Die Parade

nemo

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Die Parade

Der Herbst hatte bereits seine Spuren in der kleinen Ortschaft Boxdorf hinterlassen. Die saftig grünen Farbtöne waren trotz Altweibersommer gewichen und hatten dem braunen Gewand der vorwinterlichen Jahreszeit Platz gemacht. Auf der Oberfläche des Boxdorfer Weihers, wo sich sonst Wasserläufer, Libellen und Enten tummelten, trieben gemächlich Teppiche kupferfarbener Buchenblätter, und eine sanfte Brise lies das Laubwerk leise rascheln.
Unweit der Tümpels lag ein Bauernhof, der aus mehreren weißen Fachwerkgebäuden bestand, eine helle Insel inmitten gepflügter Felder. Auf dem weiträumigen Innenhof des Gutes hockte ein Junge vor einem alten, schwarzen Fahrrad und drehte an einer der Pedalen. Das Einrasten der Fahrradkette in den Zahnrädern, die Übertragung der Kraft auf das Hinterrad, das sich nun zu drehen begann, all das entzückte den elfjährigen Hugo und zauberten ein stolzes Lächeln auf sein ölverschmiertes Gesicht. Er hatte es ganz alleine geschafft das Zweirad zu reparieren, ohne die Hilfe seines Vaters, oder die seines Onkels Adalbert, der ihm das alte Opel Fahrrad überlassen hatte. Jetzt war der große Augenblick gekommen auf den er die ganze Zeit hingearbeitet hatte. Er drehte das Fahrrad, das auf dem Lenkrad und dem Sattel stand, um und machte sich bedächtig – und auch ein wenig ehrfurchtsvoll – daran das Gefährt zu besteigen. Er war bereits schon einmal Fahrrad gefahren und er hatte dafür ein gewisses Talent bewiesen. Es war ihm sogar ganz leicht gefallen das Gleichgewicht zu halten und auch die Koordination der Tret- und der Lenkbewegung war für ihn kein großes Problem gewesen. Allerdings hatte es sich damals auch um ein Damenrad gehandelt, das ein wenig kleiner war, als dieses Herrenmodell auf das er nun aufstieg. Sein Vater kam gerade aus der Scheune und sah, wie Hugo einige Meter weit, auf den Pedalen des Fahrrads stehend, fuhr und dabei hin und her schwankte und dabei den Anschein machte jeden Augenblick zu stürzen. Der Bauer lächelte erst belustigt, dann aber erschien ein erstaunter Ausdruck auf sein wettergegerbtes Gesicht, als er merkte, dass sein Sohn das Fahrrad langsam zu beherrschen begann, wie ein Reiter, der einen widerspenstigen Gaul einreitet und dessen Willen bricht.
„Schau her Vater!“, rief Hugo stolz, der seinen Vater jetzt bemerkt hatte.
Konrad Wenkmann klatschte anerkennend in die Hände und auch Hugos Mutter, Anna, schaute nun aus dem Küchenfenster und feuerte den Jungen lachend an.
Obwohl Hugos Beine noch zu kurz waren und nicht ganz bis an die Pedalen reichten wenn er auf dem ledernen Sattel saß, kam er erstaunlich gut mit dem Gefährt zurecht. Im Stehen trat er wie ein Irrwisch auf die Pedalen und zischte vorbei am Hühnerstall und den bellenden Hunden, die beim Anblick dieses ungewohnten Spektakels wahnsinnig zu werden schienen.
Erst als Hugo unzählige Male den Innenhof durch- und umfahren hatte, stieg er von seinem Fahrrad ab. Alles drehte sich ein wenig, wobei der Junge nicht sage konnte, ob es an der rasenden Fahrt oder dem Glücksgefühl lag, das ihn ein wenig berauschte.

