Die Tippse und ihr Chef

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Tippse und ihr Chef
(ziemlich authentisch)

Die Kirchturmuhr hatte gerade zweimal geschlagen, als sich im 1. Stock des Rathauses ein Fenster öffnete. Im Rahmen erschien der Rumpf eines Mannes, dessen Gesicht die Farbe einer nahezu voll ausgereiften Tomate besaß. Während er sich eine schweißfeuchte Strähne seines rotblonden Haares aus der Stirn strich, schaute er hinunter auf den kleinen holprigen Marktplatz, wo das ohnehin etwas phlegmatische Treiben zwischen den Verkaufsbuden allmählich abzuebben begann. Dieses betuliche Kleinstadtbild konfrontierte ihn erneut mit der Tatsache, daß heute Freitag war und die meisten städtischen Angestellten dank Gleitzeit längst ihr Wochenende begonnen hatten. Und ausgerechnet er, Stadtkämmerer Gottfried Säckel, blieb an sein Arbeitszimmer gefesselt, nur weil er diesen höchst unangenehmen Bericht unbedingt heute noch vorlegen mußte.

Langsam hob er den Kopf, und seine wäßrig blauen Augen bekamen einen melancholischen Glanz, als sie sich ihr Blick hinter der buckligen Ansammlung roter und grauer Dächer verlor. Irgendwo dort hinten wußte er sein kleines Wochenendhaus. Vor wenigen Jahren preiswert erstanden und liebevoll aufgepeppt, war es zu einem bestimmenden Faktor seines Daseins geworden.
‚In spätestens einer Stunde wird Margot die Kaffeemaschine in Gang setzen. Ich muß sie unbedingt anrufen und ihr sagen, daß es später wird', dachte er.

Schuld an der Misere waren einige Stadtverordnete, die ihm unbedingt etwas am Zeug flicken wollten. Saubande! Er würde ihnen eine gehörige Abfuhr erteilen. Bereits heute früh hatte er sich schlagkräftige Argumente zu seiner Rechtfertigung einfallen lassen. Aber wo waren sie auf einmal hin? Verdammt. In seinem Kopf spürte er nur einen einzigen Strudel, der ihm den berühmten roten Faden immer wieder entriß.
Schwer stützte er sich auf das Fensterbrett, weitete den schmächtigen Brustkorb und atmete tief wie durch. Doch auch mittels gesteigerter Sauerstoffzufuhr wollte es ihm nicht gelingen, seine Gehirnzellen neu zu motivieren. Als auch nach dreimaligem Pumpen das Chaos in seinem Kopf immer noch keine Anstalten machte, sich endlich zu ordnen, hätte er am liebsten tief aufgeseufzt. Doch ein Chef seufzt nicht in Gegenwart seiner Sekretärin.

