Die Ratte (erneut eingestellt)

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chrissieanne

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Die Ratte


„Entschuldigen Sie, gehört die hier zum Inventar, oder wie?"
Ich schaute den Gast, dem ich Minuten vorher sein Essen gebracht hatte, verständnislos an.
„Wie bitte?"
Er zeigte erstaunlich gelassen zur Fensterbank direkt neben seinem Tisch.
Und da saß sie.
Völlig unbeeindruckt und deutlich interessiert an seiner Mahlzeit.
„Oh, mein Gott! Das ist ja furchtbar!" rief ich hysterisch, da zum einen Ratten nicht gerade zu den Wesen gehören, deren Anblick mich entzückt, und zum anderen vor meinem inneren Auge sofort das ganze Schreckensszenario ablief: entsetzte Gäste, Gesundheitsamt, Schließung des Lokals.
Aus die Maus - respektive die Ratte.
„Ach das ist eine Zahme, die ist harmlos" meinte eine Frau am Nebentisch mit Kennermiene.
Ich sah noch eimal genauer hin. Mein Adrenalinspiegel sank, und logisches Denken fand wieder Raum.
Natürlich, eine Zahme. Ratten haben ja bekanntlich nicht die Angewohnheit an Kneipentischen um Nahrung zu betteln. Sofort meldete sich mein tierliebendes Herz.
„Ach je, die Arme. Was mach ich denn jetzt mit ihr?"
Ein beherzter Gast erbot sich, das kleine Objekt der Aufregung in einem Karton zu den S-Bahn Gleisen zu bringen und dort auszusetzen.
„Auf gar keinen Fall!" sagte ich empört, „die hat doch überhaupt keine Chance in der Natur."
Ich rannte ins Wohnhaus, um bei den Mietern nachzufragen, ob dort jemand vielleicht eine Ratte vermißt. Zumal in jüngster Zeit einige Katzen auf unsere Markise gefallen waren. Wer weiß, vielleicht ziehen wir ja die Lieblinge der Hausbewohner magisch an.?
Doch meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Amüsiert, entsetzt oder bedauernd wurde mir überall mitgeteilt, daß keine Ratte Mitglied des Haushalts sei. Enttäuscht und atemlos kam ich wieder unten an, wo sich der Biergarten gefüllt hatte. Die Gäste saßen ungeduldig an den Tischen und wunderten sich über die ausbleibende Bedienung.
„Moment, ich komme sofort, mein Kollege ist auch gleich da!"
Hektisch versuchte ich meiner eigentlichen Aufgabe nachzukommen.
Irgendjemand hatte mittlerweile einen Karton besorgt, die Ratte darin verstaut und der beherzte Gast wachte nun über den gefangenen Nager.
„Mein Angebot steht. Ich würde sie aussetzen, aber mehr kann ich nicht tun."
„Können Sie sie nicht ins Tierheim bringen?" fragte ich, hoffnungsvoll an seine Gutmütigkeit apellierend. Er verneinte entsetzt.
Meinen mittlerweile eingetroffenen Chef schien das von mir aufgeregt erzählte Ereignis herzlich wenig zu interessieren. Er verneinte gereizt meine Frage, ob er nicht wüßte, wer in der Straße eine Ratte vermissen könnte und verbat sich jede weitere Diskussion.
„Mein Gott, du spinnst doch. Es ist doch nur eine Ratte!"
Das Thema schien für alle Beteiligten erledigt. Nicht so für mich. Nur eine Ratte! Ist das etwa kein fühlendes Lebewesen, oder was? Schließlich saß sie dort im Karton, wußte nicht wie ihr geschah, und war, so stellte ich mir vor, halb verrückt vor Angst.
Ihr Bewacher hatte mittlerweile das Lokal unverrichteter Dinge verlassen, und den Schützling samt Pappgefängnis im Inneren der Kneipe auf einer Bank hinterlassen. Immer wieder lief ich in die Küche um Gurken- und Käsestückchen zu holen, die ich ihr durch ein kleines Loch zusteckte.
Draußen im Biergarten war die Hölle los, und ich kam kaum mit den Getränken nach. Jedem neuen Gast stellte ich nach der Begrüßung die Frage, ob er nicht zufällig jemanden wüßte der Ratten hält, bzw. gerne eine hätte, oder ob er nicht selber vielleicht.... Doch die Neigung, einer Ratte Obdach zu gewähren, war bei den meisten Menschen wohl nicht sonderlich ausgeprägt.
Meine Laune war auf dem Nullpunkt angelangt, hatte ich inzwischen doch kundgetan daß, würde der Besitzer sich nicht finden, ich mich dem Tier annehmen würde. Nun hatte ich aber so gar keine Ahnung, was ich um Himmels willen damit anfangen sollte. Die Verantwortung lastete schwer auf meinen Schultern, ich konnte mich kaum konzentrieren und wünschte sämtliche Gäste zum Teufel.
Doch dann - ein Hoffnungsschimmer!
„Ich habs!" rief zu meinem Erstaunen mein Chef der, ob seiner Gleichgültigkeit der Ratte gegenüber, in meiner Achtung tief gesunken war.
„Wenn irgend jemand Ratten hält, dann ist das der verrückte Alte nebenan mit seiner Familie." sprachs, und rannte auch schon hinaus dies zu eruieren.
Euphorisch Biere zapfend, Wein einschenkend und zu der gierigen Meute hinaustragend, fühlte ich mich der Freiheit wieder nah. Triumphierend kam der Chef zurück :
"Hab ichs nicht gesagt!".
Er nahm den Karton und verschwand erneut. Ganze Gebirge polterten von meinem Herzen und tausend Handgriffe gleichzeitig gingen wie von selbst.
Er kam zurück - oh nein - mit Karton.
