Die Verwandlung (1)

jimKaktus

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Als Joachim K. eines Morgens aus unruhigem Schlaf erwachte, fand er die Welt in ein monströses Chaos verwandelt. Er stellte wie gewöhnlich seine zwei Füße auf den Boden vor seinem Bett und stapfte ins Badezimmer, zur Morgentoilette. Schon hierbei musste er feststellen, dass die Zahnpasta alle war. Mit der Nagelschere öffnete er die leere Tube und kratzte die Reste heraus. Nach vollendeter Morgentoilette fühlte er sich bereit, seine Stellung in der menschlichen Gemeinschaft einzunehmen. In Pantoffeln und Schlafanzughose ging er die zwei dunklen Treppen nach unten zum Briefkasten, Zeitung holen. Die Nachbarn durften dabei gerne sehen, dass er ein schlanker, noch junger Mann war. Doch traf er auf der Treppe niemanden und seine Zeitung - war nicht da. Stattdessen lag eine tote Fliege in seinem Briefkasten. Mit den Fingernägeln nahm er sie, an einem Flügel, heraus.

Joachim K. fühlte ein Ziehen in seinem Hinterkopf. Er würde zum Frühstück keine Zeitung lesen können, und in seinem Briefkasten befand sich eine Fliege. Anscheinend hatte sie sich im Schloss ein Bein eingeklemmt. Mit spitzen Fingern warf Joachim sie vor die Haustür, wobei ihm von draußen ein sumpfiger Geruch entgegenwehte.

Nach einem gesunden Müslifrühstück und nach dem Anziehen von Jeans, Jeanshemd und einem karierten Jackett, verließ Joachim K. das Haus. Beim Überqueren der ersten Straße wäre Joachim fast überfahren worden. Zunächst hatte er sich gefreut, dass an diesem Mittwoch scheinbar keinerlei Autos unterwegs waren. Dann kam doch eins, kam angerast mit mindestens 100 km/h, obwohl lediglich 50 erlaubt waren. Joachim hatte zu rennen anfangen müssen und schon gedacht, es würde nicht reichen. Denn das Auto fuhr mittig und näherte sich schnell, und auch Joachim war bereits in Bewegung und ein Umkehren nicht mehr möglich.

«Du spinnst wohl!», rief Joachim K. seine Empörung aus und schwenkte, als er auf dem sicheren Gehsteig angekommen war, drohend die Faust. Er ärgerte sich noch auf dem ganzen restlichen Weg zum Bahnhof. So ein Raser war ihm noch nicht begegnet. Zum Glück konnte er sich ein wenig über die Luft freuen. Sie war so angenehm frei von Abgasen, so frisch - bis auf den leicht sumpfigen Geruch - aber alles in allem ein Grund zur Freude. Joachim K. war dennoch froh, keinen weiteren Menschen mehr zu begegnen. Die hätten ihn nach so einem Erlebnis nur ganz hektisch gemacht. Auch das Bahnhofsgebäude war leutelos. Doch die Anzeigetafel am Eingang sagte wie gewöhnlich das Kommen seines Zuges voraus. Und als Joachim K. oben auf dem Bahnsteig ankam, stand dort auch schon der Zug.

Joachim K. rannte los, zum zweiten Mal an diesem Tage. Sein Jackett wurde durch den Sprint beeinträchtigt. Die Schultern verschoben sich und der Knopf, der es zusammenhielt, musste in jedem Moment abreißen. Joachim K. war entschlossen, das in Kauf zu nehmen, und bereitete durch Abbremsen seinen Absprung vor. Er landete sicher auf den Füßen im S-Bahn-Waggon. Er rückte sein Jackett zurecht und setzte sich auf die hinterste Bank, die sich ihm unmittelbar zum Sitzen anbot. Joachim K. wartete.