Diese saß keine vier Schritte von ihm entfernt an dem stabilen Konferenztisch und zählte gedankenverloren die Blätter an dem monströsen Gummibaum, der mindestens ein Sechstel des tristen Arbeitszimmers für sich beanspruchte. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich ihr Chef in nunmehr wilder Entschlossenheit vom Fensterbrett abstieß, mit hastigen Schritten zum Schreibtisch zurück kehrte und sich in dem klobigen Sessel fallen ließ.
"Furchtbar, diese Hitze", stöhnte er theatralisch und fuhr mit zwei Fingern über die verschwitzte Innenseite seines Kragens. "Macht ihnen das gar nichts aus, Fräulein Redlich?"
Ellen Redlich unterbrach ihre Blattzählung, hob den Kopf und schüttelte ruckartig ihr langes schwarzes Haar nach hinten. Eigentlich haßte sie es, wenn er sie "Fräulein" nannte. Schließlich war sie 28 Jahre alt und befand sich in festen Händen. Ihr fehlender Trauschein berechtigte diesen mickrigen Zahlenverdreher noch lange nicht, sie immer und überall so anzureden. Außerdem verkörperte sie alles andere, als das, was man landläufig unter einem Mauerblümchen verstand. Aber heute war nicht der Tag, an dem Säckel sie aus ihrer gelösten Heiterkeit zu bringen vermochte. Sie straffte ihren Oberkörper, brachte ihren beachtlichen Busen in "Hab-Acht-Stellung" und grinste ihren Boß fröhlich an.
"Also, wo waren wir stehen geblieben?" Säckel fügte den Furchen auf seiner Stirn noch ein paar Kunstfalten hinzu.
"Stehen geblieben? Am Fenster!" gluckste sie und freute sich über die Veränderung in seinem Gesicht. Erst war da ein völlig verständnisloser Blick, dann erreichten die Augenbrauen fast den spärlichen Haaransatz, ehe sich schließlich die Mundwinkel äußerst ungnädig verzogen.
"Ich verbitte mir solch dumme Bemerkungen! Wir haben ernsthaft zu arbeiten!" fauchte er und maß sie mit einem giftigen Blick.
"Entschuldigung", sagte sie betont artig. und griff eilig nach dem Stenoblock. Doch in ihren Augen saß immer noch eine ungewohnt aufmüpfige Fröhlichkeit.
"Den letzten Absatz!" bellte er.
Während sie vorlas, was er sich bereits in der vergangenen Stunde mühsam abgerungen hatte, schien es fast, als würde sich der Nebel hinter Säckels Stirn ein wenig lichten.
"Schreiben sie!" sagte er hastig, als hätte er Furcht, sein Gedankengang könne sich sofort wieder verflüchtigen.
"Unter Bezugnahme auf Vorgenanntes, kann ich feststellen, daß hinsichtlich der speziell für die sächlichen Kosten, die die Ausstattung mit Büromöbeln betreffen, die Verantwortung für die Überziehung von gegenseitig nicht deckungsfähigen Ausgabetiteln bei dem Leiter der allgemeinen Verwaltung...äh..."
Er hatte sein Pulver verschossen.
Ellen sah die Hilflosigkeit in seinen Augen und gönnte ihm diese von Herzen. Mit wachsender Schadenfreude beobachtete sie die drei kleinen Schweißperlen, die sich auf seiner sorgenvollen Stirn bildeten.
‚Toll, jetzt hat sich der aufgeblasene Hohlkopf so in seinem eigenen Wortdschungel verirrt, daß er allein nie wieder heraus findet', dachte sie und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. ‚Immer den großen Chef markieren, aber nicht mal in der Lage, auch nur einen einzigen vernünftigen Satz zu diktieren. Dein Sachbearbeiter ist im Urlaub, und so bleibt es an dir hängen. Endlich hast du ausreichend Gelegenheit, deine Unfähigkeit mal so richtig zu beweisen.'
Mit zunehmenden Vergnügen beobachtete sie, wie Säckel verzweifelt mit den Augen rollte, ein paarmal sinnlos den Mund auf und zu machte und dabei nicht mehr als ein röchelndes "äh" hervor brachte. Ein Bild des Jammers!
"...zu suchen wäre", ergänzte sie schließlich sanft und mußte sehr viel Selbstbeherrschung aufbringen, um ein Kichern zu vermeiden.
"Wie? Ja, richtig." Er lachte befreit auf und leistete sich einen betont gönnerhaften Ton., als er sagte: "Ich sehe, sie beginnen mitzudenken!"
"Oh, nein", wehrte sie ab. "Ich meinte, zu suchen wäre jetzt ein vernünftiges Ende für dieses unmögliche Satzgebilde."
Das herablassende Wohlwollen auf seinem Gesicht verwandelte sich fast schlagartig in eine wütende Grimasse.
"Fräulein Redlich, wenn Sie meinen, sie könnten mich für dumm verkaufen und meine Gutmütigkeit ihnen gegenüber ausnutzen, dann haben sie sich gründlich getäuscht. Ich kann auch anders!" Sein dürrer Adamsapfel hüpfte in einem beängstigend schnellen Rhythmus auf und nieder. "Solche Frechheiten können sie sich sonst wo erlauben, aber nicht bei mir! Sie scheinen nicht mehr zu wissen, wen sie vor sich haben!"

