Die Narbe des Propheten

moehrle

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Die Narbe des Propheten

I.
Alle hatten sie über ihn gelacht, nun lachte niemand mehr. Die Menschen knieten vor ihm auf dem regennassen Boden. Er war nun ihr Messias. Der Prophet schwieg, lange genug hatte er ihnen gepredigt. Nun würde Gott für ihn sprechen, während er selbst still auf jener Mauer stand, auf der er immer gestanden hatte.
Der Prophet hielt die Arme ausgebreitet und die Augen geschlossen, wissend, dass die Menschenmasse vor ihm von nun an jedes Wort, das aus seinem Mund tropfte, begierig aufsaugen würde, wie Verdurstende. Er genoss jede Sekunde. Oft, zu oft hatten sie ihn beleidigt, sogar mit Steinen beworfen, weil sie nicht an ihn geglaubt hatten. Weil er, ihrer Meinung nach, das Falsche gesprochen hatte.
Vor der Mauer auf der er stand, hatten seine Jünger ihm Gaben dargereicht. Dinge von denen er früher nur hatte träumen können. Sie interessierten ihn einen Dreck. Es waren nur nutzlose Gegenstände, nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das die Menschen ihm entgegenbrachten. Diese Menschen in ihren Geschäftsanzügen, ihrer Markenkleidung, mit ihren Handys und I-Phones. Ihren Armani-Uhren und D&G-Umhängetäschchen. Alle waren sie zu ihm gegekommen, zu dem Mann, der alles vorhergesagt hatte.
Der Prophet wusste, dass es in der Natur des Menschen lag Antworten zu suchen. Lösungen. Er gab ihnen nichts dergleichen. Vielleicht hätte er ihnen eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage geben können, Antworten gab es schließlich immer, aber solange er schwieg, konnte er sich in der Aufmerksamkeit dieser Leute suhlen. Wie ein Schwein in seinem Kot. Doch die Zeit rann. Sie tropfte in dicken, aschehaltigen Regentropfen vom Nachthimmel.

II.
Er hatte es in seinen Träumen vorhergesehen. Jede Nacht hatte er Feuer vom Himmel fallen sehen. Jede Nacht, seit undenkbarer Zeit. Dieses Feuer hatte seine kalten, dunklen Nächte auf der Straße gewärmt und erhellt. Dieses Feuer war sein Alkohol, sein Crack, sein Heroin gewesen. Sehet ! Sehet ! Alle hatten sie über ihn gelacht.
In seinem Kopf hallte noch immer das Zischen des Steines nach, den man nach ihm geworfen hatte. Mitten auf seiner Stirn, zwischen den Augen, konnte man jetzt noch die Narbe sehen. Sein Kainsmal.
Der Prophet wusste: Dieser Stein Gottes, der oben im Himmel lauerte, war seine Rache. Gott hatte ihn persönlich gerächt. Ursache und Wirkung. Auch dieser Stein würde eine Narbe hinterlassen. Nicht viele würden dann noch da sein, um sie zu bestaunen. Nur die Rechtschaffenden, die wirklich und wahrhaftig glaubten.
Der Prophet öffnete seine Augen und blickte hinab zu den verängstigten, durchnässten Gestalten, die vor ihm kauerten und zu ihm aufblickten. Er war ihr Messias, das Auge Gottes. Er war Moses, er war Cassandra, er war Elias. Das Sehende und das Wissende. Niemand würde es mehr wagen einen Stein gegen ihn zu schleudern, oder ihn auch nur schief anzusehen. Die Leute wussten, er war ein Kind Gottes. Seine Rache mussten sie fürchten. Auge um Auge. Stein um Stein. Sehet ! Sehet !
Alle sahen sie gebannt zu ihm auf. Wie Drohnen schienen sie auf Anweisung zu warten. Der Prophet befeuchtete seine Lippen, als wolle er anfangen zu sprechen und die Augen seiner Schäfchen weiteten sich vor Erregung. Er blieb stumm und befühlte mit seiner schmutzigen Hand die Narbe auf seiner Stirn. Sie schien förmlich zu glühen. Ihm war als würden Lichtstrahlen aus ihr herausleuchten. Als wäre sie das Tor zu dem Fegefeuer, das in ihm loderte. Sehet ! Sehet !
Für Reue war es nun zu spät, und trotzdem wollte der Prophet, dass es alle sehen. Die Rechtschaffenden und die Verdammten. Alle sollten sie Gottes Rache sehen.

III.
Der Prophet hob den Kopf und blickte nach oben. Seine Jünger taten es ihm gleich. Der rötliche Fleck am Himmel war größer geworden und um ihn herum war der Nachthimmel violett erhellt, wie bei einem herbstlichen Sonnenaufgang. Der Stein der Rache kam näher.
Der Prophet breitete seine Arme wieder aus, senkte seinen Blick und lächelte. Lächelte so zuversichtlich, dass sich die Gesichter der Wartenden sofort erhellten. Hoffnung keimte in ihnen auf. Wie ein Weizensamen auf trockener Erde. Irrationale, dem Menschen angeborene Hoffnung. Aberglaube. Das verzweifelte Festhalten am letzten Strohhalm.
Dies alles in den Gesichtern dieser Leute zu sehen, genoss der Prophet mit jeder verstreichenden Sekunde mehr. Er stellte sich vor, ihnen diesen letzten Strohhalm wegzunehmen und ihnen damit diese Hoffnung aus den Gesichtern zu saugen.
Das Lächeln in seinem zerfurchten, vernarbten Gesicht schien den Menschen zu sagen: Alles wird gut. Es ist nur eine Warnung, eine Illusion vielleicht. Morgen früh wird für uns alle die Sonne wieder aufgehen, und dann gibt es Croissants und Cappuccino.
Je länger der Prophet sein immer ehrlicher werdendes Grinsen hielt, desto zuversichtlicher wurden die Gesichtsausdrücke seines Publikums. Diese Zuversicht schmeckte wie Nektar im Geiste des Propheten. Sollten sie doch genauso ahnungslos überrascht werden vom Einschlag wie er damals. Auge um Auge. Stein um Stein.
Seine Narbe glühte wie der Himmel über ihm.
"Bereuet nichts !!" rief der Prophet. Der Himmel über ihm strahlte immer heller und der Ascheregen führte immer häufiger glühende Gesteinsbrocken mit sich.
Ein lauwarmer Wind kam auf. Die Menschen sahen nach oben, nur wenige von ihnen lächelten nicht. Die Teile ihrer Gehirne, die noch nicht vollständig abgeschaltet waren, schienen voller Zuversicht. Auch der Prophet lächelte noch.
"Sehet ! Sehet ! Dies ist der Stein Gottes. Meine Rache an euch !"

ENDE
 



 
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