Die Quote

Raniero

Textablader
Die Quote

Dr. Albert Klinkhammer, der Intendant des großen kommerziellen Fernsehsenders, konnte und wollte es nicht glauben.
Soeben war er von einer Reise aus Übersee zurückgekehrt, um vor Ort neue Ideen und Sendeformate zu studieren, als er aus der Tagespresse eine Meldung über einen Umfragewert erfuhr, der alle bisherigen Maßstäbe außer Kraft setzte.
Danach hatte gemäß den Angaben eines Meinungs- und Umfrageinstitutes ein neu auf dem Markt platzierter Fernsehkanal bei der Ausstrahlung seiner ersten Sendung eine Zuschauerquote von sage und schreibe einhundertzwei Prozent erzielt, ein Wert, der schon rein rechnerisch unmöglich stimmen konnte.
Was Dr. Klinkhammer an der Meldung jedoch fast noch mehr verblüffte als diese Zahl, war die Tatsache, dass es sich bei dem Institut um ein sehr renommiertes Unternehmen handelte, das seit geraumer Zeit auch für seinen Sender tätig und über jeden Zweifel erhaben war.
‚Wie kommen die denn dazu’, fragte er sich, ‚einen solchen Wert zu veröffentlichen, sehen die denn nicht, dass sie auf dem Weg sind, einen Imageschaden zu riskieren, von dem sie sich nie wieder erholen können? Sind die denn total verrückt geworden? Einhundertzwei Prozent! Von welchem Basiswert sie auch immer ausgegangen sein mögen, bei der Ermittlung dieser Zahl, so durfte und konnte sie hundert Prozent nicht überschreiten. Und selbst ein Wert von hundert Prozent war praktisch unmöglich, da ein solcher bis heute nicht einmal bei einer Fußballweltmeisterschaft oder einer Papstwahl erreicht wurde, von keiner Sendeanstalt der Welt.’
‚Auf der anderen Seite aber’, geriet Dr. Klinkhammer in’s Grübeln ‚sind doch bei diesem Institut vernünftige Leute tätig, diplomierte Mathematiker, die mit Zahlen umgehen können, wie konnten die sich denn so verrennen?’
Er wusste nicht, was er davon halten sollte, doch allmählich gewann bei ihm die Überzeugung Gestalt anzunehmen, dass etwas anderes dahinter stecken müsste, bei diesem Umfragwert.
Aber was, verdammt noch mal?

