Die Melodie

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Die Melodie
Den ganzen Morgen lag nun schon dichter Nebel über der Landschaft. Die Sonne bemühte sich seit einiger Zeit durch den weißen Schleier zu dringen und verlieh dem Ganzen dadurch etwas Mystisches.
Auf alle Fälle eine romantische Atmosphäre, fand Judith, schaute versonnen aus dem Fenster und beschloss, doch spazieren zu gehen und sich die Umgebung, in der sie nun ihren Urlaub verbringen würde, näher anzusehen.
Sie zog ihren warmen Anorak an, schlüpfte in die Stiefel und nahm vorsichtshalber noch Handschuhe mit.

Sie lief schon eine ganze Weile, als sie einen Platz erreichte, an dem eine seltsame Stille herrschte.
Überall standen abgelaufene Spieluhren. Sie blieb stehen und blickte sich neugierig um. Die Stimmung erinnerte sie an einen Friedhof. Nachdenklich schlenderte sie zwischen den Spieluhren umher, da traf sie einen alten Mann. Freundlich erwiderte er ihren Gruß.

»Kennen Sie sich hier aus?«, wollte Judith wissen und noch bevor er Gelegenheit bekam, etwas zu erwidern, fragte sie auch schon weiter, »Wie heißt dieser Ort? Ist es ein Friedhof? Warum stehen hier lauter Spieluhren? Warum stehen sie alle still?«
»Das sind sehr viele Fragen auf einmal«, entgegnete der alte Mann und lächelte sie warmherzig an, »doch ich werde versuchen sie zu beantworten.«

Und er begann zu erzählen:
»Dieser Ort ist schon sehr lange vorhanden; solange Menschen leben. Einen Namen besitzt er nicht, da es fast niemanden gibt, der ihn kennt oder sich daran erinnert. Die Menschen müssen jedem Tier, jeder Pflanze, jedem Ding einen Namen geben, sonst existiert es nicht oder gerät in Vergessenheit. So ist es auch mit diesem Ort, nennen wir ihn ruhig einen Friedhof. Doch befinden sich hier keine Gräber in denen Körper liegen.
Es gibt nur die Spieluhren.
Jeder Mensch hat eine andere, mit seiner eigenen Melodie. Erst wenn der Mensch stirbt, kommt seine Uhr hierher. Wenn du ganz still bist und in dich hineinhörst, vernimmst du eine Melodie. Das ist deine Melodie! Sie ist einzigartig auf der Welt. Diese Spieluhren hier stehen still, weil die Melodien ihrer Besitzer abgelaufen sind.“
„Kann man sie nicht aufziehen?“, fragte Judith.
„Doch natürlich“, erklärte er, „aber lebendig werden die Menschen davon nicht wieder!“
„Versuch es!“, setzte der alte Mann nach einer Weile hinzu.
Judith wanderte zwischen den Uhren umher, zog einige eine Stück auf und hörte sich die Melodien an.
„Seltsam!“, sagte sie plötzlich, „Diese Melodie habe ich gerade schon einmal gehört. Ich bin mir ganz sicher, dabei sagten Sie doch, jede Melodie gäbe es nur ein einziges Mal?“
„Das stimmt auch!“, gab der alte Mann zurück, „Würdest du die Spieluhren ganz aufziehen, so stelltest du fest, dass am Anfang, jede eine andere Melodie hat. Doch leider verlieren viele Menschen im Lauf ihres Lebens ihre Individualität, ihre Einzigartigkeit. Sie passen sich an, erst äußerlich und schließlich auch innerlich.
Und heutzutage rückt der Zeitpunkt der Anpassung immer weiter in die Jugend hinein. Es gibt sogar schon Kinder ohne eigene Melodie. Viele Menschen glauben, sich von anderen zu unterscheiden, etwas Einmaliges darzustellen, doch in Wirklichkeit grenzen sie sich nur von ihren jüngeren oder älteren Mitmenschen ab. An Gleichaltrige haben sie sich bereits perfekt angepasst. Darum klingen die beiden Melodien, die du gehört hast, gleich.
Du hast dich nicht geirrt. Du fändest noch viele Spieluhren, die alle größtenteils dieselben Melodien spielen. Das Schlimme daran ist, dass die Menschen es nicht merken, wenn ihre Melodien verloren gehen, weil sie nicht gelernt haben, darauf zu hören.
Und so geht ihre Persönlichkeit, ihre Phantasie und ihre Kreativität verloren. Das ist sehr schade«, sagte der alte Mann traurig.
Nachdenklich wanderte Judith die Reihen ab und blickte sich suchend um.
Der weise Mann schüttelte den Kopf. »Seine Melodie wirst du jetzt nicht entdecken.«
Judith zog lediglich die Augenbrauen hoch, an so einem Ort, konnte es sie wohl kaum wundern, dass er erriet, was sie zu finden hoffte, oder genauer gesagt, was sie sich am meisten wünschte.
Er schüttelte seufzend seinen Kopf und kratzte sich am Bart. »Es ist zwar nicht üblich«, brummte er, doch er klang dabei nicht unfreundlich, »solltest du zufällig über die Spieluhr deines verstorbenen Mannes stolpern, könnte ich es nicht verhindern, genauso wenig, wenn du sie dann noch aufziehst.«

