Die Sternenfrau

dommas

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Die Sternenfrau

Das kleine Mädchen sah den Fremden verwundert an. Er saß jetzt schon die dritte Nacht in Folge auf dem kleinen Bänkchen neben dem Torbogen und starrte in den klaren Sternenhimmel.
‚Heute spreche ich ihn an‘, sagte sie sich, faßte sich ein Herz und ging auf den Fremden zu. Er saß da, in einen dicken Wollmantel gehüllt, um sich gegen die Kälte zu schützen, den Kopf an die Mauer gelehnt, den Blick gen Himmel gerichtet.
„Hallo!“ Ihre Worte klangen unnatürlich laut nach der vorangegangenen, fast vollkommenen Stille. Er schrak zusammen. Dann geschah lange nichts, er blickte sie nur an.
„Hallo auch dir.“, erwiderte er mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme. Alt war er ja nicht, zumindest sah er irgendwie alterslos aus. Nur seine Augen - in ihnen schien das Wissen der ganzen Welt vereint. Er lächelte. Weiße Zähne blitzten sie in der Dunkelheit an.
„Was tust du hier?“, wollte das kleine Mädchen wissen.
„Ich warte auf die Sternenfrau.“, erklärte ihr der Fremde. „Aber setz’ dich doch erst einmal.“ Sie tat wie ihr geheißen.
„Wer ist die Sternenfrau?", wollte sie wissen.
„Die Sternenfrau? Hmm, wenn ich das wüßte. Vor vielen, vielen Jahren, ich zog gerade ganz alleine durch die Wüste, habe ich sie das letzte Mal gesehen. Ich hatte kaum noch etwas zu trinken und rief ihr zu, sie solle mir Gesellschaft leisten. Doch sie schien mich nicht gehört zu haben und zog in ihrem schnellen Gespann über mich hinweg in die Welt. Nur das hier, das hat sie verloren.“ Mit diesen Worten zog er einen kleinen, goldenen Stein aus seiner Manteltasche und hielt ihn mit zitternden Händen dem Mädchen entgegen. Sie sah den Stein an, nahm ihn in die Hand und war erstaunt, wie warm und weich er doch war.
Jedoch sobald der Mann den Stein aus der Hand gegeben hatte, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. Seine vormals straffe Haut erschlaffte, Falten bildeten sich, das schwarze Haar war plötzlich von weißen Strähnen durchzogen.
Das Mädchen bemerkte dies und gab dem Mann den Stein zurück. Seine Augen, allwissend, zeugten von großer Dankbarkeit.
„Heute oder morgen nacht. Da wird sie kommen.“ Das Mädchen wurde auf einmal von einer Welle der Traurigkeit erfaßt. Er bemerkte, wie ihre Augen glasig wurden.
„Weinen mußt du nicht. Ich freue mich, zu ihr in den Schlitten zu steigen. Du glaubst gar nicht, wie lange ich schon darauf warte.“
Sie sah, daß er wieder sehnsüchtig zum Himmel aufblickte.
„Ich hoffe, daß sie noch heute nacht zu dir kommt.“, meinte sie. Er nickte ihr bloß zu.
Sie wandte sich um, damit er ihre wäßrigen Augen nicht mehr bemerkte, und ging.

Am nächsten Abend kam sie wieder an dem Torbogen und dem Bänkchen vorbei, doch der Fremde war weg. Sie bemerkte jedoch, daß unter dem Bänkchen etwas hervorblitzte, bückte sich und hob den goldenen Stein auf, der dort wie zufällig lag.
Mit dem Stein in der Hand schritt sie zu dem Hügel vor der Stadt, bestieg diesen und legte den Stein dort auf den höchsten Punkt. Das letzte Tageslicht, das hinter dem Horizont hervorlugte, spiegelte sich in der blankpolierten Oberfläche des Steines und warf einen goldenen Schimmer auf ihr Gesicht.
Daraufhin sah sie nach oben - zu den Sternen, die der Sonne bereits den Kampf angesagt hatten -und flüsterte: „Den hast du vergessen!“

by dommas
 
L

leonie

Gast
hallo dommas

Ein schönes Märchen, das hat mir sehr gut gefallen. Wer ewig leben will, sollte auch daran denken, daß " Ewig " eine zu lage Zeit sein könnte.
liebe grüße leonie
 



 
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