Die Traumfrau

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Tapir

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Wo früher bayrische Zöllner die unerlaubte Einfuhr österreichischen Stroh-Rums kontrollierten, mahnten jetzt Schilder, die Geschwindigkeit bis auf Sechzig zu reduzieren. Damals mußte man noch seinen Paß vorzeigen, dachte er, während er die ehemalige Zollstation Kiefersfelden passierte.
Seit dem Brenner hatte er wieder diese Unruhe gespürt. Wie immer, wenn er von einem Urlaub aus dem Süden nach Hause fuhr. Sollte er bei ihr vorbeifahren? Der Ort, in dem sie wohnte, lag verführerisch nahe neben der Autobahn. Keine zwanzig Kilometer Umweg.
Siebzehn Jahre war das jetzt her. Er hatte sich diesen Urlaub damals eigentlich gar nicht leisten können. Nach dem abgebrochenem Studium und den Aushilfsjobs, mit denen er sich einige Monate über Wasser halten konnte, hatte er die Ausbildung zum Bürokaufmann angefangen. Aber sein letzter richtiger Urlaub lag damals auch schon ein paar Jahre zurück. Und deswegen hatte er auch sofort zugesagt, als Matthias und Tom ihm angeboten hatten, mit nach Italien zu fahren. Den zweiwöchigen Zelturlaub und die Fahrt zu dritt im Kleinwagen hatte sein Budget gerade noch verkraften können.
Er konnte sich noch genau an die erste Begegnung erinnern. Das riesige amerikanische Wohnmobil hatte eines Morgens neben ihrem Zelt gestanden und beim Aufstehen hatten sie gesehen, wie ihre neuen Nachbarn bereits am Frühstückstisch saßen. Von ihr sah er erst nur die langen blondgelockten und mit Strähnchen durchsetzten Haare. Genau die Sorte, bei der man unbedingt einen Blick auf das Gesicht werfen will, um zu sehen, ob es das Versprechen auch einhält.
Wie sie jetzt wohl aussehen mochte? Siebzehn Jahre verändern viel. Ob sie schon graue Strähnen in den blonden Haaren hatte? Für ihn war sie immer noch die Frau von achtundzwanzig. Dabei war sie jetzt fünfundvierzig. Wie alt wäre ihm vor siebzehn Jahren eine Fünfundvierzigjährige vorgekommen?
Als er sie damals - auf dem Weg zu den Sanitärgebäuden - das erste Mal richtig gesehen hatte, war es ihm vorgekommen, als habe irgendetwas auf einen Knopf in seinem Inneren gedrückt und seine Körpertemperatur von einer auf die andere Sekunde um mindestens zwei Grad ansteigen lassen. Die hellblauen Augen und der Mund, um den ständig ein Lächeln zu spielen schien, strahlten eine Gelassenheit und Natürlichkeit aus, wie sie wohl nur bei Menschen zu finden ist, denen alles gelingt. Ihr Körper übte eine solche Anziehungskraft auf ihn aus, daß er kaum hinsehen konnte, ohne zu befürchten, das Verlangen, diesen Körper zu berühren, stünde ihm ins Gesicht geschrieben. Wie aber einem kleinen Jungen, der sich an der Schaufensterscheibe eines Luxuswagenhändlers die Nase plattdrückt, oder einem Teenager, der stumm und aus der Distanz – ohne sich lächerlich machen zu wollen – von einer Schauspielerin, einer Titelschönheit oder Sportlerin schwärmt, so erschien sie ihm auch wie aus einer anderen, zwar existenten aber ihm nicht zugänglichen Welt. Und so überraschte es ihn umso mehr, daß sie auf dem Rückweg kopfnickend grüßte und lächelnd „Hallo“ sagte, bevor sie wieder in Richtung Wohnmobil verschwand.
Er fuhr jetzt langsamer, kaum schneller als hundertzehn. Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten. Das gab ihm mehr Zeit zum Überlegen. Noch knapp dreißig Kilometer bis zur Ausfahrt. Sollte er oder sollte er nicht? Er spürte, wie die Unruhe immer stärker wurde. Das ging ihm jedes Mal so auf dieser Strecke. Seit Jahren schon.
