Die Passion der Stille

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Falls Euch etwas sehr bekannt vorkommt: ich habe für diesen Text einen Satz aus einem meiner älteren Beiträge entliehen, er passte einfach so gut hierher - nur für die, die ihn kennen. Er stand damals in den "Anonymen".



Die Passion der Stille


Es ist kalt. Die Tage werden länger. Der Himmel, der durch das Fenster dringt ist nicht blau. Aber es ist der Himmel. Wie eine kranke Grille liege ich seitlich auf dem Bett und starre hinaus, die Arme und Beine vor dem Bauch gefaltet. Betäubt. Meine Augen sind so trocken, dass sich die Lider schwer an den Augäpfeln reiben. Ich kann es fast hören. Es klingt wie das Geräusch von Fell, wenn eine Hand es streichelt.

Es ist still, bis auf das klappernde Besteck auf Tellern in der Ferne; es ist Mittagszeit. Irgendwo, in anderen Leben, anderen Wohnungen, an anderen Tischen, essen Menschen und reden vielleicht. Ich esse und rede nicht. Nicht so lange die Wörter nicht wiederkommen. Ich will nichts schmecken, nichts hören, nichts riechen und nichts sehen, bevor ich nicht weiß, WIE es riecht, aussieht, schmeckt und sich anhört. Wenn ich könnte, würde ich aufhören zu atmen. Das Leben findet anderswo statt – draußen, hinter Glas.

In einem Meer aus Glasmurmeln, die meine Wörter und Gedanken in ihrer Mitte verschließen, will ich hinab tauchen wie ein Perlenfischer, hinunter in die Tiefe, in der es keine Zeit mehr gibt, keine Zensur und keine Angst vor dem Versagen – Versagen vor anderen und vor mir selbst. Vor allem vor mir selbst. Aber ich bleibe hängen zwischen den Schlingen von „wenn“ und „dann“ und sie rollen fort bis zum Horizont.

Ich habe immer alles begriffen, auch als ich noch ganz klein war, aber ich sprach nie darüber. Ich wusste, dass der Lippenstift am Glas der Frau neben mir, ein Versprechen war, genauso wie der Leberfleck an ihrem Hals, ihr Lächeln und das Grübchen am Kinn. Ich wusste ebenso, dass sie es vielleicht einlösen würde, wenn der Mann, der ihr gegenüber saß, aufhören würde, so laut zu lachen.

Ich verstand alle klappernden Bestecke, alle offenen Hosenschlitze, Glatzköpfe und Tellermuster und alle vorbei rasenden Züge, die in mir immer die Empfindung auslösten, ich wäre allein zurück geblieben und hätte etwas verpasst. Ich verstand es, doch ich konnte nichts darüber sagen.

Drüben haben sie aufgehört, zu essen. Ich bin wieder allein mit mir und der Stille; ein Perlenfischer ohne Hände in einem Meer aus Schweigen. Es ist wichtig, so zu liegen und die Geste eines Wunschlosen zu machen. Das Wollen gefährdet die Entbindung der Worte, treibt sie ab und macht sie zu Totgeburten. Ich liege und versuche, ganz Gegenwart zu sein – ein zeitloser Moment zwischen vorhin und gleich – und ich begreife, dass sich die schlimmsten Katastrophen nicht draußen abspielen oder in der Ferne. Nein, sie brechen immer in Zimmern über einen herein, zwischen Nachttischlampen und Betten oder über den Resten eines stehen gelassenen Essens.

Ich liege und lasse es geschehen. Sie entlarvt die Lüge der Wunschlosigkeit und saugt mein Blut aus den Adern, bis nur noch meine Hülle übrig bleibt, ein Stück gefaltete Haut, eine Mumie – einbalsamiert für die Ewigkeit mit der Asche meiner verlorenen Worte.

Bis zum Abend liege ich so. Die Dunkelheit erlöst den blassen Himmel und mich. Ich gebe mich geschlagen, ignoriere den Hohn des leeren Blattes und versuche, es als einen Gegenstand zu begreifen, der in mein Bett gehört, so wie mein Kopfkissen. Entmutigt lege ich meine pochende Schläfe auf das Papier. Es ist kühl und riecht nach schlechtem Gewissen und nach Vergessen.

Ich atme ein und halte die Luft an. Es riecht nach VERGESSEN!

Plötzlich bin ich hellwach. Ich renne zum Bücherregal ins Wohnzimmer. „Der Graf von Monte Christo“ - illustrierte Ausgabe von 1902. Zitternd stehe ich vor den sich auflösenden Seiten, befingere, begutachte, befrage sie wie ein Orakel, halte meine Nase hinein und atme, als ginge es um mein Leben. Ja! Es duftet nach Märchen, nach Halmaspielen mit Oma, nach Schwalbenrufen und Eisbomben mit Rosinen – es duftet nach Erinnerung und Vergangenheit! Ich flitze in die Küche und löffele Joghurt vor der offenen Kühlschranktür: Unschuld und Sünde zugleich – Agape und Amore – Zärtlichkeit, Liebe, Verführung!

Ich muss lachen. Mit geschlossenen Augen tauche ich meinen Finger abwechselnd in ein Glas mit indischer Soße und den Joghurtbecher. Es ist vollkommen so und ich begreife, dass ich kosten muss, um zu wissen, wie es schmeckt, so wie ich atmen muss, um zu leben, und dass immer alles da ist, nur ich manchmal nicht.
 
Q

Quidam

Gast
Liebe freifrau von löwe (cooler Nick:)),

du schreibst angenehm flüssig. In deinem Tagebucheintrag übertreibst du es zwar mit deinen Metaphern, die sich oft beißen, aber du hast dafür auch viele starke Passagen. Vorallem der Mittelteil, indem du aufzählst, was du alles begriffen hast, hat es mir angetan.

Drüben haben sie auf[red]ge[/red]hört, zu essen.

*winke*
quid
 
hallo Quidam,

oh, danke für das geschenkte "ge" es ist mir noch gar nicht aufgefallen.

was die metaphern angeht, hast du möglicherweise recht, aber das kann ich schlecht abschätzen, denn es ist die beschreibung eines inneren vorgangs. ich würde mir beide hände abhacken, würde ich einen äußeren SO beschreiben...

vielleicht ist auch ansichtssache oder geschmackssache, denn es gibt jede menge leute, die so metaphernklopfend ihr geld verdienen und preise kriegen...

für mich war es eher ein versuch, etwas unmögliches oder schwer ausdrückbares in worte zu fassen - und somit eher eine übung, denn der text erzählt eigentlich schon über mein problem: WIE berührt mich etwas - ich muss es wissen, sonst kann ich nicht darüber schreiben.

danke für deinen kommentar.
 



 
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