Die Reise der Pinguine

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ThomasStefan

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Die Reise der Pinguine


Wenn ich heute zurückschaue und mich frage, was diese Menschen einst ausgezeichnet hat, dann suche ich vergeblich nach den richtigen Worten. Vielleicht war es ihre freundliche Ausgeglichenheit, als Zeichen, mit sich völlig im Reinen zu sein. Oder die Wärme, die sie ausstrahlten, deren Wirkung sich niemand entziehen konnte, damals, in meinem Krankenhaus. Jetzt, wo diese Frauen nicht mehr da sind, wird uns ihr Fehlen schmerzlich bewusst.

Zum allerersten Mal traf ich sie, als ich auf den Aufzug wartete. Die Tür ging auf und ich muss ein wirklich verblüfftes Gesicht gemacht haben, als eine nach der anderen an mir vorbei liefen und mir freundlich zunickten. Seit meiner Jugendzeit kannte ich nur Nonnen in schwarzer Tracht. Diese Schwestern hier waren taubenblau-grau gekleidet. Im Gänsemarsch folgten sie brav ihrer Anführerin, die mit einem geheimnisvollen als auch wissenden Lächeln voranschritt.

Seit jenem Tag blieb sie jedes Mal etwas Besonderes, die Begegnung mit ihnen: Ihr Lächeln als Antwort auf meine Verlegenheit. Mein automatisches Bemühen um untadeliges Benehmen. Der Austausch wohl abgewogener Worte. Immer bestand zwischen uns großer gegenseitiger Respekt, auch viel Sympathie, aber meinerseits war auch eine Distanz spürbar, die ich nicht überwinden konnte. Für mich blieben sie Menschen auf einem sehr eigenen Weg.

Als ich im Krankenhaus meine Arbeit als Arzt aufnahm und mit dem Verwaltungsleiter die Besonderheiten im Haus besprach, kam er plötzlich auf die Nonnen zu sprechen.
“Na, Herr Doktor, sind sie schon unseren Pinguinen begegnet?”, war seine überraschende Frage.
Ich hatte zunächst gar nicht verstanden, wer gemeint war. Als es mir klar wurde, war ich irritiert und empfand es als ziemlich frech, dass gerade er die Nonnen so bezeichnete. Passend zu dieser Bemerkung lächelte mein Gegenüber. Schnell wurde mir klar, für manche hier waren diese Frauen nur noch wandelnde Erinnerungen an eine vergangene Zeit.

Ich hatte mitarbeitende Nonnen in meinen Anfängen als studentischer Pflegepraktikant noch kennen und später schätzen gelernt. Damals waren sie in den kirchlichen Häusern überall präsent gewesen, im Stationsdienst wie am OP-Tisch als instrumentierende Schwestern. Auf ihrer umfangreichen Mitarbeit basierte ein kirchliches Krankenhaus. Ihre Selbstlosigkeit wurde immer still vorausgesetzt, sogar eingefordert. In den katholischen Einrichtungen war es nicht unüblich, dass sie im Krankenhaus in einer eigenen Etage wohnten, so auch in diesem Hospital, meiner derzeitigen Arbeitsstätte. Dadurch waren sie mit den Häusern regelrecht verwachsen, was im Umgang mit ihnen früher zu Selbstverständlichkeiten geführt hatte, die die zivilen Mitarbeiter heute als schlichtes Ausnutzen verstanden, vielleicht sogar als Unverschämtheit bezeichnet hätten. Die fleißigen Nonnen wurden bei Notfällen schnell herbei gerufen, sie waren einfach immer da, und ohne Murren versahen sie Zusatzschichten. Über ihre Bezahlung, Freizeitgestaltung, gar Urlaub wußte man nichts. Gotteslohn – das war klar, und sonst?

Mit den Jahren hatte sich das Erscheinungsbild in den Krankenhäusern gründlich gewandelt: Voll mitarbeitende Nonnen in Hospitälern sind selten geworden, woran es auch immer liegen mag: an mangelndem Nachwuchs oder an einem anderen Konzept der Krankenhausträger. Die reguläre Arbeit am Patienten wurde nun von zivilen Schwestern geleistet. Die Tätigkeit der Nonnen beschränkte sich auf die Betreuung der Bibliothek als auch auf Besuche bei Schwerstkranken, um ihnen Trost zu spenden. So war auch die Situation in diesem Krankenhaus, in dem ich meine nun Arbeit begonnen hatte.