‚Oh doch' dachte sie. ‚Ich weiß genau, wen ich vor mir habe. Mir gegenüber sitzt der kleine, stets ängstlich beflissene Buchhalter aus der volkseigenen Gurkeneinlegerei, den die große Wende unverdient ins Rathaus gespült und sogar zum Stadtkämmerer gemacht hat. Und in deiner Verblendung glaubst du sogar an einen Aufstieg aus eigener Kraft. Obwohl, wenn ich bedenke, wieviel Energie du aufgewandt hast, um dich bei der neuen Obrigkeit einzuschmeicheln und gleichzeitig fähigere und somit höchst lästige Konkurrenten zu denunzieren - dann muß man dir wohl tatsächlich ein wenig eigenen Verdienst zugestehen. Aber da war noch etwas. Natürlich - du hattest das richtige Parteibuch. Kannst du dich nicht mehr erinnern, wie eifrig du im sozialistischen Alltagskonzert die Blockflöte geblasen hast? Und wie bist du vor dir selbst erschrocken, wenn dir aus Versehen ein Mißton entfuhr? Dann hast du ganz verstört auf den Kapellmeister von der SED-Kreisleitung geschaut und dich mit demütig gesenktem Kopf und voller Eifer über die vorgeschriebenen Noten gebeugt.
Und jetzt? Was hat sich geändert? Lediglich der Dirigent ist ein anderer. Er heißt Bock, ist seines Zeichens Bürgermeister dieses Kaffs und Mitglied der CDU - jener Partei, die dich als armseligen Mitläufer in der ehemaligen Bauernpartei mit viel zu offenen Armen aufgenommen hat. Nun bist du in dem neuen Orchester sogar zum Solisten avanciert. In deiner grenzenlosen Selbstüberschätzung merkst du allerdings nicht, wie abhängig du bist. Abhängig vom Wohlwollen deiner Vorgesetzten und von der mit Fleiß gepaarten Sachkenntnis deiner Untergebenen. Das einzige, worauf Du wirklich stolz sein kannst, ist dein Instinkt, der dir immer im rechten Moment sagt, wo Unterwürfigkeit von Nöten ist. Welch erbärmliches Dasein!'

Sie sah, wie er aus dem Sessel sprang und wieder ans Fenster trat. Halblaut gesprochene Satzfetzen drangen an ihr Ohr. Sie hörte, wie er etwas von "dreist", "unverschämt" und "wird mich noch kennenlernen" vor sich hin grollte.
Das ironische Lächeln in ihrem Gesicht vertiefte sich.
‚Ich soll dich kennenlernen? Oh, du heilige Einfalt! Glaub mir, niemand kennt dich so gut wie ich! Ich habe dich studiert! Zwölf lange Monate bin ich dir im Geiste kaum von der Seite gewichen. Hast es nur nie bemerkt.
Angefangen hat es schon am Tag meiner Einstellung. Ich gebe zu, in den ersten Stunden hatte ich einen guten Eindruck von dir. Du hast meine Computerkenntnisse gelobt und sehr viel Verständnis für die typischen Fehler einer Anfängerin gezeigt. Aber dann kam die Mittagspause, und auf dem Weg zur Kantine lief dir der Leiter des Ordnungsamtes über den Weg.
"Na, zufrieden mit deiner neuen Sekretärin?" hatte der gefragt.
"Ach, ich kann nicht klagen. Sie scheint ein bißchen einfältig zu sein, aber sie kocht einen guten Kaffe. Außerdem hat sie ein niedliches Gesicht, ziemlich große Titten und einen knackigen Arsch - alles, was eine Tippse so braucht."
Dann habt ihr schallend gelacht, und seid über eure Hähnchenschnitzel hergefallen. Ich hätte vor Wut und Scham heulen können.