"Tja, Pech auf der ganzen Linie. Ich hatte Recht, die Tochter hat n e u n Ratten! Das da ist aber nicht ihre, und auch wenn es auf eine zehnte nicht angekommen wäre - das Vieh ist schwanger! Da hat sie natürlich dankend abgelehnt."
Das wars.
Schwanger.
Damit war die ohnehin sehr geringe Chance, den Besitzer oder einen Interessierten zu finden, gänzlich dahin.
Das Tier war ausgesetzt worden. Keine Frage.
Ungetüme von Steinbrocken ließen sich erneut auf mein Lebensorgan nieder. Ich arbeitete schweigend weiter, voller Mitleid für das kleine Wesen und mit mir. Mist, warum muß immer mir so etwas passieren!?
Die Kneipe leerte sich. Es war 0.30 und ich hatte endlich Feierabend. Ich setzte mich mit einem Glas Wein an einen Tisch und war ratlos. Wie soll ich den Karton überhaupt mit dem Fahrrad transportieren? Was mache ich jetzt bloß?
„Also", kam es vom Tresen. „Wir können die Ratte draußen auf die Fensterbank stellen und ich bringe sie dann morgen zum Tierheim. Aber im Laden bleibt sie nicht!"
Ganz so herzlos war er dann wohl doch nicht, der Chef. Jedoch war sein Angebot nicht akzeptabel.
„Damit dann irgendwelche Jugendliche in den Karton gucken und dann sonst etwas mit ihr veranstalten? Nein, ich nehme sie mit", sagte ich tapfer. Ich trank noch einen Wein und grübelte weiter. Mein Anblick schien wohl selbst tendenziell eher abgehärtete Herzen zu erweichen.
„Wenn du wartest, bringe ich dich mit dem Wagen nach Hause." Dankbar nahm ich das Angebot an. Um 4 Uhr früh war es dann soweit. Ich nahm den Karton und er fuhr mich heim. Zum Schluß gab es sogar eine Umarmung.
„Du bist echt verrückt."
Ich stieg aus und ging in meine Wohnung. Stellte den Karton ab, holte einen alten Wäschekorb, legte ihn mit Zeitung aus und machte den Karton auf. Die Ratte stand auf ihren Hinterbeinen und schnupperte neugierig.
So verängstigt, wie ich befürchtet hatte, schien sie nicht zu sein. Ich überwand mich, nahm sie in die Hand - und wie der Wind war sie neben meinem Ohr.
Oh Graus! ... Dieser Schwanz!
Ich packte sie, und setzte sie in den Wäschekorb. Doch dessen Wände hinderten sie nicht, wie ich gehofft hatte, hinaus zukommen. Ein anderes Behältnis hatte ich nicht - also war guter Rat teuer.
Da saß ich nun auf meinem Sessel, den Wäschekorb mit der agilen Ratte vor mir und wußte nicht weiter. In meiner Verzweiflung rief ich den Nottierarzt an, der etwas genervt meinte, ich solle sie ins Klo sperren. Was ich dann, nach mehreren Versuchen mit der Ratte irgendwie umzugehen, auch tat. Mittlerweile schlug die Uhr 6 Uhr früh. Ich setzte sie also wieder in den Karton, streichelte sie noch einmal und stellte das offene Behältnis samt lebendem Inhalt ins winzige Altbauklo auf den Klodeckel, den ich immer - Ironie des Schicksals - gewissenhaft zuklappe, damit bloß keine Ratten durchs Abflußrohr hochkommen.
Mit schlechtem Gewissen legte ich mich ins Bett. Ich war todmüde, machte jedoch kein Auge zu. Immer mit einem Ohr zum Klo horchend, besorgt wie es der Ratte geht. Zwischendurch stand ich auf und lauschte an der Tür. Kein Mucks. Ich fühlte mich elend.
Die Ratte war völlig zutraulich und brauchte menschliche Zuwendung, die konnte ich nicht geben, weil es mich grauste. Sie war lebendig, neugierig und offensichtlich gewöhnt frei herumzulaufen. Auch das könnte ich ihr nicht geben, weil der Gedanke, daß eine Ratte in meiner Wohnung herumläuft, mir unerträglich war. Zumal es möglich war, daß sie sich irgendwo verkroch und ich sie nicht mehr einfangen konnte.
Das also war meine Tierliebe! Ich nehme die Verantwortung für die Ratte heroisch auf mich und sperre sie dann ins Klo. Und dann bringe ich sie ins Tierheim. Die Chance, daß sie vermittelt wird ist, realistisch gesehen, nicht sehr groß. Ich rette ihr Leben, und raube ihr gleichzeitig ihre Lebendigkeit. Vielleicht wäre aussetzen doch besser gewesen? Sie hätte nicht überlebt, da bin ich sicher, aber es wäre aller Wahrscheinlichkeit nach recht schnell gegangen und in Freiheit!. Aber - vielleicht findet sie ja doch jemanden.
Durch den Anrufbeantworter des Tierheims wußte ich, daß dort ab 10 Uhr geöffnet war.
Punkt neun stand ich völlig gerädert auf, trank meinen Kaffee in aller Eile und öffnete die Klotür.
Nun w a r sie verängstigt.
Völlig apathisch saß das vor ein paar Stunden noch so lebhafte Tier in dem Karton. Ich nahm es in die Hand und flugs war es wieder an meinem Ohr. Ich zwang mich es auszuhalten, hielt aber nicht lange durch. Ich setzte sie zurück in den Karton.
Aus der Apathie hervorgekommen, wenn auch nicht mehr ganz so selbstbewußt, saß sie, nachdem ich nur kurz in der Küche war, schnuppernd in meinem Sessel.
Entsetzt packte ich sie, setzte sie in den Karton, machte ihn zu und verließ mitsamt der Ratte die Wohnung. Draußen war es trotz der morgendlichen Stunde brütend heiß.