Schon nach kurzer Zeit war mir jetzt ein weiterer, wesentlicher Unterschied zu den zivilen Schwestern aufgefallen: Während diese regulär in Rente gingen und sich damit ganz aus dem Krankenhaus verabschiedeten, durften die alten Nonnen weiter im Hause wohnen bleiben und versahen, je nach ihren Kräften, weiterhin einfache Betreuungsarbeiten. In diesem Haus gab es inzwischen noch sechs alte Schwestern, die in diesem Sinne tätig waren. Die meiste Zeit des Tages befanden sie sich in ihre obigen Wohnetage, über ihr dortiges Leben gab es nur Mutmaßungen. Wenn sie als Gruppe ab und an auf den unteren Fluren erschienen, war ein gewisser Überraschungseffekt für die Besucher nicht zu verleugnen. Zur Mittagszeit bewegten sie sich als kleine, freundliche Kolonne durchs Haus, besetzten in der Kantine ihren Tisch und nahmen wie alle anderen das Essen ein.

Ich erinnere mich noch gut, als ich das erste Mal mit ihnen gemeinsam im Aufzug des Seitentrakts nach oben fuhr. Es gibt da diesen einen, etwas abgelegenen Fahrstuhl, der für Besucher nicht vorgesehen ist. Wie immer lächelten die Nonnen mir freundlich zu, gemeinsam betraten wir die Kabine. Nachdem ich mein Stockwerk gewählt hatte, zückte eine von ihnen einen kleinen Schlüssel und steckte ihn in ein winziges Schloss, oberhalb der Druckknopfleiste. Bisher war es mir gar nicht aufgefallen. Sofort wurde mir klar, dass sie damit ihren Wohnbereich, die fünfte Etage, ansteuern konnten. Als ich im vierten Stock den Lift verließ und sie mir noch einmal zufrieden zunickten, wurde mir erstmals bewusst, dass sie über ein besonderes Privileg verfügten: Allein über ein geheimnisvolles Reich zu herrschen, zu dem kein normal Sterblicher Zugang hatte.
Später, als ich wieder einmal mit ihnen zusammen in diesem Lift fuhren, scherzte ich, sie seien dem Himmel näher, ja, nicht nur das, er bleibe uns anderen eigentlich verschlossen, mangels Schlüssel. Ihr Lächeln verstärkte sich, die Bemerkung hatte ihnen gefallen. Sogar ein bisschen stolz haben sie geblickt, dann aber sofort abgeschwächt, so sei es nicht, der Himmel stehe für jeden offen.

Im Lauf der Jahre starb eine Nonne nach der anderen. Das untrügliche Vorzeichen war immer der Rollator, den die vorangehende Älteste schob und das nahende Lebensende ankündigte. Wie mit einem Schneepflug bewaffnet bahnte sie sich durch die Menschen den Weg zur Kantine, immer lächelnd trotz der körperlichen Einschränkung, und mit Respektsabstand folgten ihr die anderen. Nach dem Essen zog die kleine Kolonne wieder plaudernd von dannen, bewegte sich ziehharmonikaartig wie eine satte Raupe zurück in ihr Gefilde. Den Abschluss bildete immer Schwester Eufemia, die es mir besonders angetan hatte. Jedes Mal, wenn wir uns begegneten, strahlte sie mich an und winkte mir oft zum Abschied zu.

Mit der Zeit wurde die Schlange der Schwestern immer kürzer, wie ich mit Erschrecken feststellte, wenn man ihnen auf den Fluren wieder begegnete. Ab einem Zeitpunkt gab es im Haus nur noch Schwester Eufemia, die sich aufgrund ihrer nachgelassenen Kräfte immer mühsamer den Weg durch das Haus bahnte. Jetzt schob sie den Rollator und niemand folgte ihr mehr. Und dann kam der Tag, an dem ich sie letztmals traf, im Bettenaufzug. Sie lag auf einer Trage, der Kollege und die Schwester aus der Notfallambulanz hatten den gehetzten Blick. Eufemia aber blickte ruhig, lächelte mir zu, wenngleich der Glanz in den Augen nicht mehr da war. Sie nickte, hob ihre Hand. Irgendwie winkte sie mich heran, ihre Faust umkrampfte etwas. Ich blieb bei ihr, begleitete den Tross auf dem Weg zur Intensivstation. Sie drückte ihre Hand in die meinige.
„Sie wollten es doch immer wissen, Herr Doktor“, sagte sie mit matter Stimme, und ein Stück Metall wanderte in meine Hand. Sie schoben sie durch die Tür, ich blieb zurück.
In meiner Hand lag einer dieser unscheinbaren und doch mächtigen Schlüssel, der Zugang zu ihrem Reich. Er sah ganz normal aus, kein besonderes Kennzeichen, einfach Zeiss-Ikon. Was sollte ich damit? Ich steckte ihn erstmal ein, und über die Arbeit des Tages vergaß ich ihn.