Schon nach einigen Sekunden wurde ihm klar, dass die Bahn nicht, wie er gedacht hatte, sofort abfuhr. Er stand auf und schaute aus der offenen Tür. Meist fuhr ihm die Bahn vor der Nase davon, dieses Mal war es etwas anderes. Vielleicht sollte er noch gar nicht losfahren. Lauter Dinge hatten ihn heute hindern wollen, diesen Zug zu erreichen. Und doch hatte er ihn noch erwischt. Vielleicht sollte er ihn gar nicht erreichen. Wenn dies so wäre, dann stiege mit jeder weiteren Sekunde, die er hier in der Tür des Zuges stand, die Wahrscheinlichkeit, dass der Zug doch noch losführe und er sich auf dem Weg zur Arbeit befände.

Joachim K. stieg aus. Dass etwas nicht stimmte, war eventuell nicht nur so ein Gefühl. Und auch, dass außer ihm keine Leute auf der Straße waren, kam ihm mittlerweile sonderbar vor. War heute ein Feiertag, von dem er nichts wusste? Er bedurfte der Meinung eines oder am besten mehrerer Mitmenschen. Das Bahnhofsgebäude verlassend, ging er zum nächsten Wohnhaus, dem ersten Eingang einer am Bahnhof beginnenden Altbauzeile. Er müsste eine Stichprobe ziehen. Einfach bei irgendwem klingeln und sich erkundigen. Bei einem Durchschnittsmenschen.

Er klingelte bei Grotowski. Der Name schien ihm durchschnittlich genug. Die Stimme eines älteren Herrn meldete sich: «Jaaa?»
«Herr Grotowski, ich bin ein Nachbar - aus weiterer Entfernung allerdings. Ich würde gerne kurz mit Ihnen reden.»
Ein Summen gab die Tür frei. Joachim K. war im Hausflur. Im dritten Stock wohnte Grotowski. Der wartete schon an der Tür und reckte den Hals, wer denn da die Treppe hochkäme. Es war ein junger Mann von Mitte zwanzig, ordentlich angezogen und gründlich rasiert. «Guten Tag, ich bin Joachim K.», stellte er sich vor, genau wie Grotowski erwartet hatte. «Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten. Und herausfinden, ob heute eventuell mit der Welt etwas nicht stimmt. Darf ich reinkommen?»

«Selbstverständlich», antwortete Grotowski. Aber ziehen sie sich Ihre Schuhe aus. Das ist eine Tradition.»
«Eine Tradition?», fragte Joachim K., der die Klettverschlüsse seiner Schuhe aufmachte.
«Aber selbstverständlich. Sehen Sie, ich hatte früher in der ganzen Wohnung hellblaue Auslegeware. Es war eine gute Auslegeware, bester Velour, exzellente Verarbeitung. Wegen verschiedener Flecken habe ich ihn inzwischen entsorgt. Was aber von ihm geblieben ist, ist die Tradition, sich an der Tür die Schuhe auszuziehen. Verstehen Sie?»
«Ja», sagte Joachim K, der inzwischen auf Socken dastand. «Traditionen sind absolut wichtig, da sie etwas Beständiges darstellen.»
«Unbedingt, unbedingt.», stimmte Grotowski zu. Er führte Joachim K. ins Wohnzimmer und ließ ihn sich hinsetzen, während er selbst in die Küche ging.