Und dann kam die Sache mit dem alten Schlichting, deinem Vertreter. Ich saß hier an diesem Tisch, als er von dir die Abmahnung erhielt. Aber damit nicht genug. Du hast ihn so fertig gemacht, daß ihm das Hemd plötzlich zu eng wurde. Am gleichen Abend lag der arme Kerl mit einem Herzinfarkt auf der Intensivstation. An seinem Grab hielt der Bürgermeister eine salbungsvolle Rede, und du hast bedeutungsvoll genickt. Du mieser Heuchler! Dabei warst du es, der die Sache verbockt hatte. Aber dir war es wieder einmal gelungen, den Kopf rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen und die Verantwortung für eigene Schlamperei auf Schlichting abzuwälzen. Von da an habe ich dich gehaßt. Und in meinem Haß habe ich dich auf Schritt und Tritt verfolgt. Nichts blieb mir verborgen.
Ich begleitete dich sogar zu deinen Skatabenden, wo du dich über das Wohlwollen deiner Stammtischbrüder - allesamt einflußreiche Bürger dieser muffigen Kleinstadt - so richtig gebauchpinselt fühlst und ihnen den ganzen Abend zum Munde redest, während sie dir kräftig das Fell über die Ohren ziehen.
Ich sehe dich sonntags würdevoll zur Kirche schreiten, die stocksteife Gemahlin an der Seite. Du lauschst andächtig einer Predigt, von der du nichts verstehst. Du machst beim Singen lautlos den Mund auf und zu, weil du den Text nicht kennst. Aber man geht ja neuerdings wieder in die Kirche. Von Jesus weißt du genauso viel, wie vordem von Marx - nämlich nichts. Du übersiehst die skeptisch fragenden Blicke derer, die schon zum Gottesdienst gegangen sind, als du in der Parteiversammlung ein solches Verhalten noch als staatsfeindlich verteufelt hast. Nun gut, du hast es vergessen. Dein ganzes Leben lang hast du das nachgebrabbelt, was man von dir erwartet hat.

Ich kenne auch deine Wochenenden. Freitags sitzt du bei schönem Wetter auf deiner sonnigen Terrasse, trinkst mit deiner Frau Kaffee, mümmelst an ihrem selbstgebackenen Rührkuchen herum und vertiefst dich anschließend mit Eifer in das lokale Blättchen. Du kommentierst die Artikel mit geifernder Entrüstung oder spendest euphorisches Lob. Und wenn Frau Margot ein wenig ratlos dreinschaut, läßt du dich zu wohlwollenden Erklärungen herab. Und du sonnst dich in ihrem Stolz, den sie für ihren ach so erfolgreichen Mann zu empfinden vorgibt. Du hast sie gelehrt zu dir aufzuschauen. Und sie tut es mit geheuchelter Inbrunst. Vielleicht ist sie sich ihrer kläglichen Rolle schon längst nicht mehr bewußt. Und trotzdem - an jedem Tag, den sie mit dir verbringt, entfernt sie sich ein winziges Stück mehr von dir. Du merkst es nicht und bildest dir ein, sie wäre glücklich an deiner Seite. Es ist deine Selbstgefälligkeit, die dich am Sehen hindert.'

