Die Stadt aus Pappe

Rainer Lieser

Mitglied
Die Stadt aus Pappe

Victor Sjörgenstedt machte einen Spaziergang durch seine Stadt. Er hatte sie nach sich selbst benannt. Sie hieß also ebenfalls Sjörgenstedt. Obwohl es natürlich schon etwas anmaßend war, Sjörgenstedt als Stadt zu bezeichnen. Das Wörtchen Dorf passte da schon besser. Denn in Sjörgenstedt gab es an jenem Tag nicht mehr als 25 Häuser. Ein weiteres würde erst in einigen Monaten hinzu kommen. So wie jedes Jahr ein weiteres Haus hinzu gekommen war, seit Victor das vor 25 so Jahren beschlossen hatte. Damals war er hier angekommen. Weit weg von der Zivilisation. Er fing an das erste Haus zu bauen, soweit ihm das mit seinen bescheidenen handwerklichen Mitteln eben in jenen Tagen möglich war. Nach der Fertigstellung des Hauses wohnte er ein paar Monate darin. Solange bis er befand, dass er aufgrund seiner während der Bauzeit gemachten Erfahrungen in der Lage wäre, ein besseres Haus zu bauen. Also baute er ein zweites Haus – und nachdem er auch dieses vollendet und darin eine Weile gewohnt hatte, erschien es ihm nur folgerichtig, dass ein drittes Haus noch sehr viel besser ausfallen würde. Danach folgte ein viertes, ein fünftes – und in Kürze eben das 26. Haus.
Wenngleich jedes neue Haus, dem vorangegangenen Bau den Rang als bestmögliches Werk ablief, liebte Victor doch jedes einzelne auf ganz besondere Weise. Er ließ kein einziges verkommen und spielte nie mit dem Gedanken eines der älteren Häuser abzureißen oder zu modernisieren. Jedes Haus stellte für Victor einen zeitgebundenen Entwicklungsstand dar, den es zu erhalten galt, um daraus Lehren für kommende Arbeiten zu ziehen. Er betrachtete Sjörgenstedt als sein ganz individuelles Lebenserfahrungsarchiv.
Für jeden Bau nutzte Victor immer die gleichen Arbeitsmaterialien: Kartons und Kleister. Die gab es hier ebenso in Hülle und Fülle, wie einen schier unerschöpflichen Vorrat an Lebensmitteln und Wasser. Um das Wetter musste sich Victor auch keine Sorgen machen, denn Sjörgenstedt lag in einer Höhle. Einer Höhle von gewaltigen Ausmaßen, so dass Victor hier noch viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte würde weitere Häuser bauen können. Solange es seine Lebensuhr und Gesundheit zuließ.

Nun mag man sich vielleicht fragen, was für ein seltsamer Ort das war, an dem es Kartons, Kleister, Lebensmitteln und Wasser in unbegrenzten Mengen gab. Menschen legten all das hier ab. Immer wieder aufs Neue. Menschen die Victor nie zu Gesicht bekam. Aufseher. Aufseher die verhindern sollten, dass Victor diesen Ort jemals wieder verlassen konnte. Denn würde Victor diesen Ort jemals wieder verlassen, konnte das zu gewaltigen Problemen führen. Immerhin war es ihm schon einmal gelungen, beinahe die gesamte Menschheit in einen alles vernichtenden Krieg zu stürzen. Nur durch die beherzten Taten einiger besonnener Köpfe, war es gelungen Victor zu fangen. Anschließend war es ein leichtes, seine Anhänger und Armeen zu bezwingen. Zuerst hatte man noch befürchtet, die ergebendsten Anhänger würden Victor nach dessen verschwinden zum Märtyrer erklären und seine Ideen noch brutaler umzusetzen versuchen als Victor selbst. Doch als der Vorschlag von General Trochtenheim in die Tat umgesetzt worden war – und die ersten Bilder von Victor Sjörgenstedt um die Welt gingen, in denen der ehemalige Feldherr als weltentrückter Sonderling gezeigt wurde, der seine ganze Erfüllung im Bau von Papphäusern fand –, machte sich niemand mehr ernsthaft Gedanken darüber. Alle Anhänger wandten sich von Victor ab, begaben sich auf die Suche nach neuen Verführern.

Victor Sjörgenstedt indess war sehr glücklich darüber, wie sich alles entwickelt hatte. Genau so hatte er es geplant. Nur die Opfer seiner Gewalttaten taten ihm ein wenig leid. Aber Victor war nun mal kein anderer Weg eingefallen, um am Ende an einen Ort wie diesen hier zu gelangen.
 
U

USch

Gast
Hallo Rainer,
skurrile Geschichte. Schade, dass das mit Hitler so nicht klappte.
Zwei Kleinigkeiten:
Menschen[red],[/red] die Victor nie zu Gesicht bekam. Komma!

würden Victor nach dessen [red][strike]v[/strike][/red][blue]V[/blue]erschwinden zum Märtyrer.. Groß schreiben.

