Die Varianten.

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pleistoneun

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Eine unbekannte Macht suchte vor sehr langer Zeit die Erde heim. Man nannte sie damals "die Varianten", weil ihr Auftreten vielseitig und die Ausprägungen unterschiedlich stark waren. Sie überschwemmten innerhalb kürzester Zeit alle Kontinente, alle Länder und alle Städte und ihr Ziel war, den Verstand der Menschen zu kontrollieren. Kaum jemand blieb vor ihrem gewaltigen Einfluss verschont. Das Schreckliche an den Varianten war, dass man sie nicht sehen oder schmecken, riechen oder messen konnte, keine Maschine konnte sie aufspüren oder verhindern, dass sie von einem Besitz ergreifen würde. Die Menschen waren ratlos und man musste lernen, mit den Varianten zu leben, sich dem Schicksal hinzugeben, wenn man selbst an der Reihe wäre.

Anfangs traf es vorwiegend junge Leute und Menschen, die dadurch auffielen, ein besonders glückliches Leben zu führen. Die Varianten nisteten sich in die Gehirne ein und verursachten dort ein wüstes Chaos, wodurch die Leidtragenden keinen klaren Gedanken mehr fassen und keine sinnvollen Handlungen mehr ausführen konnten. Solche Menschen waren für die Gesellschaft unbrauchbar geworden und Unbrauchbare gab es derer viele. Auffallend war auch der Umstand, dass die Varianten immer paarweise zuschlugen. Bei Mann und Frau gleichzeitig. Um Gesetzmäßigkeiten und Auftretenswahrscheinlichkeiten auszumachen, versuchte man herauszufinden, welcher Menschenschlag davon nicht betroffen war. Es waren durchwegs vergrämte und mürrische Personen, deren Gemeinsamkeiten ihre Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber anderen war. Diese Leute wurden nie Opfer der Varianten.

Nach vielen Jahren der Erforschung des Phänomens erkannten kopfkratzende Wissenschafter, dass der Einfluss der Macht bei manchen Menschen allmählich nachließ oder manchmal sogar ganz verloren ging. Doch hinterließen die listigen Varianten eine Art Abhängigkeit und Suchtgefühl im gesamten Körper, wodurch sie ihr eigenes Überleben sicherten.

Viele Menschen begannen sich an den Zustand der Verwirrt- und Verrücktheit zu gewöhnen, schlimmer noch, sie suchten sogar das Varianten-Gefühl. Jene, die es finden konnten, erhielten wieder diesen Varianten-Rausch, die anderen gingen bei ihrer Suche danach beinahe unter, so sehr drängte es sie danach. Sie wurden fester Bestandteil der Menschen auf der Erde und man erkannte, dass ihr Einfluss keine negativer war, im Gegenteil: das Leben enthüllte plötzlich einen Sinn und das Allgemeinbefinden stieg.

Die Varianten erhielten später einen anderen Namen und sie waren die Grundlagen vieler Gedichte und Bücher, sie waren der Stoff, der den Menschen erst fähig machte, das Licht nicht nur zu sehen, sondern zu verstehen, dass es Nicht-Schatten ist. Es war die Geburt der Erkenntnis darüber, dass sie - wenn sie erst voll entfaltet ist - eine ungeheure Kraft freisetzt, die den Menschen vollständig in Besitz nimmt und ihm alles gibt, alles gibt, alles das gibt, was er in seiner entrücktesten Fantasie nicht zu erfassen imstande. Würde man die Varianten sichtbar machen, wären sie heller als das hellste Licht und würden uns sofort blind machen. Mit unvollkommenen Instrumenten wird es nie möglich sein, Vollkommenes zu erfassen.
 



 
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