Das Telefon riß sie aus ihren Gedanken und ihn weg vom Fenster. Ehe er heran war, hatte sie schon abgenommen.
"Stadtkämmerei - Redlich am Apparat. Ach, sie sind es Herr Bürgermeister. Ja - Herr Säckel ist noch da. Einen Moment!"
Schon reichte sie den Hörer an den verdatterten Säckel weiter.
"Der Bürgermeister?" ächzte der und eine merkwürdige Blässe überzog plötzlich sein Gesicht. Sein Blick irrlichterte nervös über die Papiere auf dem Schreibtisch. Er pumpte einige Male wie ein Maikäfer, ehe er mit wilder Entschlossenheit den Hörer ans Ohr preßte und sich ein "Ja, hier Säckel" abrang. Dann folgte Augenblicke stummen Lauschens, wobei er unwillkürlich Haltung annahm.
"Ja, Herr Bürgermeister. Ich arbeite gerade daran. Äußerst komplizierter Sachverhalt. Ich denke, es wird noch eine Weile dauern, bis......Wie? Ach! Nicht nötig? Sie haben das schon mit dem Ausschuß geklärt? Was denn - die Anfrage ist zurück gezogen? Ha, ha, ha! Wäre den Herren der Opposition auch übel bekommen. Ich war gerade dabei, Ihnen allerschärfste Munition zu liefern. Aber Sie haben auch ohne meine Hilfe bereits voll ins Schwarze getroffen. Allergrößtes Kompliment, Herr Bürgermeister!"
Säckels Züge hatten sich während des Gesprächs zusehends entspannt. Nun wagte er sogar, seine stramme Haltung aufzugeben und seinen mageren Hintern auf die Schreibtischplatte zu schieben.
"Ja, ja. Natürlich. Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen. Die Ergänzung zum Nachtragshaushalt? Kein Problem! Die haben sie in einer Stunde. Fräulein Redlich bringt sie ihnen hoch. Ein erholsames Wochenende wünsche ich und beste Grüße an die Gattin. Was? Zur Jagt? Na dann - Weidmannsheil, Herr Bürgermeister!"
Säckel knallte den Hörer mit so viel heiterem Schwung zurück, daß ein Kugelschreiber über die Schreibtischkante rollte und genau vor Ellens Fußspitzen liegen blieb. Während sie sich bückte, um ihn aufzuheben, fühlte sie fast körperlich, wie Säckels Blick in ihren Ausschnitt schwappte. Sie registrierte es mit grimmigem Vergnügen.
‚Ja, glotze Du nur. Ich habe heute extra einen Knopf mehr aufgelassen. Nimm einen tüchtigen Blick. Um so mehr wird es dich vor dem knittrigen Busen deiner Margot grausen. Doch gib nicht ihr die Schuld für ihr zeitiges Altern. Unter deinen ungeschickten Knorpelfingern welkt jede Brust früh dahin.'

Ellen richtete sich betont langsam wieder auf und gab ihm somit genügend Zeit, seinen glasig stieren Blick von den begehrlichen Rundungen zu lösen. Als sie ihm den Kugelschreiber reichte und in sein Gesicht schaute, sah sie noch Reste von diesem "Mit-dir-möchte-ich-auch-mal-Blick" in seinen wasserblauen Augen.
‚Übernimm dich nicht', dachte sie. ‚Was würdest du denn tun, wenn ich mir jetzt seelenruhig die Bluse ausziehen und den BH ablegen würde?'
Einen Augenblick lang verspürte sie sogar Lust, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen - nur um seine blöde Fratze zu sehen - verzerrt von einer Mischung aus Geilheit und Angst. Wie verlockend wäre es, ihm schallend nachzulachen, wenn er schließlich völlig verdattert die Flucht ergreifen würde.
‚Einer wie du, läßt sich niemals auf ein solches Abenteuer ein. Die Angst, dein Verhältnis könnte entdeckt werden, würde dich umbringen. Um fremd zu gehen, braucht es Mut - oder Liebe. Oft sogar beides. Du kannst weder mit dem einen noch dem anderen dienen. Also spar dir künftig solche Blicke!'
Als fühle er sich ertappt, senkte er die Augen und wuselte mit den Fingern sinnlos auf dem Schreibtisch herum
‚Ja, so ist es recht. Widme deine Aufmerksamkeit diesem blöden Papierkram. Heb dir lieber einen Rest deiner Lüsternheit für morgen auf. Es wird so sein, wie an jedem Samstag. Am frühen Abend noch ein wenig angeln, dann ab nach Hause. Du erscheinst pünktlich zum Abendbrot - in der Hand einen Blumenstrauß von der Aral-Tankstelle. Gemeinsames Abendessen, beim romantischen Schimmer der Bildröhre. Du öffnest eine von den Flaschen mit diesem widerlich süßen Rotwein, schenkst die Gläser voll und wuchtest dich dann neben Margot auf die Couch. Das muß als Einleitung genügen. Für eventuelle Zärtlichkeiten ist kein Raum, denn jetzt beginnt das Abendprogramm. Aber nach dem Fernsehen geht es hurtig unter die Dusche. Und dann rein in die Kiste, wo Margot schon sehnsüchtig deiner harrt. Bildest du dir jedenfalls ein. Hast du schon mal ein Opferlamm voller sehnsüchtiger Erwartung gesehen? Glaubst du ernsthaft, Frau Margot würde deinem abgestandenen Sex mit allen Fasern ihres verdorrten Körpers entgegen fiebern? Hast du noch nie diesen Ausdruck stummer Duldung in ihrem Gesicht bemerkt? Hälst du ihr gequältes Stöhnen immer noch für einen Ausdruck höchster Ekstase?
Wenige Minuten nach deinem wöchentlichen Überfall wirst du einschlafen. Mit dir und der Welt zufrieden - vielleicht auch ein wenig mit Margot. Und sie wird wach auf dem Rücken liegen, dein Schnarchen zu ignorieren suchen und an Dinge denken, für die deine Gefühle und deine Phantasie nie ausgereicht haben.
Woher ich das weiß? Nun, ich habe neben euren Ehebetten gestanden, habe dein hektisches Schnaufen gehört und ihren glanzlosen Blick aufgefangen. Ich sagte es ja bereits. Ich war immer in deiner Nähe.'

