Die Vorboten

Raniero

Textablader
Die Vorboten

„Hast du schon gehört, der Franz soll einen Hörsturz gehabt haben, in seinem Urlaub, und das ausgerechnet am letzten Urlaubstag?“
In Windeseile machte dieses Gerücht die Runde, in der Abteilung des großen Verwaltungsgebäudes.
Franz Feinerhut war seit zwei Wochen erkrankt und niemand der Kollegen wusste so recht, was ihm eigentlich fehlte. Die Gerüchteküche war daher in vollem Gange und erstreckte sich von einer schweren Erkältung über ein Rheumaleiden bis hin zu einem Herzinfarkt. Aus dem Personalbüro, in dem man es eigentlich wissen musste, war außer der voraussichtlichen Krankheitsdauer auch nicht mehr zu erfahren, und der Chef der gesamten Abteilung, der es mit Sicherheit wusste, bewahrte eisernes Stillschweigen, sodass in der Tat wilde Vermutungen angestellt wurden. Die Meldung über den vermuteten Hörsturz ihres Kollegen wurde in der Mittagspause heftig diskutiert, wobei vor allem der Aspekt im Vordergrund stand, dass Feinerhut diesen in einer Ruhepause, in seinem Urlaub, statt, wie man eher vermuten sollte, im hektischen Betriebsalltag erlitten habe, und schnell meldeten sich die selbsternannten Ärzte unter den Kollegen zu Wort, allen voran Karl Riemer.
„Einen Hörsturz erleidet man im Normalfall immer in der Ruhephase und nicht, wenn man voll unter Stress steht, das ist doch allseits bekannt.“
Die Arbeitskollegen wussten nicht, was sie dazu sagen sollten, und sie staunten mit offenem Mund; wahrscheinlich war es doch noch nicht so ‚allseits bekannt’, wie Karl Riemer vermutete.
„Und warum geschieht das immer in der Ruhepause, beim Franz sogar am letzten Urlaubstag, mein Gott, wie schrecklich?“
„Das, mein Lieber“, ließ Riemer sich gönnerhaft herab, „hat die gute Mutter Natur so eingerichtet, aber es ist doch auch leicht nachvollziehbar.“
Die Kollegen schauten ihn fragend an.
„Na, ja, in der Stressphase hat der Körper einfach keine Zeit, zu reagieren, wie er möchte, aber in der Ruhephase, da holt er das nach, und je mehr er sich scheinbar schon erholt hat, umso gefährlicher wird es, da soll man sich nicht täuschen.“
Allen Kollegen wollte diese Begründung nicht einleuchten, doch sie verzichteten darauf, sich mit Karl Riemer auf eine Diskussion einzulassen und gaben sich mehr oder weniger zufrieden, denn sie wussten, dass Karl nicht locker lassen würde, mit seinen pseudoärztlichen Diagnosen, und hinter seinem Rücken nannten sie ihn nur ‚unseren Doktor’.
„Na, dann wäre es ja beinahe besser, unter anhaltendem Dauerstress zu stehen, dann kriegt man wenigstens keinen Hörsturz, so wie der arme Franz“ sagte einer.
Die Kollegen lachten, außer dem ‚Doktor’, dem jeder Sinn für Ironie abging.
Ein anderer unter den Kollegen, ein gewisser Reginald Ruhsiepen, hatte nicht nur wie gebannt der Unterhaltung zugehört, sondern sich diese regelrecht zu Herzen genommen. Seit längerer Zeit nämlich stand auch er schon unter beruflichem Dauerstress und mehr als einmal hatte er schon daran gedacht, dass ihn ebenfalls ein solcher Hörsturz, so ein Vorbote eines Herzinfarkts, wie er auch zuweilen genannt wurde, oder gar noch Schlimmeres heimsuchen könne.
Aus diesem Grunde fand auch er, obwohl er verlegen lächelte, die nicht ernst gemeinte Äußerung gar nicht so sehr zum Lachen, sondern begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Gedankenverloren suchte er sein Büro nach der Mittagspause auf, doch es gelang ihm nicht, sich ernsthaft auf seine Arbeit zu konzentrieren.
In acht Tagen, so schoss es ihm durch den Kopf, stand sein Jahresurlaub bevor, auf den er sich schon so lange gefreut, den er regelrecht herbeisehnte, nach diesen letzten Monaten voller Stress, drei Wochen mit seiner Ehefrau im Hochgebirge, und nun so etwas!
