Die Prophetin (Teil 1)

Die alte Gräfin näherte sich wieder dem Tisch und wie immer verstummten die Gespräche der Männer. Dies geschah nicht, weil es Geheimnisse zu bewahren galt, sondern vielmehr aus Respekt vor dem Alter und der Weisheit der Frau, die sich wie immer hinter einer Maske aus blassem Puder und bläulichem, übertrieben dick aufgetragenem Lidschatten verbarg. Ihre ebenfalls blass angemalten, schmalen Lippen wirkten wie die einer Toten und standen im scharfen Kontrast mit ihren lebhaften, blau umrandeten Augen, die eine eigentümliche Färbung besaßen, nämlich grau mit einem Hauch von grün darin. Sie lächelte freundlich, als sie bemerkte, dass alle sie schweigend erwarteten. Wir waren die einzige Gäste, denen dieses Lächeln geschenkt wurde, vielleicht, weil wir Russen waren, wie sie auch, vielleicht aber auch, weil wir diejenigen waren, die sie respektierten. Nicht als Wirtin, Köchin oder Kellnerin, sondern als das, was sie hinter der Maske war. Für uns war die alte Gräfin eine Weise, eine Prophetin, auch wenn diese Worte in diesen Jahren immer mehr an Bedeutung verloren.
Jetzt blickte sie Fjodor lächelnd an und meinte zu ihm: "Dein Glück sollst du zu teilen wissen, dann wird auch der Trauer dich nicht erdrücken." Ein seltsamer Satz, wenn einem dabei der Nachtisch gereicht wurde. Selbst das war schon ungewöhnlich, der Nachtisch, obwohl wir einen Wochentag zählten wie jeden anderen, selbst an einem Sonntag wären wir noch überrascht gewesen. Tatsache war, dass die Gräfin, die sich jetzt mit einem von Fältchen umrahmten Lächeln vom Tisch abwandte, wieder einmal mehr wußte als alle anderen. Sie war eine seltsame Frau, sie redete stets in der Art, in der sie eben mit Fjodor gesprochen hatte, in Sätzen, deren Bedeutung man erst erkannte, wenn etwas bestimmtes geschehen war. Oft schon hatte ich mich gefragt, ob sie Visionen hatte, in denen es ihr gelang, alles zu sehen, was anderen verschlossen blieb. Ich hatte es nie gewagt, ihr selbst diese Frage zu stellen, die sie vermutlich sowieso nur mit einem stillen Lächeln beantwortet hätte.
Erstaunt waren wir also eigentlich nicht, als sie diesen Satz sagte, wir waren solche Äußerungen ja schon gewohnt. Für Aljoscha, der erst seit kurzer Zeit ebenfalls an unserer Runde teilhatte, war es allerdings befremdend, aus dem Munde dieser alten Frau derartige Weisheiten zu hören.
"Was will sie damit sagen?" ergriff er nun als erster wieder das Wort. Wir schwiegen betreten, warteten alle darauf, dass Fjodor antwortete, denn es war uns allen klar, dass nur er die Auflösung in der Hand hatte.
"Ich habe meine Frau gefunden", sagte er nach einer Weile, während ihm Freudentränen in die Augen traten. "Es ist ihr gelungen zu fliehen. Sie ist auf dem Weg nach Berlin." "Das sind wirklich gute Neuigkeiten", sagte Michail leise. Er hatte von seiner Familie schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört. Ich schenkte Wein nach, hob dann mein Glas. "Darauf sollten wir trinken." Die anderen hoben , in stiller, feierlicher Pose, nun ebenfalls die Gläser, und tranken auf das Wohl von Natascha. Kurz darauf brach Fjodor weinend vor Glück zusammen, schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte. Sein Körper zuckte, wenn er aufschluchzte und er brauchte bestimmt zehn Minuten, um wieder Fassung zu gewinnen. Aljoscha reichte dem vor Glück überschäumenden Mann ein Taschentuch, erntete ein Lächeln. Fjodor schenkte dem hageren jungen Schriftsteller dafür seinen Nachtisch. Über den restlichen Verlauf des Abends weiß ich nicht mehr viel, nur, dass wir ziemlich betrunken waren und gesungen und getanzt haben bis tief in die Nacht hinein. Morgen früh sollte Natascha in Berlin ankommen. Wir wollten am Bahnhof warten.