Sie waren ins Gespräch gekommen damals. Zuerst belanglose, nette Plaudereien über das Wetter, den Strand, das Surfen. Wie sehr sie um ihre Wirkung wußte, war unübersehbar. Aber sie spielte nicht damit. Beim Grillen am Lagerfeuer wurde aus dem Gespräch in großer Runde immer mehr ein Zwiegespräch. Er erfuhr, daß sie aus einer Hoteliersfamilie stammte. Genau wie ihr Freund, der nun kurz vor der Übernahme des elterlichen Hotels stand und mit dessen Renovierung beschäftigt war. Sie hatte mehrere Jahre in verschiedenen Ländern gearbeitet und war danach ein halbes Jahr durch Asien gereist. Und würde nun nach diesem Urlaub in der Toskana heiraten und mit ihrem Freund das Hotel nahe der österreichischen Grenze führen.
Er hatte ihr von seinen geplatzten Musikerträumen erzählt. Von der Schauspieltruppe, der er mit zweien seiner Freunde angehörte. Und der Wohngemeinschaft, in der er seit drei Jahren lebte. Ihr oft fragender, erstaunter Blick und das gelegentliche Kopfschütteln verrieten ihm, daß sein Leben ihr mindestens ebenso fremd und exotisch erschien wie ihm das ihrige. Erst als es hell wurde, löschten sie das Feuer. Eine kurze, freundschaftliche Umarmung, bei der er ihren Duft so intensiv wahrnahm, daß er fast glaubte, davon ohnmächtig zu werden. Dann Gute-Nacht Wünsche. Und als er sich in seinen Schlafsack zwängte, erschrak er fast, als ihm bewußt wurde, wie sehr er sich in sie verliebt hatte – eben so aussichtslos wie unaufhaltsam.
Noch zwanzig Kilometer. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Er schaltete die Scheibenwischer ein. Aus dem Cassettenrecorder kam die Musik, die er ihr schon vor Jahren zusammengestellt und zugeschickt hatte. Mit ihrem Lied: Peter Gabriel und Kate Bush. „Don´t give up“. Wieder und wieder konnte er dieses Lied hören – untrennbar mit ihr verbunden - und sich an der Euphorie und Traurigkeit berauschen, die es bei ihm auslöste. Er war sich immer noch nicht im Klaren darüber, ob es damals – vor siebzehn Jahren – Glück oder Unglück war, sie getroffen zu haben.
Nach jenem Abend waren nur wenige Tage bis zur Abreise verblieben. Zwischen Surfen, Schwimmen und abendlichem Beisammensitzen war die Zeit wie im Fluge vergangen. Die Nähe und Vertrautheit jenes Abends stellte sich zwar nicht mehr ein, trotzdem genoß er jede Sekunde mit ihr. Den Gedanken, daß sie das Gleiche für ihn empfinden könnte, verwarf er. Bei jeder anderen Frau wäre er sich sicher gewesen, hätte die Signale wahrgenommen und zumindest einen Versuch gewagt. Aber dann sah er das riesige Wohnmobil und dachte an das frisch renovierte Hotel und den Freund, der auf die vorausgeplante, gemeinsame Zukunft wartete. An dieses ganze andere Leben. Und gab sich keine Chance.
Dann der letzte Tag. Ihre Abreise hatten sie für den Abend geplant. Mit dem näherkommenden Abschied waren sein Ärger und seine Unruhe gewachsen. Irgendetwas mußte er ihr sagen, die Begegnung mit ihr durfte nicht einfach so in einem Fotoalbum verschwinden. Aber wie und was?Ein letztes Mal an den Strand, bevor die Zelte abgebaut und alles in den Kleinwagen verstaut wurde. Und noch mal duschen, um sich das Salz vom Körper abzuwaschen. Auf dem einfach ausgestatteten Campingplatz gab es keine getrennten Bereiche für Männer und Frauen, so daß sie Kabine an Kabine duschten. Sie stand schon unter der Dusche, während er noch damit beschäftigt war, die Temperatur einzustellen. Aber seine Dusche blieb entweder kalt oder das Wasser kam kochend heiß aus dem Duschkopf, was er mit hörbarem Ärger begleitete. Was los sei, hatte sie gerufen. Und er hatte geantwortet, daß er die Temperatur nicht eingestellt bekäme. Dann solle er doch zu ihr ´rüberkommen, hatte sie gesagt. Erst hatte er seinen Ohren nicht trauen wollen und dann - während ihm das Blut in den Kopf schoß - überlegt, wie sie das gemeint haben könne. Und sich die Peinlichkeit vorgestellt, wenn er es ernst, sie es aber scherzhaft gemeint hätte. Drei, vier Sekunden stand er unschlüssig in der Kabine und schaute auf die verkalkten Armaturen. Dann hatte er gelacht. Und weiter so lange an den Reglern herumprobiert, bis er eine verträgliche Einstellung gefunden hatte.
