Die Tante

jane-schubat

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Die Tante

„Begreifst du das nicht. Sie ist Papas Frau. Sieh dir den Namen an.“
Triumphierend tippte der Bruder auf das Klingelschild.
„Nein, du lügst.“ Empörte sich das kleine Mädchen.
„Sie ist Tante Irene, und Mama ist Papas Frau.“
„Hast du dir mal überlegt, warum Papa bei ihr lebt und nicht bei uns?“
baute sich ihr Bruder jetzt vor ihr auf.
„Deshalb gehe ich nicht mehr mit. Es ist das letzte mal heute.“ Tönte er.
Unzufrieden runzelte das kleine Mädchen die Augenbrauen. Es fühlte sich zunehmend überfordert angesichts der hingeschmetterten Wahrheit, die keinen Sinn zu ergeben schien. Mama und Papa waren immer Frau und Mann. Und eine Tante gehörte eben dazu als Tante. Sie hatte Domi, den Dompfaff, der immer so niedlich unter dem Wasserhahn planschte, und sie besaß die braun-weiß gefleckte Terrierhündin Anka, mit der man auf dem Hof herumtollen konnte. Nein, es ergab keinen Sinn, daß Papa Tante Irenes Mann war. Und es ergab auch keinen Sinn, daß ihr Bruder jetzt plötzlich so trotzig vor ihr stand.
„Ich will zu Tante Irene.“ Erklärte das kleine Mädchen bestimmt und schob den großen Bruder beiseite.
Mehr Erinnerungen an diesen Augenblick hat Lena nicht , als sie jetzt vor dem Grab von der Tante steht. Es bedarf meist erst Jahre der Reife, ehe die ersten Fragen aus Erwachsenensicht gestellt werden. Nicht daß Lena als Kind nicht irgendwann verstanden hätte, daß Tante Irene eigentlich Papas Frau war. Auch als Papa seine erste Frau verließ, um endgültig zu ihnen zu ziehen, war es nicht der Verstand, dem dieses Ereignis nicht zugänglich gewesen wäre. Was fehlte, war der emotionale Bezug. Tante Irene wurde zum Bild schöner Kindheitserinnerungen, nachdem der Vater zu seinen Kindern gezogen war. Und der Alltag hat die Tante dann aus dem Bewußtsein der Familie verdrängt, wo sie erst bedingt durch ihren frühen Tod zeitweise wieder auftauchte.
Tod durch Herzschlag hatten die Ärzte bei ihr diagnostiziert. Und plötzlich stand Lena gemeinsam mit ihrem Vater wieder in der altvertrauten Wohnung, in der sich seit ihrem Wegbleiben nicht viel zu verändert haben schien. Der feiste buntangemalte Porzellanbuddha hockte noch immer auf der Kommode und starrte Lena durchgeistigt an. Und in der Schale aus Bleikristall auf dem ovalen Beistelltischen am Fenster lagen die Konfektstückchen, mit denen das kleine Mädchen bei ihren Besuchen immer großzügig versorgt worden war. Lena sah sich hilfesuchend nach ihrem Vater um. Aber der Mann, der ihr Vater war, zu dem sie jedoch aus den verschiedensten Gründen nie einen innigen Kontakt hatte aufbauen können, blieb stumm. Und so tauchten bei Lena nur die eigenen Erinnerungen an Tante Irene auf. Wie sie füllig und lächelnd auf dem Plüschsofa saß. Und das kleine Mädchen kramte begeistert in Schränken und Truhen herum. „Sieh mal Tante Irene, was ich hier gefunden habe. Darf ich das für Mama mitnehmen?“ Es war eine wunderschöne Stola, die da aus einer Schublade zum Vorschein gekommen war.
„Und das ist das Zimmer deines Vaters.“ Hatte Tante Irene dem kleinen Mädchen irgendwann einmal stolz erklärt, als dieses das erste mal bei ihr übernachten durfte.“ Doch der Vater war damals nicht zugegen gewesen. Er lebte gerade mal wieder bei seinen Kindern und deren Mutter. Dort hatte er kein eigenes Zimmer. Und das kleine Mädchen war begeistert, daß ihr Vater ein so wunderschönes Zimmer besaß, in dem überall an den Wänden alte Photographien hingen..
