Die Tangotänzerin

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Nina Trebesi

Mitglied
Haydée war in einem Alter, in dem sich andere Menschen getrost zur Ruhe setzten, weil ihr Schaffen und Streben konkrete Ergebnisse hervorgebracht hatte: Söhne, Töchter, vielleicht sogar Enkel. Ein Haus und so weiter. Von Haydées ereignisreichem Leben blieb einzig ein Schrank voller heruntergetanzter Schuhe und Bühnenkleider, die nie aus der Mode kamen. Am schlichten Schnitt und langen Schlitz der Tangokleider hatte sich bis heute nichts geändert.
Doch selbst ohne konkrete Ergebnisse war auch Haydées Leben ruhig geworden. Ihre Tage liefen immer gleich ab. Sie stand gegen Mittag auf, füllte die alte Blechwanne, die mitten im Raum thronte, mit heißem Wasser und lag inmitten von Schaumbergen bis das Wasser zu kühl geworden war.
Kurz darauf saß sie schon an ihrem Stammplatz im Café gegenüber und blies dem spiegelnden Pfeiler eine Rauchwolke entgegen. Ihr vom Rauch umhülltes Spiegelbild schien ohne Alter. Ein ovales Madonnengesicht, die schwarzen Haare zurückgesteckt. Der Rauch verflüchtigte sich, die entstehende Leere füllte Haydée mit neuem Rauch. Schaum oder Rauch: sie brauchte immer etwas, um die scharfen Linien der Realität zu mildern.

Haydées große Liebe trug einen Namen, der zu ihr und zur „großen Liebe“ passte: Leo Romanski. Er war vor 30 Jahren aus ihrem konkreten Leben verschwunden, aber gerade auf die konkrete Realität gab sie ja nicht viel. In ihrem Herzen war Leo lebendiger, als er es vielleicht in Wirklichkeit war. In jener kruden Wirklichkeit, in der Männer Anfang 60 Pantoffeln tragen, Unkraut jäten und auf die Pensionierung warten.

In ihrem Herzen hatte er unlängst sogar noch an Lebendigkeit gewonnen, als Haydée eine bezaubernde junge Frau kennen gelernt hatte, deren dunkler und zugleich glanzvoller Blick, die schelmischen Grübchen und die grazilen Bewegungen sie lebhaft an Leo erinnerten. Anna war eines Tages in Haydées Stammcafé aufgetaucht, und Haydée hatte sofort gewusst: eine solche Schönheit konnte nur Leos Tochter sein.
Derartige Intuitionen gehörten zu Haydées Leben. Schon immer hatte sie jenen Siebten Sinn gehegt und gepflegt, der Erkenntnisse dieser Art möglich machte.
Kompromisslos hatte sie ihren Müßiggang gegen den allgegenwärtigen Stress verteidigt, es geschafft, dass nie ein hektischer Alltag die Poesie ihres Lebens zerstören konnte. Deshalb zog sie romanhafte Ereignisse an wie ein Magnet. Ihr ganzes Leben war ein Roman.
Nur Leo hatte sich geweigert, im Roman mitzuspielen. Manchmal hatten sie gemeinsam geträumt: er würde seine Frau verlassen. Nicht auf die banale Art: nein, er würde etwa im Gebirge „verunglücken“, sie würden sich dann nach Argentinien absetzen, er würde ein zweites Leben beginnen. Als Eduardo Arrojo, der Name stand schon fest.

Haydée blies ihrem Spiegelbild eine neue Rauchwolke entgegen und versuchte, in ihrem Gesicht Spuren jener Eifersucht zu erkennen, die sie damals vor 30 Jahren ganz rasend gemacht hatte. Die Eifersucht auf die damals drei Jahre alte Anna, der sie nie begegnet war. Eine rätselhafte Rivalin, an die sie niemals heranreichen würde und die alles verhindert hatte: dass Leo Romanski in den Bergen verunglückte und zu Eduardo Arrojo wurde, dass er an Haydées Seite blieb, mit ihr durchs Leben ging, mit ihr verschmolz.

Eine zarte Berührung auf ihrer Schulter ließ Haydée aus ihren Erinnerungen schrecken. Haydée nahm Annas Hand in die ihre und betrachtete ihre beiden Gesichter in dem spiegelnden Pfeiler.
„Anna! Wissen Sie, dass ich Ihre Mutter sein könnte“, sagte sie zu den beiden Spiegelbildern.
Anna lachte unbekümmert und sagte: „Zum Glück sind Sie es nicht! Ich bin eine unmögliche Tochter.“
Haydée drehte sich zu Anna hin, ohne ihre Hand loszulassen und fragte liebevoll: „Denken das Ihre Eltern auch?“
„Meine Mutter wahrscheinlich schon. Und mein Vater ist vor langer Zeit gestorben.“
„Ach!“ Haydées spürte, wie ihr Herz wild zu klopfen begann.
„Er ist in den Bergen verunglückt. Als ich drei Jahre alt war.“
„Wie furchtbar.“ Verwirrt wischte sich Haydée ein paar Tränen aus den Augen. Sie presste Annas Hand. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Anna war Leo Romanskis Tochter.
„Haydée, was ist los!“ rief Anna erstaunt. „Wissen Sie, das ist so lange her. Für mich ist es längst ganz normal… keinen Vater mehr zu haben.“
Keinen Vater zu haben! Hatte er es ihretwegen getan? Um sie zu suchen, nachdem sie damals - so abrupt wie es ihre Art war - aus seinem Leben verschwunden war? Oder war es wegen einer anderen? Oder war er wirklich verunglückt?
Was auch immer damals passiert war: Sie war schuld, mit ihren Hirngespinsten, mit ihren Fantasien vom neuen Leben mit Eduardo Arrojo… Sie hatte diesen Gedanken geboren, dem später Ereignisse gefolgt waren. Welche Ereignisse? Das würde niemand mehr nachprüfen können.