Eine Stunde später dann die Abfahrt. Matthias und Tom saßen schon im Auto - ungeduldig. Sie stand mit ihrer Schwester, dem Schwager und den Nichten zur Verabschiedung daneben. Eine letzte, flüchtige Umarmung, bei der sie ihm „das mit der Dusche habe ich übrigens ernst gemeint“ ins Ohr flüsterte, sich aus seiner Umarmung löste und völlig konsterniert stehen ließ.
Bis zum Gotthard wurde er nicht müde, den beiden anderen wieder und wieder zu erklären, mit welch lebens- und liebesunfähigem Idioten sie es hier zu tun hätten. Ärgerte sich nicht nur über die verpasste Gelegenheit, sondern darüber, das Eindeutige nicht gesehen und keinen Mut gehabt zu haben. Wurde erst in der Schweiz ruhiger und saß dann die letzten paar hundert Kilometer nur noch stumm in Fasssungslosigkeit versunken auf der Rückbank, sich langsam damit abfindend, das Geschehene weder rückgängig machen zu können noch eine zweite Chance zu bekommen.
Noch zehn Kilometer. Vielleicht wäre es damals wirklich besser gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, dachte er, während er die Cassette aus dem Autoradio herausnahm und umdrehte. Es einfach als einen netten Urlaubsflirt zu nehmen. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Aber als er damals wieder zu Hause angekommen war und nach ein paar Tagen den Zettel mit ihrer Telefonnummer zwischen ein paar Tausend Lire-Scheinen gefunden hatte, hatte er der Versuchung nicht standhalten können. Erst hatte er nur ein paarmal die Vorwahl gewählt, dann abgebrochen, sich schließlich zu den ersten Ziffern der Rufnummer vorgetastet, wieder eingehängt, aber irgendwann doch durchgewählt und das Freizeichen abgewartet. Nach dem vierten Klingeln hatte sie abgehoben.
Sie hatte gar nicht überrascht gewirkt, sich über seinen Anruf gefreut. Über eine Stunde hatten sie sich unterhalten. Über den Urlaub, den letzten Tag und wie ihr Leben weitergegangen war. Er hatte ihr irgendwann gesagt, daß er sie gerne wiedersehen würde. Und sie hatte ganz gelassen geantwortet: Am kommenden Wochenende würde es nicht gehen, dafür aber am nächsten. Sie würde sich erkundigen, welche Flüge gehen und sich wieder bei ihm melden.
Er wußte nicht mehr, was ihn damals mehr beeindruckt hatte. Die Tatsache, daß sie überhaupt oder daß sie mit dem Flugzeug kam. In seiner Vorstellung existierten nur Mitfahrzentralen oder verbilligte Bahnticktes. Noch Minuten nachdem sie aufgelegt hatte, stand er sprachlos neben dem Telefon mit dem Hörer in der Hand und realisierte erst langsam, daß sie tatsächlich einen Linienflug buchen würde - so wie er eine Busfahrkarte kaufte - um ihn in seinem sechzehn Quadratmeter großen WG-Zimmer zu besuchen.
Noch ein Kilometer bis zur nächsten Ausfahrt. Jetzt mußte er sich entscheiden. Der Regen hatte inzwischen wieder nachgelassen. Er kannte den Weg von der Autobahn aus über die Landstraße, war ihn schon oft um diese Zeit gefahren.
Ein paar Tage nach dem Anruf, an einem regnerischen und grauen Sonntagnachmittag, hatte sie tatsächlich dagesessen: in dem Zimmer mit der Matratze auf dem Fußboden, der Schallplattensammlung und dem ausrangierten Kleiderschrank seiner Eltern. Seine Befangenheit hatte sie ihm an dem Freitagabend, an dem er sie vom Flughafen abholte, innerhalb von Minuten genommen – mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn schon von weitem angestrahlt, später umarmt und auf den Mund geküßt hatte. Es hatte gar keiner Erklärungen bedurft. Sie waren erst essen gegangen und jene Vertrautheit, die wie aus dem Nichts gekommen war, blieb auch, als sie - anstatt tanzen zu gehen - gleich nach dem Essen zu ihm nach Hause fuhren. Sie blieb, als er die Türe hinter ihnen abgeschlossen hatte, sie langsam auszog, ihren Körper an seinem spürte und ihren Duft und ihre Berührungen wahrnahm wie etwas, auf daß er schon seit langer Zeit gewartet hatte. Es war alles perfekt, ihre Bewegungen wie in hundert Jahren aufeinander eingespielt, blindes Verständnis ohne Fragen, ein Sog aus purer Lust, Bewegung, Hitze und Schweiß, der sie beide gleichermaßen erfasst hatte und nur zum Essen und den wenigen notwendigen Stunden Schlaf zwischendurch voneinander abließ. Aber jetzt saß sie da - zwei Stunden bevor sie sich auf den Weg zum Flughafen machen mußten – müde, übernächtigt, überdreht und erzählte über ihr Leben, ihre Familie, die beiden Schwestern, das Skifahren im Winter, das Segeln im Sommer und er sah ihre leuchtenden Augen dabei, spürte etwas Schweres, erst kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher. Erst dachte er, es wäre nur der bevorstehende Abschied. Aber es war etwas anderes.
