Die Maus
Da war sie wieder - genau ihre Zeit. Pepe fragte sich manchmal, wie sie das wissen konnte. Mäuse hatten ja schließlich keine Uhren. Ab und zu wunderte er sich auch flüchtig, wie sie die vielen steilen Treppen zu seinem Dachzimmer hochgekommen war. Aber er dachte nie weiter darüber nach. Das war Sache der Maus, Teil ihres eigenen Lebens, das ihn nichts anging.
Sie saß neben dem Regal, wo sie immer saß. Wie üblich machte sie zuerst Männchen, schnupperte interessiert herum. Nicht ängstlich, sie fühlte sich völlig sicher hier. Und auch nicht gierig, sie kam nicht zum Fressen hierher. Sie kam einfach so, zu Pepe.
Es hatte sich ganz zufällig ergeben. Eines Abends war sie plötzlich neben dem Regal aufgetaucht.
Sie hatte sich hingesetzt und Pepe angesehen, und Pepe hatte die Maus angesehen. Sie hatten sich eine Weile einfach nur angeschaut, ganz still. Dann war die Maus wieder verschwunden.
Seitdem kam sie jeden Abend.
Die Besuche verliefen immer gleich. Nach dem Herumschnuppern putzte die Maus sich erstmal gründlich. Die winzige rosa Zunge wusch fest über das graubraune Fell, die Pfötchen fuhren geschickt über die Ohren, über das Schnäuzchen. Pepe sah zu, und er fühlte sich glücklich, irgendwie.
Wenn die Maus mit dem Putzen fertig war, kam sie zu Pepe. Sie setzte sich etwa einen Meter vor ihm hin, ihre langen dunklen Schnurrbarthaare zitterten ein bißchen. Dann legte sie den kleinen Kopf schief und sah Pepe mit ihren schwarzen Knopfaugen an. Er gab den unbewegten Blick ruhig und zufrieden zurück.
Sie saßen lange so da. Dann verschwand die Maus wieder, und Pepe machte sich eine Tasse Kaffee.
Diesmal kam er nicht zum Kaffeemachen. Die Klingel summte, der Hausherr wollte etwas von ihm.
Pepe lief rasch hinunter. Der Hausherr blätterte in einer Zeitschrift, sprach zu Pepe, ohne aufzusehen. Es waren Mäuse im Haus, die Frau hatte sich beschwert. Die Mäuse fraßen die Vorräte an. Pepe musste die Mäuse töten. Das war alles, Pepe konnte wieder hochgehen. Der Hausherr bemerkte Pepes Zusam-menzucken nicht, sah die Blässe auf seinem Gesicht nicht. Pepe stieg ganz langsam wieder hinauf.
Er saß lange da, ohne sich zu rühren. Dann ging er in die winzige Küche, holte ein Stück Brot aus dem Schrank. Er öff-nete den Kühlschrank, nahm ein Stück Käse heraus und einen Apfel. Er zerschnitt das Brot, den Käse und den Apfel in kleine Stückchen. Die Stückchen verteilte er in seinem ganzen Zimmer. Überall auf dem Boden lagen nun Stückchen von Käse, Brot und Apfel. Dann ging er schlafen.
Am nächsten Abend tauchte die Maus wieder auf.
"Du kannst das alles fressen", sagte Pepe laut, "dann musst du nicht mehr die Vorräte des Hausherrn anknabbern."
Die Maus saß nur da und sah ihn mit ihren blanken Knopfaugen an.
Pepe fühlte plötzlich ein Hindernis zwischen ihr und sich. Sie verstand ihn nicht. Konnte ihn nicht verstehen, na-türlich.
Er schob ihr grob einen Streifen Käse zu. Sie schnupperte daran, schien unentschlossen.
"Friss doch", sagte Pepe verzweifelt.
Schließlich nahm sie tatsächlich den Käsestreifen in die Pfötchen. Sie schnupperte noch einmal, leckte daran, begann schließlich rasch zu fressen. Pepe lachte erleichtert auf. Er schob ihr weitere Stückchen hin, und sie fraß, Käse, Apfel, Brot.
