Die Muster

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Lorenz

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Er sitzt im fahrenden Zug und denkt daran, wie er als Kind dem Rhythmus zugeschaut hatte. Er lag dann auf dem Rücken quer über die Sitze. Den Kopf direkt unterhalb der Fensterscheibe und blickte in den Himmel hinauf. Sah die Wolken, sah die Sonne, den Wind am Zug. Und da war es, das ewige Band. Auf und ab in der Geschwindigkeit des Zuges. Jeder dritte Mast, glaubt er, hatte Betonscheiben, um die Oberleitung zu spannen. Es war wie ein Tanz den der Spanndraht mit dem Fahrdraht aufführte. Auseinander und zusammen, dazu schwach manchmal der Takt der Radlager und der anderen Fahrgeräusche des Zuges. Das Vibrieren der Abteiltür, die eine Resonanz gefunden hatte. Der Tanz war nicht immer der gleiche. Nicht so monoton, wie man meinen könnte. Es war ein sehr abwechslungsreiches Schauspiel. Man mußte jedoch sehr aufmerksam sein, um die Unterschiede zu bemerken. Schon das leichte Drehen des Kopfes veränderte alles. Manchmal schien ein Draht auszubrechen und über den Wagen geschleudert zu werden. War es das was er sah, was sein Gefühl verstärkte, daß der Zug leicht in den Gleisen zu schwanken schien, wie ein Boot im Hafenbecken? Es war der Tanz den die Räder mit den Schienen spielten und den Zug schaukelten. Wenn er losließ, war er dieser Tanz...sonst nichts. Viel Himmel über der Erde.

Wie oft das andere wohl beim Zugfahren gesehen haben, fragt er sich. Er hätte es jetzt wieder tun können, wie damals. Aber er hatte es ja gerade gesehen. Die Simulation, der erinnerte Film in ihm, war noch vollständig vorhanden.

So entscheidet er sich, im Sitzen aus dem Fenster zu sehen. Die Strecke hoch nach Dänemark findet er jedes mal so schön. Es wäre Schade sie zu verpassen, denkt er. Sattgrüne Weiden, ab und zu Kühe, die dunkelgrünen Hecken verschieben sich je nach Winkel und Lage zu den Gleisen. Und in unterschiedlicher Geschwindigkeit scheinen sie am Fenster vorbeizuziehen. Es sieht aus wie in einem alten Spielzeugtheater, in dem man die Kulissenstreifen aus Papier von Hand verschieben kann. Dabei ist er es, der sich mit dem Zug bewegt. Es fasziniert ihn und wie gebannt sieht er hinaus. Welcher Zauber doch in der Welt liegen kann, wenn man bereit ist hinzusehen, denkt er.War er vielleicht immer noch ein Kind oder hatte er nur nicht verlernt zu staunen? Viele sprechen vom inneren Kind und die Vorstellung beruhigt ihn, daß seine Kinder noch etwas zu sagen haben.

Die Sonne steht schon tief und es wird langsam Abend. Draußen vor der Scheibe beginnt es zu regnen. Wieder springt er in seine Kindheit und sieht vor einem nächtlichen Zugfenster, sich die Tropfen auf der Scheibe zu Bächen sammeln. Wie Adern oder Wurzeln werden sie zu stärkeren Strömen. Vom Wind getrieben fließen sie an der Scheibe entlang, leicht aufwärts. Vorne weg immer noch der einzelne Tropfen erkennbar. Man könnte meinen, die einzelnen Tropfen machen ein Wettrennen miteinander. Wer von ihnen zuerst am anderen Ende angekommen ist. Mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit und Beschleunigung finden sie ihren gewundenen Weg. Es erinnert ihn entfernt an, aus der Luft gefilmte Kamelreiter, die über eine Ebene jagen. Nur das diese etwas geradliniger auf ihr Ziel zusteuern. Wo gehen sie hin, wenn hinter dem Fensterrahmen verschwinden und er sie nicht mehr sehen kann? Wo ist sein Ziel, wo ist sein Weg und wie sieht er aus? Heute fährt er von seinem besten Freund zu seinem besten Freund. Das ist möglich, weil er mindestens zwei davon hat. Vielleicht sogar noch mehr.

Da sieht er etwas Neues. Unglaublich, steil über dem Zugfenster klitzert es, in einer kleinen Wolke, deren Unterseite dunkelschwarz ist, in allen Regenbogenfarben. Es ist aber kein Bogen. Konzentriert auf einen Punkt innerhalb der Wolke funkelt es wie ein Juwel. Man könnte meinen es sei ein schwebendes Auge - Das Auge Gottes. Es ist ihm als hätte er etwas unermeßlich kostbares gesehen. Licht erfüllt sein Herz, Wärme breitet sich in seiner Brust aus.

Das unmittelbare Außen gekoppelt mit dem Innen, der Erinnnerung und der Hoffnung und dem Glauben bietet einen derartigen Reichtum an Bildern, daß man schon aufpassen muß nicht überflutet zu werden. Wenn man diesen Zustand einnehmen kann und darin dem Anderen begegnet, ist es dann das, was Sie mit authentisch leben meinen. Es so Viele, die sich scheinbar überwiegend mit außen produzierten Bildern von wo anders her begnügen, denkt er. Haben sie vielleicht Angst vor dem was Innen und was vor ihnen ist, fragt er sich.
 



 
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