Am nächsten Morgen nun nahmen Fjodor und ich das Frühstück früher als gewohnt ein. Die alte Gräfin wirkte noch befremdlicher als gestern, hatte sie doch heute ihr Gesicht fast gänzlich mit feinem, dunklen Puder bedeckt, während ihre Augen schwarz umrandet waren. Ihre Lippen stachen aus dem dunklen Gesicht ebenso bleich und tot wie gestern. Überhaupt wirkte sie heute dunkel und traurig, das einzige helle in ihrem Gesicht war die von den Tränen freigespülte weiße Haut, die unter der Schminke hervortrat. Wieder hätte ich sie gerne gefragt, ob sie Visionen hatte, aber sie schüttelte den Kopf und sagte: "Nimm auch den Nächsten an, der nicht deinem Leib entsprungen ist." Fjodor war viel zu fröhlich, um auf ihre Worte zu achten, aber für mich waren sie eine böse Vorahnung auf das, was uns erwarten würde.
Wir fuhren pünktlich los. Als Natascha mühsam aus dem Zug stieg, erkannten wir gleich, dass sie schwanger war und kurz vor der Entbindung stand. . Ich vergaß die Warnung der alten Gräfin, denn Natascha sah gut aus, sie war gesund und glücklich darüber, ihren Mann wiederzusehen. Fjodor umarmte sie stürmisch, lachte und weinte gleichzeitig. In der Straßenbahn hatten sie nur Augen füreinander, es schien fast als wäre ich nicht mehr existent. Ich nahm es schweigend hin, schließlich gebührte es mir nicht, ihr Glück jetzt zu stören. In der Pension wurden wir bereits sehnsüchtig erwartet. Michail, Sergeij und Aljoscha standen im Speisesaal, und als wir eintraten, jubelten sie und öffneten eine neue Flasche Wein, die sie extra für diesen Anlass gekauft hatten. Natascha lachte viel und begrüßte alle mit einem Kuss auf die Wange. Aljoscha errötete leicht, offenbar gefiel ihm das helle Lachen der jungen Frau. Seltsamerweise ließ sich die Gräfin nicht blicken. Allerdings wurde sie auch von niemandem - von mir einmal abegesehen - vermisst. Es war ein wunderschöner Vormittag. Endlich schien es uns gelungen zu sein, unsere Einsamkeit und Abgeschiedenheit in diesem Land zu vergessen. Wir alle sehnten uns nach unserer Heimat, aus der wir vertrieben worden waren. Trotzdem gab es an diesem Vormittag nur diesen Gedanken an unseren guten Freund, der seine Freude so offen mit uns teilte. Michail hatte seine Flöte mit heruntergebracht, und schon bald ertönten fröhliche Klänge. Natascha sang mit ihrer klaren Stimme nach der Melodie und nach und nach fielen die Männer ein.
Ich sang lange Zeit mit ihnen, trank ein Glas Wein und lachte über die Scherze, die wie immer über das bolschewistische Regime gemacht wurden. Meiner Fröhlichkeit wurde jedoch ein jähes Ende gesetzt, als ich die Kerze sah ...

(Fortsetzung folgt)
 

Svalin

Mitglied
Hallo Ann-Kathrin

das mit dem 2. Teil war hoffentlich nicht nur eine Prophezeiung ... wo es doch gerade spannend wurde :)
Ansonsten lies es sich schnörkellos und ohne Ecken, für meinen Geschmack etwas zu detailiert beschrieben.

Gruß Martin
 
2. Teil kommt bestimmt

Hallo!

Der zweite Teil ist auf dem besten Weg, wenn ich das mal so sagen darf, muss nur noch getippt werden. Der ist auch nicht mehr ganz so detailliert, er zielt eher auf Spannung und Auflösung einiger bisher nur angedeuteter Phänomene. Also, noch ein klein bisschen geduld ...
 



 
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