«Wie mögen Sie Ihren Kaffee?», fragte er.
«Schwarz!», war die Antwort.
«Könnten Sie Ihren Kaffee für mich bitte mit Zucker und Milch trinken?»
«Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tue.»
«Es ist so», fing Grotowski an zu begründen. Doch stellte er erst zwei Kaffeepötte auf den Tisch und setzte sich in seinen eingesessen Fernsehsessel, ehe er weiter machte. «Es ist so: Wann immer ich mit jemandem so wie mit Ihnen Kaffee getrunken habe, hat er - oder sie - den Kaffee mit Milch und Zucker getrunken. Wenn Sie nun Ihren Kaffee ebenfalls schwarz trinken so wie ich, trifft mich das gewissermaßen in der Substanz. Es erschüttert mich in meinem Selbstverständnis als Schwarzer-Kaffee-Trinker. Verstehen Sie? Es macht mir Angst.»
«Absolut.», erkannte Joachim K. das Problem. «Sie müssten dann ihren Kaffee anstelle von mir mit Milch und Zucker trinken.»
«Exakt. Es käme einem Rollentausch gleich. Ich wäre plötzlich ganz außer mir.»
«Ich trinke Ihnen zuliebe meinen Kaffee gern mit Milch und Zucker», versicherte Joachim K. und trank die hellbraune Flüssigkeit, die vor ihm auf dem Tisch stand. «Und danke, Herr Grotowski. Ich darf doch annehmen, dass Sie Grotowski heißen.»
«Hans Grotowski. So ist es.»
«Es hätte auch sein können, dass Sie für Ihren Schwager hier die Blumen gießen oder dergleichen. Es ist ja im Prinzip das ganze Jahr über Urlaubszeit, darum frage ich.»

«Völlig richtig, völlig richtig.» Grotowski hatte scheinbar die Angewohnheit, manche Dinge doppelt zu sagen. «Man kann sich auf nichts mehr verlassen.», pflichtete er Joachim bei. Und Joachim: «Darüber wollte ich mit Ihnen»
«Ach ja, sie sagten etwas von»
«einer nicht mehr stimmigen Welt, genau.» beendete Joachim K dem Satz. «Aber nur scheinbar wie gesagt. Halten Sie mich nicht für verrückt.»
«Sie sind ein vernünftiger Mann,», fand Grotowski, «das merkt man sofort. Aber erzählen Sie! Es scheint Ihnen auf der Seele zu brennen.»
«Das tut es.», bestätigte Joachim K. «Das tut es. Hören Sie sich das dan: Erst war heute Morgen meine Zahnpasta leer, obwohl ich mir gestern noch damit die Zähne geputzt habe. Dann war keine Zeitung im Briefkasten. Und es war kein einziges Auto auf der Straße. Aber just, als ich nicht damit rechne und die Fahrbahn betrete, kommt eins und fährt mich fast um. Und auf dem Bahnhof steht meine S-Bahn und wartet auf mich, obwohl sie sonst gerade wegfährt, wenn ich komme.»

«Das ist merkwürdig.», gab Grotowski zu. «Aber es ist für Sie merkwürdig. Schaun Sie, es geschieht ja nun öfter, dass wildfremde Leute bei mir klingeln und ich mit Ihnen Kaffee trinke. Aber da kommt es auch durchaus vor, dass mal einer seinen Kaffee mit Milch oder gar mit Milch und Zucker trinkt und dann von mir das Gleiche oder etwas völlig anderes erwartet. Sie müssen relativieren.»
«Herr Grotowski, ich muss mit Bedauern feststellen, Sie verstehn mich nicht. Es scheint, Sie können das Ausmaß der Abweichung nicht nachvollziehen. Das summiert sich doch.
Etwas stimmt nicht, und ich will Gewissheit darüber, was es ist. Eine einzige Meinung reicht mir in dieser Sache, bei allem Respekt, nicht aus. Ich kann zum Beispiel immer noch nicht ausschließen, dass heute ein Feiertag ist.»
Grotowski kaute an einem Fingernagel und überlegte kurz. «Wollen Sie, dass ich den Fernseher anmache? Das kann ich gerne tun!», bot er an. Grotowski nahm eine der Fernbedienungen, die auf seiner Sessellehne lagen und drückte einen Knopf. Er wechselte durch die Kanäle. «Was soll ich einschalten?»
«Nachrichten.», sagte Joachim K., der wie gebannt auf die Mattscheibe starrte.
«Hier haben Sie einen Nachrichtensender. Ach, sehn Sie mal, die Aktienkurse!»
Joachim K. beobachete misstrauisch die vorbeiziehenden Zahlen am unteren Bildschirmrand.
«Keine bedeutsamen Schwankungen. Und ein Feiertag kann heute auch nicht seien, denn sonst hätte die Frankfurter Börse geschlossen.» Grotowski blickte triumphierend.