Lena schreckte auf. Hier am Grab von Tante Irene empfindet sie plötzlich Haß gegenüber ihrem Vater, der sich zwischen den beiden Frauen jahrzehntelang nicht hatte entscheiden können. Und als sie gefallen war, die Entscheidung – endgültig und für immer – war Lena bereits ein junges Mädchen gewesen, die ihren Vater zunehmend als Eindringling empfand. Und Lena dachte auch über ihre Mutter nach, die ihrem Empfinden nach eine wesentlich bessere Lebensentscheidung hätte treffen können, als einen Mann zu lieben, der eigentlich sein Leben nie wirklich mit jemandem geteilt hatte, der neben den beiden Frauen, bei denen er abwechselnd wohnte, immer stur für sich geblieben war. Vielleicht befähigte ihn das dazu, eine endgültige Entscheidung immer wieder aufzuschieben.
Die Mutter hatte geduldet, daß ihre Kinder zu der fremden Frau gingen, und Tante Irene hatte erduldet. Wie anders sollte sich Lena das Verhältnis beider Frauen zueinander vorstellen, die nie im Leben ein Wort miteinander gewechselt hatten, aber in stummer Übereinkunft den Mann teilten, Lenas Vater. So sehr Lena auch ihre Mutter liebte, hier am Grab schlug ihr Herz für Tante Irene, die Verlassene und Alleingelassene, die nie wieder geheiratet hatte.
Beide Frauen auf ihre Art waren lebenslustig gewesen, aber keine von beiden war fähig dem Mann den Rücken zu kehren, der sie in solche ungeklärten Verhältnisse verstrickt hatte. Später dann, als der Vater gestorben war und die Mutter ihn neben seiner ersten Frau beigesetzt hatte, pflegte sie zu sagen, daß dies sein eigentlicher Platz gewesen wäre und nur Gott allein wüßte, warum er immer wieder bei ihr aufgetaucht war. Lena hatte der Mutter nie wirklich verübeln können, daß sie nicht die Kraft aufgebracht hatte, sich von dem Vater ihrer Kinder zu trennen. Aber Lena war unglücklich, was ihre eigenen Beziehungen zu Männern betraf. Denn als hätte sie die Unschlüssigkeit ihres Vaters in Beziehungsfragen geerbt, war sie bisher aus jeder Beziehung immer wieder ausgebrochen. Und so steht sie nun an diesem feuchtkalten Novembertag an Tante Irenes Grab, um Fragen zu stellen, die vielleicht längst fällig gewesen wären, wollte sie begreifen, was Beziehungen so kompliziert werden läßt, wenn Menschen sich entschließen, den Abstand voneinander zu verringern oder schließlich ganz aufzugeben. Was mochte Tante Irene gefühlt haben, wenn Lena als kleines Mädchen gänzlich unbeschwert und munter bei ihr aufgetaucht war, um einen ihrer wunderschönen Nachmittage bei der Tante zu verbringen. Und was hatte die Mutter empfunden, wenn das kleine Mädchen begeistert von ihren Ausflügen zurückkehrte und erzählte. Lena sieht noch heute den traurigen Blick ihrer Mutter als sie sie aufforderte, doch einmal mit ihr gemeinsam zu Tante Irene zu gehen. Die hätte einen schönen Gruß bestellt und sich das auch gewünscht. Aber die Mutter hatte nur traurig abgewinkt, dazu fehle ihr die Zeit. Und nun wirft Lena einen ersten Blick auch auf das nebenliegende Grab ihres Vaters. Noch heute mit ihren über achtzig Jahren pflegt die Mutter beide Gräber, aber nie redet sie mit Lena über das, was sie aus der Vergangenheit heraus noch immer schmerzt. Sie reden viel miteinander, Lena und ihre Mutter, aber aus irgendeinem unsichtbaren Grund heraus können sie es beide nicht. Sie können beide nicht miteinander über das reden, was sie tief im Innern am meisten schmerzt. Und da es weniger mangelndes Vertrauen als irgendeine Art von Scheu ist, sich dem anderen zu offenbaren, bleibt den Frauen nur das Schweigen. Lena allerdings hat vielleicht die letzten Jahre gelernt, sich anderen gegenüber etwas mehr zu öffnen. Nur was sie bis heute nicht weiß, mit welchem Teil ihrer Selbst sie befähigt ist sich zu identifizieren. So daß nichts mehr schmerzt angesichts der vielen ungelebten Möglichkeiten in ihrer Person.
 



 
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