Entnervt wies Dr. Klinkhammer seine Sekretärin an, ihn mit Frau Edith Bäckerstolz-Blume, der Leiterin des Umfrageinstitutes, zu verbinden.
Diese war absolut nicht erstaunt über den Anruf, hatte sie ihn bereits erwartet, kein Wunder, bei diesem gelinde gesagt, merkwürdigen Quotenwert.
„Frau Bäckerstolz-Blume“ begrüßte Dr. Klinkhammer sie in einem jovialen Tonfall, „gehe ich recht in der Annahme, dass Sie den Umfragewert der Sendung dieses neuen Fernsehkanals schon gelesen haben?“
„Ja, natürlich, Herr Dr. Klinkhammer, und ich wollte Sie deshalb auch schon kontaktieren.“
„Soso, Sie wollten mich auch kontaktieren? Nun haben wir ja den Kontakt hergestellt, nun steht einer Aufklärung ja nichts im Wege. Sagen Sie mal“ nahm seine Stimme einen fast zuckersüßen Ton an, „Sie sind doch eine gewiefte Mathematikerin, nicht wahr. Wenn ich mich dagegen betrachte, glauben Sie mir, da bin ich froh, dass ich nicht fast schon das sogenannte kleine Einmaleins vergessen habe, und in meiner Unbedarftheit habe ich da eine rechnerische Nuss zu knacken, bei der Sie mir sicher Ihre Hilfe nicht verweigern werden.“
„Aber Herr Dr. Klinkhammer, Sie beschämen mich aber jetzt, Ihr Licht so unter den Scheffel zu stellen.“
„Nein, nein, ich meine es ernst, glauben Sie mir, es ist eine ganz einfache Rechenaufgabe, bei der meine Künste leider schon versagen. Ich nenne sie Ihnen. Also, wenn man beispielsweise einhundert Personen eine einzige Frage stellt und daraufhin, wohlgemerkt, einhundertzwei Antworten erhält, dann muss ich ehrlicherweise passen, das ist irgendwie zu hoch für mich, da stoße ich in numerische Sphären, die mir verschlossen bleiben. Doch Sie, liebe Frau Bäckerstolz-Blume, haben sicher eine einfache Erklärung dafür, einfach und einleuchtend für einen mathematischen Idioten wie mich?“
„Das ist es ja, was ich mit Ihnen besprechen wollte, Herr Dr. Klinkhammer, ich weiß, was Sie damit sagen wollen“ antwortete die Institutsleiterin kleinlaut, „genaugenommen haben Sie ja Recht, es gibt dafür keine mathematische Erklärung, für diese einhundertzwei Prozent.“
„Es gibt keine mathematische Erklärung? Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, Sie mit Ihrem Wissen, Sie und Ihresgleichen; es sind doch nur lächerliche zwei Prozent Differenz, die kriegt ein Mathematiker doch noch zusammen, ich meine, eine Begründung für diese klitzekleine Abweichung.“
„Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen, Herr Dr. Klinkhammer. Nein, im Ernst, es gibt tatsächlich keine wissenschaftlich fundierte Begründung für diese zugegebenermaßen etwas irritierende Zahl.“
„Irritierende Zahl“ platzte dem Senderchef der Kragen, „irritierende Zahl ist gut. Was glauben Sie wohl, was ich mit so einem Wert anfangen kann? Einhundertzwei Prozent! Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Ich bestehe darauf, dass Sie mir umgehend eine vernünftige Begründung liefern, oder eine öffentliche Entschuldigung. Schreiben Sie von mir aus, dass es sich um einen Blackout eines Ihrer Mitarbeiters handelte, dementieren Sie die Zahl, setzten Sie eine Gegendarstellung in die Medien, aber um Gottes Willen, tun Sie etwas, damit dieser unselige Wert aus dem Gespräch kommt, es ist nicht zuletzt auch in Ihrem ureigensten Interesse.“
„Ich weiß, Herr Dr. Klinkhammer“, war die Meinungsforscherin den Tränen nah, „ich weiß es selbst, aber es geht nicht, die Zahl steht, sie ist überprüft und es gibt nichts daran zu rütteln.“
„Was heißt hier, es gibt nichts daran zu rütteln?“ schrie Klinkhammer in den Hörer, „das gibt’s doch gar nicht. Sagen Sie mal, was ist denn das überhaupt für ein Sender, für den Sie die Umfrage gestartet haben. Kenne ich den?“
„Das ist es ja gerade, Herr Dr. Klinkhammer, was ich sagen will, es ist ein ganz neuer Sender, bis dato vollkommen unbekannt, aber, wenn man einmal genauer hinschaut, ist dieser merkwürdige Umfragewert gar nicht so abwegig.“
„Gar nicht so abwegig? Ein Sender mit einer Quote, die rein rechnerisch mehr Zuschauer hat, als überhaupt zugeschaut haben können? Wo sollen denn die anderen Zuschauer herkommen?“
„Aus dem Jenseits, Herr Dr. Klinkhammer.“
„Was?“
„Der neue Sender nennt sich würdiger Heimgang. Er ist erst vor kurzem vom landesweiten Bestatterverband eingerichtet worden, als ein sogenannter Trauerkanal.“
„Wie bitte?“
„Nun ja, es gibt ja heutzutage fast für alles einen eigenen Sender, von Politik angefangen über Musik, Wissenschaft, Sport bis hin zu reinen Werbekanälen. So kamen die Bestatter auf die Idee, einen eigenen Sender, speziell für ihre Belange, ins Leben zu rufen. Doch dass der gleich so furios startet, mit einer solchen Quote, damit hätten wir im Traum nicht gerechnet.“
Dr. Klinkhammer wurde nachdenklich.
„Sie glauben, dass bei der Erstsendung nicht nur hiesige Zuschauer vor den Geräten saßen, sonder auch noch welche, wie soll ich sagen, von drüben, aus dem… Hades?“
„So muss es sein, anders kann ich mir den Umfragewert auch nicht erklären. Na, ja, für diese Zuschauer ist das Thema ja auch nicht uninteressant, wenn man beispielsweise an die Grabpflege denkt.“
„Donnerwetter, da haben Sie gar nicht so unrecht. In der Tat, so wird es sein. Mein Gott, bei solch einer Quote könnte man glatt neidisch werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie in Zukunft vielleicht sogar noch steigen kann, „lachte Dr. Klinkhammer, „denn die Toten sterben ja nicht so schnell aus. Sagen Sie mal, wer ist denn der Intendant dieses Trauersenders, vielleicht kann ich den ja mal beerben, wenn er das Zeitliche segnet.“
„Das glaube ich allerdings nicht, Herr Dr. Klinkhammer“ lachte Frau Bäckerstolz-Blume, „das hat der bereits getan, vor zwei Jahren hat er das Zeitliche gesegnet, und wie sagten Sie eben so schön, die Toten sterben ja nicht so schnell aus.“
 



 
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