Ich würde auch noch etwas mehr Absätze hineinbringen.
LG USch
 

Rainer Lieser

Mitglied
Die Stadt aus Pappe



Victor Sjörgenstedt machte einen Spaziergang durch seine Stadt. Er hatte sie nach sich selbst benannt. Sie hieß also ebenfalls Sjörgenstedt. Obwohl es natürlich schon etwas anmaßend war, Sjörgenstedt als Stadt zu bezeichnen. Das Wörtchen Dorf passte da schon besser. Denn in Sjörgenstedt gab es an jenem Tag nicht mehr als 25 Häuser. Ein weiteres würde erst in einigen Monaten hinzu kommen. So wie jedes Jahr ein weiteres Haus hinzu gekommen war, seit Victor das vor 25 so Jahren beschlossen hatte. Damals war er hier angekommen. Weit weg von der Zivilisation. Er fing an das erste Haus zu bauen, soweit ihm das mit seinen bescheidenen handwerklichen Mitteln eben in jenen Tagen möglich war. Nach der Fertigstellung des Hauses wohnte er ein paar Monate darin. Solange bis er befand, dass er aufgrund seiner während der Bauzeit gemachten Erfahrungen in der Lage wäre, ein besseres Haus zu bauen. Also baute er ein zweites Haus – und nachdem er auch dieses vollendet und darin eine Weile gewohnt hatte, erschien es ihm nur folgerichtig, dass ein drittes Haus noch sehr viel besser ausfallen würde. Danach folgte ein viertes, ein fünftes – und in Kürze eben das 26. Haus.

Wenngleich jedes neue Haus, dem vorangegangenen Bau den Rang als bestmögliches Werk ablief, liebte Victor doch jedes einzelne auf ganz besondere Weise. Er ließ kein einziges verkommen und spielte nie mit dem Gedanken eines der älteren Häuser abzureißen oder zu modernisieren. Jedes Haus stellte für Victor einen zeitgebundenen Entwicklungsstand dar, den es zu erhalten galt, um daraus Lehren für kommende Arbeiten zu ziehen. Er betrachtete Sjörgenstedt als sein ganz individuelles Lebenserfahrungsarchiv.

Für jeden Bau nutzte Victor immer die gleichen Arbeitsmaterialien: Kartons und Kleister. Die gab es hier ebenso in Hülle und Fülle, wie einen schier unerschöpflichen Vorrat an Lebensmitteln und Wasser. Um das Wetter musste sich Victor auch keine Sorgen machen, denn Sjörgenstedt lag in einer Höhle. Einer Höhle von gewaltigen Ausmaßen, so dass Victor hier noch viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte würde weitere Häuser bauen können. Solange es seine Lebensuhr und Gesundheit zuließ. 



Nun mag man sich vielleicht fragen, was für ein seltsamer Ort das war, an dem es Kartons, Kleister, Lebensmitteln und Wasser in unbegrenzten Mengen gab. Menschen legten all das hier ab. Immer wieder aufs Neue. Menschen, die Victor nie zu Gesicht bekam. Aufseher. Aufseher die verhindern sollten, dass Victor diesen Ort jemals wieder verlassen konnte. Denn würde Victor diesen Ort jemals wieder verlassen, konnte das zu gewaltigen Problemen führen. Immerhin war es ihm schon einmal gelungen, beinahe die gesamte Menschheit in einen alles vernichtenden Krieg zu stürzen. Nur durch die beherzten Taten einiger besonnener Köpfe, war es gelungen Victor zu fangen. Anschließend war es ein leichtes, seine Anhänger und Armeen zu bezwingen.

Zuerst hatte man noch befürchtet, die ergebendsten Anhänger würden Victor nach dessen Verschwinden zum Märtyrer erklären und seine Ideen noch brutaler umzusetzen versuchen als Victor selbst. Doch als der Vorschlag von General Trochtenheim in die Tat umgesetzt worden war – und die ersten Bilder von Victor Sjörgenstedt um die Welt gingen, in denen der ehemalige Feldherr als weltentrückter Sonderling gezeigt wurde, der seine ganze Erfüllung im Bau von Papphäusern fand –, machte sich niemand mehr ernsthaft Gedanken darüber. Alle Anhänger wandten sich von Victor ab, begaben sich auf die Suche nach neuen Verführern. 



Victor Sjörgenstedt indess war sehr glücklich darüber, wie sich alles entwickelt hatte. Genau so hatte er es geplant. Nur die Opfer seiner Gewalttaten taten ihm ein wenig leid. Aber Victor war nun mal kein anderer Weg eingefallen, um am Ende an einen Ort wie diesen hier zu gelangen.
 



 
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