Die Tanne

Rakun

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Die Tanne

“Hilfe!”, wollte sie schreien, als fremde Männer auf sie zukamen. Warum musste sie alles stumm erleiden? Mit letzter Kraft wehrte sie sich. Erfolglos, sie verlor den Boden unter den Füßen. Endgültig. Schmerz und Verzweiflung gleichzeitig. Erdmutter Demeter nahm sich ihrer Wehrlosigkeit an, befahl eine befreiende Ohnmacht. So spürte sie nicht, wie man sie verschnürte, in Netze verpackte, auf den Tieflader hievte.

Farbenprächtiger Schein aus dem Großstadtlichtermeer reflektierte Gleichgültigkeit und Egoismus, ließ nichts ahnen von Dankbarkeit für das Jahr, das sich zu Ende neigte. Schnee lag in der Luft. Er beschwört Erinnerungen herauf, weckt verschüttetes Verlangen. Wir gehören zusammen! Einmal im Jahr! Meteorologen wetteifern, die ersehnte weiße Pracht zuerst zu verkünden. Schnee deckt trauernde Seelen zu, dämpft eigensinniges Voran- kommen. Schnee als erfüllte Prognose für kommerzielle Superlative. Schnee hüllt alles in natürliche Stille, verschluckt überflüssige Geräusche. Er verleiht das Gefühl, das verloren gegangen ist, erschwert Betriebsamkeit, türmt sich auf zu unüberwindlichen Mauern, zwingt den Menschen zur Bedächtigkeit. Er stürzt Berge hinunter, ergießt sich als Tod bringende Lawinen ins Tal. Mit seinem Schmelzen schenkt er erwachendem Leben eine neue Chance.

Die applaudierende Menschenmenge hatte sich an diesem Abend versammelt, schaute andächtig nach oben, bestaunte die riesige Tanne. Von weit her hatte man sie geholt. Ihrer Heimat beraubt, abgeschlagen stand sie aufrecht und stolz als pompöser Weihnachtsbaum mitten auf dem großen Platz.
Festlich geschmückt, festgezurrt an Stahlseilen verankert. Sie konnte die Bewunderung nicht verstehen, wartete entwurzelt auf ihr Schicksal.
Die Waldgöttin erhörte ihr Flehen, rächte das menschliche Vergehen, erlaubte der Tanne ins Unermessliche zu wachsen, bis in die verborgensten Tiefen des Universums. Dort fand sie Halt. Die Herrscher des Himmels schickten starken Wind. Die Engelsspitze stürzte zu Boden und zerbrach. Wütend schüttelte die Tanne nutzlosen Weihnachtsschmuck ab.
Die schwer beladenen Wolken wurden nach unten gedrückt, bis an die Spitze eines blinkenden Warnlichtes für Flugzeuge. Legten sich sanft um das rote Leuchtsignal, verhüllten es, gaben es nicht mehr frei. Es wurde unsichtbar.

Mitleid und Erbarmen fielen plötzlich in unzähligen kalten Winterkristallen auf die Erde, kokettierten mit dem Lichtschein, tanzten auf grünen Nadeln. Verwandelten die Tanne mit einer undurchdringbaren Schneeschicht in einen überdimensionalen weißen Kegel. Bedrohlichkeit breitete sich aus. Vereinzelte Schneeflocken trafen warme Lippen, schlüpften in offene Münder, vermischten sich mit dem Lied: Stille Nacht, heilige Nacht. Ein plötzlicher Sog riss die Tanne aus ihren Verankerungen. Senkrecht schoss sie in den Himmel, warf den schützenden Schneemantel ab und begrub die Menschenmenge unter ihrer weißen, kalten, nassen Last.
 
H

HFleiss

Gast
Naja, selten so gelacht. Die Philosophie der Weihnachtstanne, sogar Erdmutter Demeter wird bemüht. Was einem doch so für Gedanken kommen in der lieblichen Weihnachtszeit.

Gruß
Hanna
 



 
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