Der Weg zum Tierheim ist eine Odyssee. Zehn Minuten zu Fuß zur U - Bahn. Dann sechs Stationen fahren, umsteigen, wieder fünf Minuten über verkehrsreiche Straßen, dann sieben Stationen. An der Bushaltestelle stehen. Autos und Laster donnern vorbei. Die Ratte läuft in dem Karton hin und her. Ich rede beruhigend auf sie ein. Dann nach fünfzehn Minuten kommt der Bus. Vier Stationen. Aussteigen. Fünfzehn Minuten in praller Sonne an einer fast ländlich anmutenden Straße entlang. Und dann taucht es vor mir auf:
Das neue Tierheim von Berlin.
Ein weißes, riesiges, langgestrecktes, einem Strafgefangenenlager gleichendem Gebäude.
Eingeschüchtert laufe ich über das Grundstück und finde nach einiger Zeit den Eingang den ich suche:
T I E R B G A B E S T E LLE
Die mich empfangende Frau schaut mich müde an und fragt was, wie, wann und wo.
Ich muß ein Formular ausfüllen.
Sie nimmt den Karton, aus dem man wieder die kratzenden Geräusche der Füßchen hört.
„Was passiert denn jetzt mit ihr? Sie werden sie doch auch wirklich nicht töten?."
„Nein keine Sorge. Sie kommt jetzt erst einmal alleine für sich in einen Käfig. Danach kommt sie in unsere Kleintierabteilung. Sie können sich dort gerne mal umschauen. Außerdem können sie jederzeit anrufen und sich unter der Registriernummer nach dem Tier erkundigen." Sie beschrieb mir, wo sich das Kleintiergehege befand. Ich steckte ein letztes Mal den Finger in das kleine Loch des Kartons. Sofort erschien das rosa Näschen mit den langen Schnurrhaaren. Mir wurde schwer ums Herz und mein Gewissen schlug schier unerträglich.