Seine Mutter zupfte noch einmal den Kragen des Hemdes zurecht, das Hugo widerwillig angezogen hatte. Er mochte sein Sonntagshemd nicht besonders, denn es kratzte am Hals und hinterließ immer schmerzhafte rote Stellen, wenn er es zu lange trug.
Doch der Gedanke an die bevorstehende Fahrt mit dem Fahrrad in das nahegelegene Nürnberg und vor allem an die Parade, die heute dort stattfinden würde, ließen ihn alle Bedenken vergessen. Mutter Wenkmann ging einige Schritte zurück, um sich ihren herausgeputzten Sohn einmal in der Gesamtheit anzuschauen. Seine dunkelbraune Haarpracht war nun mit reichlich Pomade zu einem adretten Seitenscheitel frisiert worden, und seine schwarzen Schuhe glänzten, als hätte man sie gerade erst gekauft.
Anna Wenkmann konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen und sie streichelte Hugo grinsend über die Wange. Der Junge verzog darauf hin das Gesicht, was seine Mutter zum Lachen brachte. „Pass auf dich auf mein Sohn. Fahr vorsichtig und das du mir vor Nachteinbruch wieder zu Hause bist!“, sagte sie mahnend. Hugo zog die Augenbrauen hoch und sagte: „Ja, Mama“, in einem Ton, der seiner Mutter suggerieren sollte, es sei doch jetzt ein großer Junge.
Wieder lächelte sie gütig und auch Hugo schenkte ihr ein Lächeln, das – so hoffte er zumindest – reife Zuversicht ausstrahlte.
Mutter Wenkemann begleitete ihren Sohn hinaus, wo die frühe Nachmittagssonne wie eine riesiger gelber Wandteller auf der Himmelswand hing. Sogar der leichte Wind, der am Mittag noch über den Hof geweht war, hatte sich verzogen.
Als Hugo auf seinem neuen Fahrrad vom Hof fuhr, schaute ihm Anna Wenkmann noch eine Weile hinterher und dachte: „Sie werden so schnell groß.“

Für die fünf Kilometer nach Nürnberg hatte Hugo gerade mal eine Viertelstunde gebraucht. Er war geradelt, als hinge ihm der Teufel auf den Fersen und hatte dabei den Fahrtwind genossen, der um seine Ohren pfiff. Während er durch das Knoblauchsland sauste - so der Name dieses Gemüseanbaugebiets im Städtedreieck Nürnberg-Fürth-Erlangen -, hatte er ein kribbelndes Gefühl der Freiheit gespürt, ein Gefühl, das er bisher so noch nie gekannt hatte.
Ein wenig später dann, traf er sich an der Lorenzkirche mit Alois, einem Schulfreund, der in Nürnberg wohnte. Von dort aus machten sie sich zu Fuß auf zum Hauptmarkt, von wo sie hofften die vorbeiziehende Parade zu Gesicht zu bekommen. Sie waren beide aufgeregt, was daran lag, dass die Parade in den letzten Tagen immer mehr zum Gesprächsthema geworden war, natürlich auch in der Schule, wo ihre Lehrerin - Frau Grundel, eine engagierte Anhängerin der Partei - darauf gepocht hatte, dass ihre Schüler zur Parade kamen. Aber Hugo und Alois hatten eigentlich nicht überredet werden müssen, denn wann bot sich schon die Möglichkeit den Reichskanzler in Fleisch und Blut zu sehen?