Säckel war damit fertig geworden, den Papierstapel von einer Seite des Schreibtisches auf die andere zu schichten. Er ging zum Aktenschrank und holte einen dicken Ordner hervor.
"Hier drin finden sie den Nachtragshaushalt mit den handschriftlichen Ergänzungen", erklärte er wichtig. Er hatte wieder zu seiner Rolle als gestrenger Vorgesetzter zurück gefunden.
"Sie schreiben das jetzt ins Reine. Sie haben eine Stunde." Damit schob er ihr den das Aktenbündel zu.
"Das - das schaffe ich doch nie!" entfuhr es ihr spontan, und sofort ärgerte sie sich, über den winzigen Moment ihrer Schwäche.
"Das ist ihr Problem." Sein hämisches Grinsen verriet, wie er den Triumph über die aufsässige Tippse genoß. Demonstrativ schleuderte er seinen Aktenkoffer auf den Tisch, warf den Terminkalender hinein und ließ die Schlösser genüßlich zuschnappen.
"So, Fräulein Redlich. Für mich ist Feierabend. Sie dürfen mir jetzt gern ein angenehmes Wochenende wünschen."
Doch sein offensichtlicher Hohn verfehlte das Ziel Ellen hatte nämlich längst ihr Lächeln wiedergefunden. Das blieb auch unverändert in ihrem Gesicht hängen, nachdem Säckel längst das Büro verlassen hatte. Sie klemmte sich die Mappe unter den Arm und ging ins Vorzimmer, wo ihr Computer leise summend auf sie wartete.
Nein, ihre Hochstimmung war heute durch nichts zu erschüttern. Sie setzte sich, öffnete den Ordner und entnahm die Seiten, die sie abzuschreiben hatte. Doch bevor sie damit begann, zog sie die unterste Schublade ihres Rollcontainers auf, beugte sie sich herab, griff in das unterste Fach und holte ein Buch hervor, welches sie beinahe feierlich vor sich hin legte. Liebevoll strich sie über den Einband. Wieder und wieder las sie den Titel.
"DER KÄMMERER"
"Ein Roman von Ellen Redlich".
Gestern war das Buch erschienen. In wenigen Tagen würde es auch in der kleinen Buchhandlung am Markt im Regal liegen. Ellen hörte schon das Gelächter, das es in der Stadt geben würde. Mit ihrem eigenen Lachen machte sie den Anfang.
 

Ole

Mitglied
Hey Ralph,

ziemlich authentisch?, echt?
gefällt mit diese "Ellen", das Buch muß ein Renner sein!

Deine Wortwahl ist grandios! diese trefflichen Beschreibungen des Alltages (Aral-Blumenstrauß / romantischer Schimmer der Bildröhre...etc.) - Klasse.
das Ganze lief bei mir wie in einem Film ab,
so bildlich hast Du es geschrieben.