Ich schaute mir das Kleintiergehege an.

Ich habe nie angerufen.
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo chrissieanne,

deine Geschichte hat mir gefallen,
komplement!
Ich habe sie gerne gelesen und mich gut in sie hineinversetzen können.

Nichtalltägliches (Ratte) mit alltäglichem (Verhalten der Leute) gut gemixt.
Komplement.
 

chrissieanne

Mitglied
Hallo Zarathustra!
Mit Freuden habe ich registriert, daß doch noch jemand "die Ratte" kommentiert hat. Und dann noch so positiv.
Vielen Dank fürs Kompliment!
Schön, daß Dir die Geschichte gefallen hat.
Viele Grüße
chrissieanne
 

chrissieanne

Mitglied
Liebe Zwillingsjungfrau!
Vielen, vielen Dank für Dein Lob. Ich freue mich sehr darüber, daß Du meine Geschichte gelesen hast und sie Dir gefällt (obwohl ich wirklich keine verkappte Werbung machen wollte!)
Ich wünsche Dir eine gute Nacht und schöne Träume.
Liebe Grüße von
chrissieanne
 
B

borax

Gast
eine

sehr schöne geschichte. habe auch zwei ratten. und ne katze. vertragen sich bestens.
lg
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

sehr schöne und angenehme geschichte. ich mag ja nun ratten überhaupt nicht, nicht mal ne zahme, aber diese geschichte mag ich sehr.
lg
 

sannasohn

Mitglied
Niedlich

niedlich geschrieben
da ich selber auch eine Ratte habe kann ich sie voll und ganz verstehen das sie nicht anrief...
lg sannasohn
 

chrissieanne

Mitglied
hallo borax, flammarion und sannasohn,

danke für eure kommentare. das hier war meine allererste geschichte. ist ein gutes gefühl, nach so langer zeit noch reaktionen darauf zu bekommen. habe sie mir nun selber nochmal durchgelesen. naja - da sind wohl einige fehlerchen drin. da muss ich nochmal rüber.
schön, dass ihr mich drauf gebracht habt.
und noch schöner, dass sie gefällt.
lg
chrissieanne
 



 
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