Am nächsten Nachmittag summte die Klingel. Der Hausherr hatte verschiedene Aufträge, schließlich nebenbei die Frage, hatte Pepe etwas wegen der Mäuse unternommen? Pepe schwieg. Der Hausherr sah ungeduldig auf: Ja? - Die Mäuse werden Sie nicht mehr belästigen, sagte Pepe ungewohnt feierlich. Der Hausherr zuckte die Achseln.
An den nächsten Abenden fütterte Pepe die Maus regelmäßig. Er gab ihr Stückchen von Käse, Brot und Apfel. Sie nahm jedes Stückchen ganz vorsichtig mit den Zähnen aus seiner Hand. Dann hielt sie es mit ihren Pfötchen fest und knabberte es weg.
Pepe sah erleichtert, wie sie sich sattfraß. Er fand es auch ganz nett, ihr so beim Knabbern zuzuschauen. Aber ir-gendwie war es nicht mehr wie früher...
Tage später summte die Klingel. Der Hausherr war ärgerlich diesmal, sah Pepe ins Gesicht: Die Frau hatte gesagt, dass immer noch Mäuse die Vorräte anfraßen. Was war mit der Mausefalle? - Die Maus frisst doch nicht viel, sagte Pepe leise, ein paar Körnchen höchstens. Der Hausherr wurde wütend, jedes Körnchen war zuviel, und was war los mit Pepe? Sofort würde Pepe eine Mausefalle aufstellen, sofort!
Pepe ging soweit, die Mausefalle aus dem Schrank herauszusu-chen. Er nahm sie in die Hand, starrte auf die Drähte des tödlichen Mechanismus. Er dachte an die Maus. Nein.
Pepe ging zum Hausherrn. Ich werde den Schaden ersetzen, den die Maus macht. Der Hausherr starrte ihn an: wozu, zum Teufel? Die Mäuse mussten weg, verdammt. - Ich könnte sie fangen und woanders hinbringen, schlug Pepe vor. Blödsinn, dann fraßen sie bloß dort alles an, Mäuse waren verdammte Schädlinge, immer und überall. Pepe würde verdammt nochmal die Mausefalle aufstellen - oder er war entlassen. Sofort.
Pepe dachte an sein Dachzimmer, an den kleinen Schrank, den er sich selber gebaut hatte. Aber es war keine schwere Ent-scheidung. Es war eigentlich überhaupt keine Entscheidung, denn es gab nur eine Möglichkeit. Die Maus töten - das war keine Möglichkeit, nicht wirklich.
Dann muss ich gehen, sagte Pepe traurig. Der Hausherr starrte ihn an, sei doch vernünftig Pepe - hör zu, ich gebe dir hundert Euro, wenn du bleibst und die Falle auf-stellst. - Nein. - Verdammt, was hast du bloß, Mäuse fressen doch nur den Men-schen alles weg. - Menschen den Mäusen auch. - Ich glaube, du bist verrückt geworden, Pepe.
Pepe packte seine Sachen. Die Maus tauchte neben dem Regal auf - ach ja, es war ihre Zeit.
"Komm mit", sagte Pepe zu der Maus, "sonst sehen wir uns nie wieder." Sie saß still da und sah ihn mit ihren schwarzen Knopfaugen an.
Plötzlich packte ihn heiße Wut - was hockte sie da und starrte ihn bloß an! Sie würde nicht mitkommen, natürlich nicht, das ging nicht. Sie blieb hier. Vielleicht wäre sie mitgekommen, wenn sie verstanden hätte. Aber sie konnte ja nicht verste-hen. Sie war bloß eine Maus. Und der Mann nach ihm würde eine Mausefalle aufstellen und sie töten. Pepe sank auf sein Bett und weinte.
Schließlich raffte er sich auf. Er gab der Maus noch ein großes Stück Käse. Dann nahm er seine beiden Koffer und ging.
Auf dem Weg traf er einen Bekannten. Es war keiner, dem Pepe etwas anvertraut hätte, normalerweise. Aber die Verzweiflung trieb ihn.
Ich glaube, ich habe eine ganz große Dummheit gemacht, sagte er verloren. Der andere witzelte gelangweilt, na, das ist immerhin das erste Mal in deinem Leben, dass du was ganz Großes gemacht hast, was.
Pepe starrte ihn an. Seine Augen begannen zu leuchten. Ja, sagte er, ja, du hast recht. Er dachte an die Maus und lächelte. Dann nahm er seine Koffer wieder auf und ging weiter.