Am nächsten Morgen, nach meinem Nachtdienst, erfuhr ich, das sie gestorben war. Als ich nach der Dienstbesprechung meinen Kittel auszog, da ich überstundenfrei hatte und nach Hause wollte, fiel mir wieder ihr Schlüssel ein. Ich holte ihn aus der Tasche. Er blitzte mich auffordernd an: die Gelegenheit zu nutzen, die verbotene Zone zu betreten. Wozu sonst hätte sie mir den Schlüssel überlassen? Doch warum, existierte dort ein Geheimnis? Oder war es nur ein Zufall, dass ausgerechnet ich meine Neugier befriedigen konnte? Eine seltsame Mischung aus Betroffenheit und Abenteuerlust überkam mich, aber auch das Gefühl, eine letzte Gelegenheit nicht verpassen zu dürfen. Meine Hand schloss sich, und wie von selbst machte ich mich auf den Weg, erreichte den besonderen, abgelegenen Fahrstuhl. Als wenn es so sein sollte begegnete ich zu dieser Zeit niemandem, stand schließlich allein im Aufzug. Die Tür schloss sich, und der Lift blieb auf der Etage, wartete auf meine Anweisungen. Diesmal drückte ich nicht die Tasten. Mit feuchten Fingern benutzte ich den geheimnisvollen Schlüssel, drehte nach links. Es war, als würde man ein Bankfach öffnen, dessen Inhalt unbekannt ist. Sanft setzte sich die Kabine in Bewegung, ohne Zwischenhalt erreichte ich die oberste Etage. Mein Herz klopfte heftig, als die Tür aufglitt.

Ich trat hinaus in einen spärlich beleuchteten Gang, der am Ende auf einen Balkon zulief. Das gleißende Licht der Sonne zeichnete ihn scharf gegen das abgedunkelte Innere ab. Langsam schritt ich voran, es war totenstill. Ich passierte viele Türen mit leeren Namensschildern. Dann kam das Zimmer von Schwester Eufemia. Ich blieb vor ihrer Tür stehen, legte meine Hand auf die Klinke. Über ihrem Namensschild prangte Jesus am Kreuz, er sah mich düster an, doch ich hatte bereits herunter gedrückt, jetzt Aug in Aug mit Gottes Sohn. Wie ertappt hielt ich inne. Nach einer Weile zog ich die Hand zurück, gab die Klinke wieder frei. Dieses Geheimnis musste ihr bleiben.

Ich ging in Richtung Balkon. Die Sonne blendete mich so stark, dass ich zunächst nichts erkennen konnte. Ich kniff die Augen zu, drückte gegen den Knauf der Glastür, schob sie langsam gegen einigen Widerstand auf. Mit einem Mal hatte ich das sichere Gefühl, mein wahres Ziel erreicht zu haben, und als wäre es nur für mich reserviert worden. Mein Blick klärte sich, und ich nahm sie endlich wahr: Auf dem Geländer und auf dem Boden, überall blau-graue Tauben. Sie starrten mich verwundert an, kein Gurren oder Picken, absolut kein Laut war zu hören. In dieser Stille musterten wir uns eine Weile. Dann, wie auf ein Kommando, war es damit vorbei. Sie erhoben sich sich, heftig flügelschlagend, dass die Luft nur so toste, und stiegen immer weiter hinauf. Ich hielt die Hand über die Augen und sah ihnen nach.

Den Schlüssel habe ich danach brav in der Verwaltung abgegeben. Ich gab an, ich hätte ihn gefunden. Das Schloss im Aufzug wurde rasch mit einer Blende versehen, so als gäbe es gar kein fünftes Stockwerk.

Und immer wenn ich heute zum Krankenhaus fahre und vom Parkplatz zum Haupteingang gehe, suche ich den Himmel ab, aber diese blau-grauen Tauben habe ich nie wieder gesehen.
 

mnn

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Lieber Thomas Stefan,
ich finde die Erzählung gut, da sie den Alltag der Nonnen grade heraus und unverkrampft schildert und dabei den Aufzug zum Nonnenreich sehr gut verpackt. Nonnen wohnen im Penthouse! Übertriebene (moralische) Wertungen in dem Sinn, dass es mit der Welt berab geht, weil sich immer weniger Nonnen für den selbstlosen Dienst finden, bleiben zum Glück aus. Die blau-grauen Tauben sollen wohl die (nach der Reise?) verwandelten Schwestern darstellen. Warum übergab Schwester Eufemia den Schlüssel an den Erzähler? Erwartete sie den Tod oder den Doktor?
 

ThomasStefan

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Hallo mnn

Danke für dein Statement.
Natürlich werde ich hier keine Erklärungen abgeben, wäre ja noch schöner. Eine Erzählung die das nötig hat taugt nichts. So ein kleines Geheimnis macht eine Story doch erst interessant.
Gruß zur Nacht, Thomas
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hab ich jetzt schon mehrmals gelesen. Du hast eine unaufgeregte Erzählung geschaffen, die natürlich einige Fragen offenlässt - so soll es sein. Und dies ist auch eine schöne Hommage an pflegende Nonnen, die leider im Krankenhausalltag beinahe verschwunden sind.

LG Doc
 



 
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