Ich habe mich köstlich amüsiert!
--> schon das zweite Buch, welches ich
(natürlich handsigniert) von Dir kaufen würde....!

wünsche Dir nun eine gute Nacht!
Ole.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ole,

nach 14 Tagen fast völliger Lupen-Abstinenz komme ich endlich dazu, mich bei dir für das ausgesprochene Lob zu bedanken. Wie sagt man hier allgemein? "Schön, daß es dir gefallen hat." Leider findet die Geschichte sonst keinen weiteren Anklang. Nun ja - das ist das Los vieler Erzählungen, weil sie für viele Leser einfach zu lang sind.
Macht nichts. Aber was mich richtig ärgert, ist die Tatsache, daß sich niemand zu Veiths Erzählung äußert. Die ist nämlich wirklich Klasse. Und deshalb werde ich etwas tun, was ich sonst eigentlich nie mache - ich poste sie hoch.

Tschüs Ole, es grüßt Ralph
(Vielleicht treffen wir uns bald wieder mal im Chat?!)
 

Ole

Mitglied
Nachtschwärmer...

Hey Ralph,

Du meinst diese unheimlich
langen Nächte, wo wir uns bis
früh um 3 im Chat unterhalten... ;)
--klar!--

Ja die Länge scheint abzuschrecken.
geht mir ja auch so
aber wenn da "Ralph Ronneberger"
drauf steht....ists auch drin! :)

leider werde ich auch ein wenig
die Lupen-Abstinenz durchführen müssen,
demnächst...
Ach so: ist denn jetzt Dein Buch fertig?!
...und bring doch mal Dein Foto in Ordnung,
will doch wissen, ob das "Projekt" erfolgreich war...!

so, dann werd ich mal zu Veith schauen.

Viele Grüße!
Ole.
 
Hallo Ralph

Eine sehr schöne Erzählung.
Du hast recht, warum kommt auf diesen gelungenen Text so relativ wenig Echo. Er verdient wahrlich mehr Beachtung.
A propos Echo: Du schriebst mir gestern zu ‚Oma Lenchen‘. Wo finde ich dieses Schreiben? (bei Oma Lenchen steht nichts)
Liebe Grüße
Willi
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Willi,

vielen Dank für deine anerkennenden Worte. Ein Lob von einem, der solch meisterliche Geschichten schreibt (auf Rolli, diesen verliebten Wettereleven werde ich noch antworten), wiegt natürlich für mich besonders schwer. Jetzt kann meine Erzählung getrost nach unten rauschen.

Gruß Ralph
 

Markus Veith

Mitglied
Hallo, Ralph!
Schöne Geschichte. Könnte fast eine Fortsetzung von "Mauerblume" sein. (Hoffe, du siehst diese Bemerkung nicht als anmaßend an.)
Doch würde ich noch einmal drüber gehen. Es sind an einigen Stellen Wörter zuviel und an anderen unnötig.
Auch sind mir ein paar Wortwendungen aufgefallen, die für mich nicht so recht nachvollziehbar waren oder mir genauer als notwendig erschienen. Nach dem fünften Absatz beispielsweise würde ich seine Bewegung nicht mit "wilde Entschlossenheit" beschreiben. (Zumal so später noch einmal die Bewegung mit dem Telefonhörer so bezeichnet wird. Ein einfaches "..., wie sich ihr Chef entschlossen vom Fensterbrett ..." würde m. E. reichen. ‚Wild' war mir etwas zu wild. Im selben Absatz würde ich auf die genaue Definition der Gummibaumgröße nicht so großen Wert legen.
Der Satz "... wie bist du vor dir selbst erschrocken ..." klingt nach meinem Empfinden etwas unschön. Wie wäre es mit "Und wie hast du dich vor dir selbst erschreckt ..." - Vielleicht sehe ich das aber auch falsch.
Wunderschön jedoch fand ich die vielen, äußerst passenden Beschreibungen deiner Geschichte, das "Irrlichtern", und das "Aufpumpen wie ein Maikäfer und der Blick, der "in den Ausschnitt schwappte".
Zuletzt hätte ich schon noch gerne wissen wollen, woher Ellen Redlich die intimeren Details des Herrn Kämmerers weiß. Du hast ein "Ich war immer in deiner Nähe." Genannt, doch es nicht weiter aufgelöst. Anschließend war mir klar, dass Ellen nicht in Säckels Haus eingebrochen ist, um ihm beim Geschlechtsakt zuzusehen, sondern sich ihre fehlenden Daten, die sie nicht beobachten konnte, selbst zusammenreimen konnte. Aber das Bild ging mir nicht aus dem Kopf.
Und wie bekam Ellen mit, wie Säckel und der Leiter des Ordnungsamtes über sie reden? Zufällig? Aus zweiter Hand? Das kommt nicht richtig raus.
Genug gemeckert. Alles in allem hat mir die Geschichte großen Spaß gemacht. Schadenfroh wünsche auch ich Ellen, dass das Buch Erfolg hat.
Bis bald im Chat!
Mit literarischen Grüßen
Markus Veith
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Markus,
Hallo Templar,