Da war sie wieder - genau ihre Zeit. Pepe fragte sich manchmal, wie sie das wissen konnte. Mäuse hatten ja schließlich keine Uhren. Ab und zu wunderte er sich auch flüchtig, wie sie die vielen steilen Treppen zu seinem Dachzimmer hochgekommen war. Aber er dachte nie weiter darüber nach. Das war Sache der Maus, Teil ihres eigenen Lebens, das ihn nichts anging.
Sie saß neben dem Regal, wo sie immer saß. Wie üblich machte sie zuerst Männchen, schnupperte interessiert herum. Nicht ängstlich, sie fühlte sich völlig sicher hier. Und auch nicht gierig, sie kam nicht zum Fressen hierher. Sie kam einfach so, zu Pepe.
Es hatte sich ganz zufällig ergeben. Eines Abends war sie plötzlich neben dem Regal aufgetaucht.
Sie hatte sich hingesetzt und Pepe angesehen, und Pepe hatte die Maus angesehen. Sie hatten sich eine Weile einfach nur angeschaut, ganz still. Dann war die Maus wieder verschwunden.
Seitdem kam sie jeden Abend.
Die Besuche verliefen immer gleich. Nach dem Herumschnuppern putzte die Maus sich erstmal gründlich. Die winzige rosa Zunge wusch fest über das graubraune Fell, die Pfötchen fuhren geschickt über die Ohren, über das Schnäuzchen. Pepe sah zu, und er fühlte sich glücklich, irgendwie.
Wenn die Maus mit dem Putzen fertig war, kam sie zu Pepe. Sie setzte sich etwa einen Meter vor ihm hin, ihre langen dunklen Schnurrbarthaare zitterten ein bißchen. Dann legte sie den kleinen Kopf schief und sah Pepe mit ihren schwarzen Knopfaugen an. Er gab den unbewegten Blick ruhig und zufrieden zurück.
Sie saßen lange so da. Dann verschwand die Maus wieder, und Pepe machte sich eine Tasse Kaffee.
Diesmal kam er nicht zum Kaffeemachen. Die Klingel summte, der Hausherr wollte etwas von ihm.
Pepe lief rasch hinunter. Der Hausherr blätterte in einer Zeitschrift, sprach zu Pepe, ohne aufzusehen. Es waren Mäuse im Haus, die Frau hatte sich beschwert. Die Mäuse fraßen die Vorräte an. Pepe musste die Mäuse töten. Das war alles, Pepe konnte wieder hochgehen. Der Hausherr bemerkte Pepes Zusam-menzucken nicht, sah die Blässe auf seinem Gesicht nicht. Pepe stieg ganz langsam wieder hinauf.
Er saß lange da, ohne sich zu rühren. Dann ging er in die winzige Küche, holte ein Stück Brot aus dem Schrank. Er öff-nete den Kühlschrank, nahm ein Stück Käse heraus und einen Apfel. Er zerschnitt das Brot, den Käse und den Apfel in kleine Stückchen. Die Stückchen verteilte er in seinem ganzen Zimmer. Überall auf dem Boden lagen nun Stückchen von Käse, Brot und Apfel. Dann ging er schlafen.
Am nächsten Abend tauchte die Maus wieder auf.
"Du kannst das alles fressen", sagte Pepe laut, "dann musst du nicht mehr die Vorräte des Hausherrn anknabbern."
Die Maus saß nur da und sah ihn mit ihren blanken Knopfaugen an.
Pepe fühlte plötzlich ein Hindernis zwischen ihr und sich. Sie verstand ihn nicht. Konnte ihn nicht verstehen, na-türlich.
Er schob ihr grob einen Streifen Käse zu. Sie schnupperte daran, schien unentschlossen.
"Friss doch", sagte Pepe verzweifelt.
Schließlich nahm sie tatsächlich den Käsestreifen in die Pfötchen. Sie schnupperte noch einmal, leckte daran, begann schließlich rasch zu fressen. Pepe lachte erleichtert auf. Er schob ihr weitere Stückchen hin, und sie fraß, Käse, Apfel, Brot.