Indessen berichtete die Fernsehmoderatorin von Fusionen, Hitzewellen und Überschwemmungen und gab im Anschluss die neuesten Arbeitslosenzahlen bekannt.
Joachim K. nickte und sah nach vorne. «Aus so einer nationalen und globalen Perspektive sieht man es nicht. Es ist etwas, das mit der Stadt zu tun hat. Und das ist der Nachrichtensprecherin und der Börse eben entgangen oder interessiert sie nicht.»
«Kein Problem!», rief Grotowski voller Hilfsbereitschaft und machte den Fernseher aus. Er griff zu einer zweiten seiner Fernbedienungen. In der Anbauwand leuchtete eine kleine Stereoanlage auf, aus der alsbald Oldiemusik ertönte. «In sechs Minuten kommen die Nachrichten. Dann werden wir es wissen.», verlautbarte Grotowski mit Enthusiasmus.

Sie lauschten andächtig Simon and Garfunkel, die «Bridge over Troubled Waters» musizierten, sowie einem Elvis-Hit. Um sie der neuen Zeit anzupassen, war das Brückenlied mit einem monotonen Technobass unterlegt. Die schnelle Elvisplatte wurde außerdem in unregelmäßigen Abständen angehalten. In die letzte dieser Pausen fielen drei nüchterne, aber sehr präsente Töne, zwei kurze und ein langer. Dann eine Melodie. Die Nachrichten hatten begonnen.

Joachim K. hatte sich nach vorne gebeugt. Grotowski stellte die Lautstärke höher. Die Neuigkeiten beschränkten sich im Wesentlichen auf neue Einsparungen im Gesundheitswesen, Erhöhungen der Parkgebühren in der Innenstadt, eine Koalitionskrise im Abgeordnetenhaus, drei Blitzer und zwei Staus. Auch der Wetterbericht trug mit «bewölkt und etwas Sonne bei maximal 17 Grad» zur Mittelmäßigkeit bei. Von größeren Demonstrationen, Streiks, Festen oder Epidemien war nicht die Rede. Ein Radiomoderator begrüßte die Hörer nach den Nachrichten zu einer neuen Stunde. Den Auftakt bilde der blinde Stevie Wonder mit dem Song «I just call to say I love you». Im Hintergrund hörte man schon den Bass, der auch dieses Lied zu einem potenziellen Sommerhit auf mallorcinischen Strandpartys machte.

Auf dem Sofa regte sich Joachim K. «Ich glaube, das, was nicht stimmt, reicht gar nicht für eine Nachricht aus. Es könnte absolut unscheinbar sein. Oder eine schleichende Entwicklung, die niemandem auffällt. Jedenfalls muss es etwas sein, was man nur in seiner unmittelbaren Umgebung erfahren kann.»
«Sehen Sie endlich ein, dass alles in bester Ordnung ist. Das Problem, wenn ich das sagen darf, liegt bei Ihnen selbst.»
«Herr Grotowski», erwiderte Jochen K. scharf. «Schauen Sie doch bloß einmal aus dem Fenster. Es sind keine Autos auf den Straßen.»
«Vorhin haben Sie mir noch erzählt, eines hätte Sie fast angefahren.»
«Ja: ein einziges! Und dann ist da noch dieser modrige Akzent in der Luft.»
«Vielleicht haben Sie die anderen übersehen. Manchmal ist man so in Gedanken ... Der Geruch kommt daher, dass es die ganze letzte Nacht geregnet hat.»
Joachim K. trank den kalten Rest seines Kaffees und erhob sich. «Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich muss gehen und herausfinden, was nicht stimmt. Hier komme ich nicht weiter.»
Grotowski begleitete ihn zur Tür. «Sie können jederzeit wiederkommen. Halten sie mich auf dem Laufenden.»
«Das werde ich.» Joachim K. ging. Im Hausflur funktionierte das Licht nicht.
 



 
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