Judith sah sich gewissenhaft um, begutachtete hier und da, bis sie schließlich vor einem kleinen, schlichten, aber hübsch bemalten Kästchen stehen blieb. Den Deckel zierte ein, aus vielen winzigen Mosaiksteinchen zusammengesetzter, Delphin. »Das hier!«, verkündete sie fröhlich und wandte sich dem Friedhofwärter zu, der sich ihr langsam näherte, »Ich bin mir ganz sicher.«
Da er nicht widersprach, nahm sie es vorsichtig in die Hand, und drehte das Rädchen bis zum Anschlag. Ehrfürchtig, und mit einem seligen Lächeln, lauschte sie der Melodie und mit jedem Ton wurde das Band, das seit seinem Tod ihren Brustkasten einschnüre, ein kleines bisschen weiter, bis sie wieder befreit atmen konnte. Sie ließ den letzten Ton vollständig ausklingen, bevor sie die Spieluhr sorgsam auf seinen Platz zurückstellte. »Danke«, flüsterte sie überwältigt und blinzelte schnell eine Träne weg. Sie räusperte sich einige Male, um ihrer Stimme Festigkeit geben zu können, bevor sie sich nochmals an den alten Mann wandte.

»Sie sagten, diesen Ort hier kennt niemand, er sei längst in Vergessenheit geraten. Aber hier leben Menschen, die doch bestimmt hier vorbeikommen, wenn sie, so wie ich, spazieren gehen?“
„Eine gute Frage“, entgegnete der alte Mann, froh über die Ablenkung, denn diese junge Frau, mit den inzwischen wieder leuchtenden Augen, rührte ihn zutiefst. „Die meisten Menschen sehen nur, was sie erwarten zu sehen. Nur wer auf sein inneres Auge, seine innere Stimme achtet, der bemerkt die vielen Spieluhren. Du bist seit vielen, vielen Jahren der erste Mensch, der hier her gefunden hat. Du wolltest deinen Urlaub hier verbringen um nachzudenken, mit dir ins Reine zu kommen, wieder Freude am Leben zu haben. Höre einfach auf deine Melodie, sie wird dich leiten. Lass dir Zeit und vergiss nie, dir deine Einzigartigkeit und Phantasie zu bewahren.
Und nun musst du gehen.«

Judith sah auf ihre Armbanduhr und stellt erstaunt fest, dass es wirklich schon sehr spät war. Sie bedankte sich für die Zeit, die er ihr geopfert hatte.
»Zeit«, wehrte der alte Mann lächelnd ab, »Zeit habe ich genug, eine Ewigkeit! Meine Spieluhr läuft erst ab, wenn es keine Menschen mehr gibt.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging den Weg zurück, auf dem Judith ihm zuerst begegnete. Bald verschluckte ihn der Nebel, der immer noch dicht über dem Boden waberte und Judith blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls umzukehren.
Doch sie wusste, sie würde sich immer an diesen seltsamen Ort, an den alten Mann und vor allem an seine Worte erinnern. Und irgendwann würde auch ihre Spieluhr den Weg hier her finden und - wer weiß? Vielleicht hörte dann eines Tages jemand ihre Melodie und sie hoffte, dass sie nicht die Tonfolge eines Anderen übernehmen würde, sondern sich treu blieb und somit einzigartig.
Die junge Frau machte während ihres Urlaubes noch etliche Spaziergänge, doch keiner führte sie ein zweites Mal an jenen magischen Ort mit den Spieluhren.
 



 
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