Mit dem Auto seines Freundes brachte er sie zum Flughafen. Lange standen sie vor dem Gate, umarmten sich, versprachen sich, daß dies nicht das letzte Mal gewesen sein sollte. Dann wurde der Flug aufgerufen und sie mußte gehen. Ihr Duft umgab ihn noch Stunden später. Und damit jenes Gefühl zwischen Euphorie und Aussichtsloigkeit, das ihn zugleich unendlich erfüllte und unsagbar traurig machte.
Dann kam die Ausfahrt. Er bog ab, fuhr unter der Autobahn durch und hatte nur noch fünf Kilometer Landstrasse vor sich. Er fuhr so langsam, daß ihn mehrere Fahrzeuge auf der kurvigen Strecke durch den Wald überholten.
Ein paar Wochen später war sie wiedergekommen. Wieder mit dem Flugzeug. Ihrem Freund hatte sie alles erzählt. Und ihn gebeten, ihr Zeit zu lassen. Er hatte das respektiert. Und die Renovierung weiter vorangetrieben, als sei nichts passiert.
Danach war sie noch drei Mal gekommen. Bis sie sich entschieden hatte. Nicht gegen ihn. Aber für ihr Leben. Er hatte damit gerechnet. Sogar Verständnis gehabt. Und sich machtlos gefühlt, irgend etwas dagegen zu tun.
Nur die Gedanken an sie war er nie wieder losgeworden. Trotz der vielen Frauen, die er nach ihr gehabt hatte. Mit denen er es nie länger als ein paar Monate ausgehalten hatte, weil die Erinnerung an jene Selbstverständlichkeit im Handeln und Fühlen, an zwei Körper, die einander gesucht und gefunden hatten, ohne Abwarten, ohne Ausprobieren, ohne Kompromisse, Fragen oder Diskussionen einfach zu stark war. Er hatte etwas gefunden, von dem es einfacher gewesen wäre, zu glauben, daß es nur in der Vorstellung existierte.
Hin und wieder hatten sie telefonierten in den folgenden Jahren. Ein halbes Jahr nach ihrem letzten Besuch hatte sie geheiratet. Zwei Jahre später das erste Kind bekommen, weitere zwei Jahre darauf das zweite.
Jetzt hatte er den kleinen Ort erreicht, in dem das Hotel unübersehbar den Mittelpunkt des Dorfplatzes bildete. Er hielt an, stieg aus dem Auto aus und roch den Duft der noch vom Regen nassen Strasse. Er ging über den Platz auf den erleuchteten Eingang zu und blieb davor stehen. Von drinnen hörte er durch halbgeöffnete Fenster Stimmen, meinte sogar einmal, ihr Lachen herauszuhören. Er zündete sich eine Zigarette an und ging unschlüssig ein paar Schritte auf und ab. Was wäre, wenn er jetzt einfach hineingehen würde? Wahrscheinlich würde sie ihn mit der gleichen Selbstverständlichkeit begrüßen wie damals. Ohne eine Spur der Irritation. Fragen, ob er etwas essen wolle oder ein Zimmer für die Nacht. So, wie sie ihn unter ihre Dusche gebeten oder einen Linienflug gebucht hatte. Und so, wie sie sich letztlich für das andere Leben entschieden hatte. Plötzlich kam ihm alles fremd vor. Was mache ich hier eigentlich, fragte er sich, so unmittelbar an der Grenze zu einem anderen Leben, das eigentlich noch nie wirklich etwas mit seinem zu tun gehabt hatte. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie aus. Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zurück. Zurück in sein Leben - wie all die Jahre zuvor auf der Rückfahrt aus dem Süden.

© by Stefan Schrahe
 



 
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