder Stimme gesagt hatte, sah die Lotte Philipus erwartungsvoll an.
»Wirst du da sein, wenn die Maschine fertig ist?« wollte dieser daraufhin nur von ihr wissen.
Die Lotte wurde plötzlich ganz starr. Philipus spürte, wie ihre Arme von ihm abfielen. Weil Philipus sehen wollte, was mit der Lotte los war, trat er zwei Schritte zurück. Die Lotte betrachtete ihn mit riesigen Augen, fast so als ob er ein Fremder wäre. Das blieb eine ganze Weile so. Dann drehte sie sich um und ging ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf. Als die Lotte nicht mehr zu sehen war, wandte sich Philipus wieder seiner Maschine zu.
Am Abend im Bett, erinnerte sich Philipus daran, dass die Lotte ihm auf seine Frage nicht geantwortet hatte. Er würde morgen gleich zu den Nachbarn laufen und die Lotte nochmals fragen, ob sie da sein werde, wenn er die Maschine fertig gestellt habe. Doch am nächsten Morgen war die Lotte bereits weg. Die Nachbarn sagten, sie sei sehr wütend gewesen und wäre deshalb früher als geplant fort gegangen. Philipus fragte sich einen Augenblick lang, was die Lotte wohl derart verärgert haben möge. Da sah er vor dem Haus der Nachbarn ein kleines Metallstück mit vielen Löchern darin auf dem Boden liegen. Genau so eines fehlte noch an seiner Maschine. Er hob es auf und lief zum Haus der Eltern zurück.

Nach der Ausbildung fing Philipus an für gutes Geld in der nahegelegenen großen Fabrik zu arbeiten. Tagsüber sass er dort allein in einem kleinen Büro vor einem Computer. Abends bastelte er allein im Keller an seiner Maschine. Der Kellerraum füllte sich immer mehr mit allerlei kunstvoll ineinander verwobenen Metallplatten, Schrauben, Kabeln und Röhren. Mutter und Vater waren inzwischen alt, gebrechlich und krank und Philipus befürchtete die beiden würden die Fertigstellung seiner Maschine womöglich nicht mehr erleben. Das durfte nicht geschehen! Philipus kümmerte sich jetzt verstärkt um ihr Wohlergehen und sorgte dafür, dass es ihnen an nichts mangelte. Das dadurch die Arbeit an seiner Maschine zögerlicher vorwärts kam, nahm er in Kauf, obwohl es ihm natürlich nicht sonderlich recht war.
Als die Eltern im Abstand von nur wenigen Tagen verstarben, legte Philipus jeweils einen ganzen Tag Pause im Büro und bei seiner Arbeit im Keller ein. An diesen Tagen kam der Herr Pfarrer vorbei und überbrachte Philipus ein paar nette Worte und kleine Geschenke. Dem Gottesdienst blieb Philipus allerdings auch in Zukunft fern, denn ein bisschen ärgerte er sich immer noch darüber, dass der Herr Pfarrer ihm dereinst jene Stücke des Kirchenaltars verweigert hatte.

Philipus arbeitete weiter an seiner Maschine. Er fügte hier noch eine Schraube hinzu und dort ein Kabel. Ersetzte ein älteres Bauteil durch ein Neueres. Hämmerte, klopfte und drehte. Jahr um Jahr. Schließlich war es soweit. Er wusste, seine Arbeit war fast getan. Die Maschine war fast fertig. Er musste nur noch dieses eine Zahnrad festdrehen und danach an dem Hebel ziehen, dann würde ihr Herz zu schlagen beginnen. Philipus besah sich sein Werk. Erinnerte sich an seine Kindheit, die Lotte, die Eltern und an all die vielen schönen Stunden, die er mit der Arbeit an der Maschine verbracht hatte. Für einen kurzen Augenblick fühlte er unendlichen Frieden und Dankbarkeit in sich. War glücklich. Doch was würde morgen sein, fragte sich Philipus dann. Gewiss, sobald die Maschine anlief, würden sich alle Menschen darüber freuen, doch das waren Menschen, die er gar nicht kannte. Gewiss, er würde weiterhin tagsüber in dem kleinen Büro vor dem Computer sitzen, doch Freude bereitete ihm das keine. Es gab nichts, worauf er sich morgen würde freuen können. Darüber hatte Philipus bisher nie nachgedacht. Er hatte dafür nie Zeit gehabt, weil er doch an seiner Maschine hatte arbeiten müssen. Jetzt allerdings, da er sich besann, erschienen ihm diese Aussichten recht trostlos. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Philipus sich allein. Da fiel ihm ein, dass außer ihm noch niemand wusste, dass die Maschine bald fertig sein würde. Das konnte doch auch so bleiben. Er konnte doch einfach immer weiter an der Maschine arbeiten.
Plötzlich hörte er die alten Treppenstufen knarren. Es schien Philipus, als käme jemand zu ihm herunter. Er drehte sich um. Da kam eine Frau. Sie sah ein wenig so aus, wie früher die Lotte, nur sehr viel älter. »Hallo Philipus. Ist die Maschine fertig? Sonst höre ich dich um diese Zeit doch immer arbeiten. Wenn es auch nur kaum wahrnehmbare Geräusche waren, so verrieten sie mir doch stets, dass es dir gut ging. Das tat mir wohl. Das war mir wichtig zu wissen. Schon kurz nachdem ich damals gegangen war, wurde mir das gewiss. Darum kehrte ich bereits nach wenigen Tagen ins Haus meiner Eltern zurück.«
Philipus nahm die Lotte erst an der Hand und anschließend drückte er sie an sich. Er drückte sie ganz fest. Nach einer Weile verliess Philipus dann mit der Lotte das Haus. Das geschah an einem Freitag um Punkt 17.30 Uhr. Die letzten Handgriffe zur Fertigstellung der Maschine wurden nie getan.
 



 
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