Der Nürnberger Hauptmarkt war unter einem bunten Menschenmeer versunken, in dem die Polizei, wie einst Mose im Schilfmeer, eine Schneise geschaffen hatte. Die mehrstöckigen Steingebäude, die den Hauptmarkt umgaben, warfen lange Schatten auf den Platz, die aussahen wie unter der Meeresoberfläche treibende Wale. Mitten in den wogenden Massen der wartendenden Menschen schlugen sich Hugo und Alois vorbei an Beine, Hüften und Hinterteile. Auch sie wurden von der Euphorie und der elektrisierende Atmosphäre des Moments angesteckt, und konnten es kaum noch erwarten, bis an den Absperrungen zu gelangen, um die nahende Parade, den nahenden Reichskanzler zu sehen.
Hugo nahm den blonden Alois an der Hand und zog ihn hinter sich her. Sein Herz schlug so fest, dass er das Pochen an seinem Hals fühlen konnte. Kaum waren sie endlich an der Absperrung angekommen, wo ein dicker Polizist in seiner hellgrünen Ausgehuniform stand, ging ein Raunen durch die Menge. Hugo stellte sich auf die Fußspitzen, um an den massigen Polizisten vorbeischauen zu können. Das erste was er sah, waren die Soldaten der SA, der Sturmabteilung der NSDAP, die in ihren braunen Uniformen, im Gleichschritt marschierend, mit geradem Rücken und nach vorne gerichtetem Blick auf sie zukamen. Obwohl die Menschen jetzt schrieen und klatschten, konnte man immer noch das Hämmern ihrer Stiefel auf den Pflastersteinen hören. Das Metall ihrer Gürtelschnallen blitzte in der Herbstsonne auf und Hugo fühlte ein unbeschreibliches Gefühl von Stolz, das er aber nicht erklären konnte; vielleicht lag es an den jubelnden Menschen um ihn herum, vielleicht war es die Vermutung, dass er gerade an etwas Besonderes teilnahm. Die Stimme der Masse wurde lauter und Hugo spürte wie Alois sich neben ihn drängte. Während die Soldaten an den beiden Jungs vorbeizogen, konnten sie endlich den ersten Blick auf die sich nähernde schwarze Karosse werfen. Ein Mercedes, mit zwei hoch angebrachten Scheinwerfern, die wie Augen auf die vor dem Wagen marschierenden Soldaten starrte. Hugo legte die Hand über die Augen, um das blendende Sonnenlicht davon abzuhalten, sich in seine Retina zu brennen, und endlich sah er den Mann, den Reichskanzler, den Führer. Er stand aufrecht in dem Wagen, den rechten Arm von sich gestreckt, die Linke in seinem Gürtel eingehakt und blickte mit ernster Miene auf sein Volk. Hugo bekam eine Gänsehaut und schloss sich der rufenden Menge an: „Heil Hitler! Heil Hitler! Heil Hitler!“
Als Hugos Stimme begann so langsam in ihrer Kraft und Lautstärke nachzulassen, fuhr der Mercedes gerade an ihm vorbei. In diesem Augenblick drehte sich der Führer zu ihm um, und Hugo sah ihm für den Zehntel einer Sekunde in die Augen. Plötzlich wurde er von einem hellen Licht geblendet, wie von einem Blitz, der genau vor ihm einschlug. Eine Welle von Übelkeit überrollte ihn und nahm ihm die Luft zum Atmen. Ein spürte einen dicken Kloß in seinem Hals und schnappte nach Luft, wie ein Fisch an Land. Dann begannen die Visionen. Er sah ausgemergelte Menschen mit tief eingesunkenen Augenhöhlen und trübem Blick. Ihre Körper waren so dünn, dass es einem Wunder gleichkam, dass sie überhaupt in der Lage waren zu stehen. Wieder ein Blitz. Wieder skelettöse Körper, diesmal in einer Grube. Weggeworfen, wie menschlicher Abfall, wie Müll. Dann sah er die Bomben, die Flammen des Krieges; einen Soldaten, verwundet, humpelnd, in einer verwüsteten Stadt nach Deckung suchend. Doch eine Kugel traf ihm ins Gesicht, und dort wo soeben noch sein rechtes Auge war, entstand eine Wolke aus Blut und Knochensplitter. Wieder ein Blitz, dann eine Abfolge schneller Bilder. Panzer. Jagdbomber, die ihre tödliche Fracht entluden. Und immer wieder tote Menschen, in den Strassen, in den Gräben, einfach überall. Der Führer, eine flammende Rede haltend, während Tausend Soldaten in Reih und Glied ihm zujubeln. Männer mit verbundenen Augen, die vor einer Wand erschossen wurden. Immer schneller rasten die Bilder an seinem geistigen Auge vorbei. So schnell, dass ihm schwindelig wurde und er dachte, er müsse sich übergeben. Jedes Glücksgefühl war von Hugo gewichen und hinterließ ein dunkles Loch, gefüllt mit Entsetzen. So schlagartig, wie die Visionen erschienen waren, verschwanden sie auch. Übrig blieb nur die Dunkelheit.

Erst hörte er die Stimme seiner Mutter. Irgendwo weit entfernt, als wäre sie in einem anderen Zimmer. „Er kommt wieder zu sich“, sagte sie.
Dann öffnete er vorsichtig die Augen und sah, dass er in seinem Zimmer lag. Seine Mutter saß neben dem Bett und tupfte ihm sanft mit einem Tuch, kaltes Wasser auf die Stirn. Sie lächelte ihn liebevoll an.
“Der Führer scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben“, schmunzelte sie.
Hugo fing an zu weinen.
Seine Mutter dachte, er weine aus Glück.
 

Gorgonski

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Hallo Nemo,

Ich vermute, daß Du Deine Inspiration für diese Geschichte von Stephen King's "The Dead Zone- Das Attentat" hast.
Die Geschichte ist gut gelungen und drückt das Zeitgeschehen aus. Auch das Ende bestärkt nur das damalige Geschehen und die Faszination, der die Menschen (fälschlicherweise) erlegen waren.

MfG; Rocco
 



 
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