Mit einem Mal sah sie ganz klar, warum Anna in ihr Leben getreten war: damit sie ihre Schuld wieder gut machen konnte. Ihr wie eine zweite Mutter sein, ihr das mitgeben, was sie erfahren und erkannt hatte. Wie sehr hatte sie sich immer eine Tochter gewünscht! Nun war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
Haydée tupfte sich die verschmierte Wimperntusche aus dem Gesicht und wandte Anna ein strahlendes Lächeln zu. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, weich und süß empfand sie es in der Herz- und Magengegend, bis hinunter zu den Eingeweiden. Als sei ihr ganzer Körper mit Nougatmasse gefüllt: So fühlte sich also Mutterliebe an.
„Heute Abend zeige ich Ihnen, wie man Tango tanzt.“ Das war eigentlich so ziemlich alles, was sie Anna zeigen konnte. Statt sie traurig zu stimmen, erheiterte sie dieser Gedanke.
Schwungvoll schrieb sie die Adresse des Tangolokals auf einen alten Briefumschlag und blickte zärtlich der grazilen Gestalt nach, die sich zwischen den Tischen einen Weg nach draußen bahnte.

Das Mutterglücks-Gefühl verließ sie den ganzen Nachmittag nicht, als sie am Seine-Ufer entlang schlenderte und sich darüber klar wurde, wie viel sie doch in Wirklichkeit Anna zu geben hatte: War nicht ihr ganzes Leben ein Aufruf, eine Ermutigung… zu was? Ja, dazu, seinen Weg zu wählen, ihn bis zu Ende zu gehen, und nicht mit spätestens 25 das zuvor mit so viel Stolz verteidigte Bohème-Dasein aufzugeben, um ab dann jeden Morgen in ein Büro zu gehen, an jedem Monatsende dafür bezahlt zu werden, dass man sich von einem Chef erniedrigen ließ… Haydée war in Fahrt geraten, sie hatte ihren Schritt beschleunigt und erstaunte die ihr entgegen kommenden Spaziergänger dadurch, dass sie lautlos die Lippen bewegte und ihre stumme Rede mit energischen Handbewegungen begleitete.
Ihre Gesten wurden immer lebhafter, ihre Arme wurden zu Flügeln, es fehlte nicht viel, und sie hätte sich in die Luft geschwungen, so leicht und glücklich fühlte sie sich. Ja, sie war frei, sie hatte keinen Chef und keinen Ehemann, ihre Liebesgeschichten dauerten heute nicht mehr länger als die drei Minuten eines Tangos: Sie hatten keine Zeit, die Poesie und die Intensität aller Anfänge zu verlieren. Nie in ihrem Leben hatte sie Windeln gewechselt oder Hemden gebügelt, nie hatte sie den Wecker stellen müssen. Sie war frei, aber in keinem Augenblick einsam: sie brauchte nur einen Tango aufzulegen und schon waren sie da: Leo Romanski, Eduardo Arrojo und wie sie alle hießen.

An diesem Abend holte Haydée alle Bühnenkleider aus dem Schrank und breitete sie über ihr großes, ausladendes Bett. In diesem Moment war sie sicher: Eduardo Arrojo lebte und suchte sie. Sie zog sich das dunkelrote Kleid über, in dem er sie kennen gelernt hatte.
Lange stand sie vor dem großen Wandspiegel. Umwölkt vom Rauch ihrer Zigarette sah sie aus, wie damals, auf dem Foto, das Leo in der Garderobe von ihr gemacht hatte, nach ihrem großen Auftritt. Und Leo? Ob seine Haare spärlicher geworden waren? Ob er voller geworden war? Einen Alt-Herren-Bauch bekommen hatte? Sie zündete sich eine neue Zigarette an, regungslos stand sie da und blies sich Rauchwolken entgegen.
Und mit jeder Rauchwolke wurde ihr klarer: Eduardo Arrojo durfte sie auf keinen Fall finden.


P.S. (gehört nicht zur Geschichte)
Das ist die Haydée aus "Spiegelschrift" (in der Rubrik: Erzählungen). Sie schien mir in "Spiegelschrift" zu verschwommen zu sein, darum habe ich versucht, eine kleine Geschichte nur über sie zu schreiben. Nun ist mir klarer, wer Haydée ist, welche Motivationen sie bewegen.
 
D

Daniel Mylow

Gast
Hallo Nina,
deine Geschichte hat mir gefallen, gelesen habe ich sie vor allem wegen des Titels. Ich habe gerade ein Buch mit Tangoerzählungen veröffentlicht und alles was mit Tango zusammenhängt, zieht mich magisch an. Ich finde, du hast die Atmosphäre, vor allem das Nostalgische und das Moment der Kraft der Erinnerung im und durch den Tango schön rübergebracht- manchmal schien mir ein wenig zu viel erklärt, schöner ist es aus dem Erzählen heraus zu erklären, wenn jemand schreiben kann, verstehen wir ihn auch so. Ansonsten danke für diese Geschichte. Liebe Grüße, Daniel
 



 
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