endlich komme ich dazu, mich für eure Kommentare zu bedanken.
Fortsetzung von Mauerblume? Nein, Markus, das empfinde ich nicht als Anmaßung, sondern als ein dickes Lob.
Du schreibst: "Doch würde ich noch einmal drüber gehen."
Das habe ich zwar schon etliche Male getan, aber außer dem Gummibaum (bei dem war ich mir tatsächlich nicht sicher, ob er so drin bleiben sollte), waren mir bis dahin noch keine überflüssigen oder zu genauen Beschreibungen aufgefallen. Nun werde ich doch noch mal genauer hinschauen. Gegen Betriebsblindheit helfen eben vor allem solche Kritiken, wie die euren.

"Zuletzt hätte ich schon noch gerne wissen wollen, woher Ellen Redlich die intimeren Details des Herrn Kämmerers weiß. Du hast ein "Ich war immer in deiner Nähe." Genannt, doch es nicht weiter aufgelöst."

Genau das ist Templar auch aufgefallen. Ja, ich glaube da fehlt etwas. Ellen kennt ihren Chef sehr genau. Aus der Art, wie er sich im Büro gibt und aus dem wenigen, das sie über sein Privatleben weiß, reimt sie sich den Rest zusammen. Daraus wird schließlich ihr Buch. Ich werde mal bei Gelegenheit in Ruhe darüber nachdenken, wie man das dem Leser mitteilt, ohne ihn gleich mit der Nase drauf zu stoßen, daß Ellen ihren Chef zu einer Romanfigur gemacht hat.
Nochmals Dank für eure so ausführlichen Kommentare. Da habe ich wieder etwas zum grübeln. Ich werde darüber aber das Lesen der Erzählungen anderer Autoren nicht ganz vergessen. Und was das Kommentieren angeht - ich brauche eben immer viel zu viel Zeit. Aber man wird sich lesen.

Gruß Ralph
 
E

Eva Anna Welles

Gast
Die Geschichte hat mir wirklich gut gefallen, es fließt schön dahin, ich würde sagen professionell. Winzige Kritik (oder mehr eine Frage): Was macht der Maikäfer? Ich kenne mich nicht aus. Eva Anna
 

Intonia

Mitglied
Hallo Ralph,
während meiner kurzen Mitgliedschaft in der LL konnte ich erst wenige Geschichten lesen. Allgemein bin ich vom hohen Niveau überrascht. Dir ist es meisterhaft gelungen, ein plastisches Bild eines unsympathischen Zeitgenossen im Zeichen der Wende zu skizzieren. Da sind alle Elemente guter Unterhaltung vertreten, wie Spannung, Erotik, menschliche Schwäche. Mein Kompliment.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Anna, hallo intonia,

habt beide vielen Dank für eure lobenden Worte. So etwas macht natürlich Mut für weitere Schreibereien. Da in meiner Gegend eine ganze Menge solcher "unsympatischer Zeitgenossen" herum laufen, könnte man Bände füllen. Aber ob sie das wirklich verdient haben?
Anna, zu deiner Frage: Ich glaube, ein Maikäfer muß, bevor er losfliegen kann, Luft unter seine feinen Flügel bringen. Dabei macht er merkwürdige rhythmische Bewegungen, die wir immer als "pumpen" bezeichneten. Ist aber lange her, daß ich dies in der Natur beobachten konnte. Maikäfer sind sehr rar geworden.

Gruß Ralph
 



 
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