Am nächsten Nachmittag summte die Klingel. Der Hausherr hatte verschiedene Aufträge, schließlich nebenbei die Frage, hatte Pepe etwas wegen der Mäuse unternommen? Pepe schwieg. Der Hausherr sah ungeduldig auf: Ja? - Die Mäuse werden Sie nicht mehr belästigen, sagte Pepe ungewohnt feierlich. Der Hausherr zuckte die Achseln.
An den nächsten Abenden fütterte Pepe die Maus regelmäßig. Er gab ihr Stückchen von Käse, Brot und Apfel. Sie nahm jedes Stückchen ganz vorsichtig mit den Zähnen aus seiner Hand. Dann hielt sie es mit ihren Pfötchen fest und knabberte es weg.
Pepe sah erleichtert, wie sie sich sattfraß. Er fand es auch ganz nett, ihr so beim Knabbern zuzuschauen. Aber ir-gendwie war es nicht mehr wie früher...
Tage später summte die Klingel. Der Hausherr war ärgerlich diesmal, sah Pepe ins Gesicht: Die Frau hatte gesagt, dass immer noch Mäuse die Vorräte anfraßen. Was war mit der Mausefalle? - Die Maus frisst doch nicht viel, sagte Pepe leise, ein paar Körnchen höchstens. Der Hausherr wurde wütend, jedes Körnchen war zuviel, und was war los mit Pepe? Sofort würde Pepe eine Mausefalle aufstellen, sofort!
Pepe ging soweit, die Mausefalle aus dem Schrank herauszusu-chen. Er nahm sie in die Hand, starrte auf die Drähte des tödlichen Mechanismus. Er dachte an die Maus. Nein.
Pepe ging zum Hausherrn. Ich werde den Schaden ersetzen, den die Maus macht. Der Hausherr starrte ihn an: wozu, zum Teufel? Die Mäuse mussten weg, verdammt. - Ich könnte sie fangen und woanders hinbringen, schlug Pepe vor. Blödsinn, dann fraßen sie bloß dort alles an, Mäuse waren verdammte Schädlinge, immer und überall. Pepe würde verdammt nochmal die Mausefalle aufstellen - oder er war entlassen. Sofort.
Pepe dachte an sein Dachzimmer, an den kleinen Schrank, den er sich selber gebaut hatte. Aber es war keine schwere Ent-scheidung. Es war eigentlich überhaupt keine Entscheidung, denn es gab nur eine Möglichkeit. Die Maus töten - das war keine Möglichkeit, nicht wirklich.
Dann muss ich gehen, sagte Pepe traurig. Der Hausherr starrte ihn an, sei doch vernünftig Pepe - hör zu, ich gebe dir hundert Euro, wenn du bleibst und die Falle auf-stellst. - Nein. - Verdammt, was hast du bloß, Mäuse fressen doch nur den Men-schen alles weg. - Menschen den Mäusen auch. - Ich glaube, du bist verrückt geworden, Pepe.
Pepe packte seine Sachen. Die Maus tauchte neben dem Regal auf - ach ja, es war ihre Zeit.
"Komm mit", sagte Pepe zu der Maus, "sonst sehen wir uns nie wieder." Sie saß still da und sah ihn mit ihren schwarzen Knopfaugen an.
Plötzlich packte ihn heiße Wut - was hockte sie da und starrte ihn bloß an! Sie würde nicht mitkommen, natürlich nicht, das ging nicht. Sie blieb hier. Vielleicht wäre sie mitgekommen, wenn sie verstanden hätte. Aber sie konnte ja nicht verste-hen. Sie war bloß eine Maus. Und der Mann nach ihm würde eine Mausefalle aufstellen und sie töten. Pepe sank auf sein Bett und weinte.
Schließlich raffte er sich auf. Er gab der Maus noch ein großes Stück Käse. Dann nahm er seine beiden Koffer und ging.
Auf dem Weg traf er einen Bekannten. Es war keiner, dem Pepe etwas anvertraut hätte, normalerweise. Aber die Verzweiflung trieb ihn.
Ich glaube, ich habe eine ganz große Dummheit gemacht, sagte er verloren. Der andere witzelte gelangweilt, na, das ist immerhin das erste Mal in deinem Leben, dass du was ganz Großes gemacht hast, was.
Pepe starrte ihn an. Seine Augen begannen zu leuchten. Ja, sagte er, ja, du hast recht. Er dachte an die Maus und lächelte. Dann nahm er seine Koffer wieder auf und ging weiter.