‚Einen Hörsturz erleidet man im Normalfall immer in der Ruhephase und nicht, wenn man voll unter Stress steht, das ist doch allseits bekannt’ standen ihm die Worte des Kollegen Riemer geradezu wie das Schwert des Damokles vor Augen.
Wenn es sich tatsächlich so verhielt, dachte er entsetzt, dann könnte unter Umständen dieser Urlaub sein letzter gewesen sein! Sollte er es da in der Tat nicht vorziehen, einfach weiterzuarbeiten, ohne Pausen, dann bliebe er zwar weiterhin unter Dauerstress, aber wäre er dann nicht nach Aussage seines ‚ärztlichen’ Kollegen zumindest sicher, keinen Hörsturz zu erleiden?
Sollte er nicht im Moment einfach den Urlaub absagen und erst einmal verschieben, auf unbestimmte Zeit? Mit der Personalabteilung wäre das zu regeln, und mit dem Chef erst recht; dieser Mann hasste Ferien regelrecht, wenn es nicht seine eigenen waren. Wie aber würde seine Frau reagieren, die, ebenfalls berufstätig wie er, diese Ferien dringend brauchte. Wie sollte er sie dazu überreden, darauf zu verzichten? Nein, dachte Reginald, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, es muss doch einen anderen Weg geben.
Nach kurzer Überlegung sprang er von seinem Stuhl auf und jubelte lautstark, da er glaubte, die Lösung des Problems gefunden zu haben. Warum bin ich denn nicht früher darauf gekommen? Gesetzt den Fall, der Kollege hat Recht, mit seiner Behauptung, dass man in der Ruhephase viel eher gefährdet ist, einen Hörsturz zu bekommen, als sonst, dann darf es folglich gar nicht erst zu einer solchen Ruhe kommen. Jawohl, dachte er, das war’s, man muss das Pferd von hinten aufzäumen.
Wo, fragte er sich, steht eigentlich geschrieben, dass man im Urlaub nicht auch Stress ertragen dürfe, sogar Dauerstress?
Doch schon stand eine zweite Frage quälend im Raum.
Wo, bitte, sollte er all diesen so wichtigen Stress hernehmen?
Bisher hatte er mit seiner besseren Hälfte alle Ferien dazu genutzt, so richtig auszuspannen und an etwas anderes zu denken, als an den Büroalltag, und stets war es ihnen auch gelungen, gut ausgeruht und erholt, voll aufgetankt, wie sie sagten, zurückzukehren.
Da fiel ihm ein, dass er diesmal etwas unternehmen könne, mit seiner Frau, was sie beide bisher immer gemieden, worüber sie nur geringschätzig gelächelt hatten; einen komplett durchorganisierten Urlaub vom Anfang bis zum Ende, mit keiner Minute Freizeit, gestaltet von professionellen Animateuren.
Ohne zu zögern buchte Reginald von seinem Schreibtisch aus, ohne seine Frau zu informieren, telefonisch am Urlaubsort ein Komplettprogramm an Veranstaltungen für volle drei Wochen, vom ersten Begrüßungstrunk bis zum letzten Händedruck des Ortsbürgermeisters, ein Programm, das selbst hartgesottene Manager das Fürchten gelehrt hätte.
Oh, sie wird Augen machen, strahlte er, als er das schriftliche Bestätigungsfax des Fulltimeprogramm in Händen hielt, und das alles für die Gesundheit!

Als Reginald mit seiner Frau Ute am Urlaubsort antrafen, mit dem Auto, wurden sie gleich am Ortseingang von einem Begrüßungskomitee in Empfang genommen.
Ute staunte nicht wenig, über diese ‚Überraschung’, die ihr Reginald mit strahlenden Augen als solche präsentierte.
„Aha, du wusstest davon? Fragt sie nur knapp und lächelte milde.
Nicht mehr ganz so milde lächelte sie allerdings, als an ihrem Hotel gleich ein zweites Begrüßungskomitee bereit stand. Während Reginald wiederum vor Freude strahlte, blickte sie ihn nur an und ihre Augen schienen zu sagen.
‚Komm du erst einmal auf’s Zimmer!’
Im Hotelzimmer schlug denn auch die Stunde der Wahrheit, der Moment, vor dem sich Reginald gefürchtet hatte. Wie würde sie reagieren?
Behutsam stellte Reginald ihr den geplanten Maßnahmenkatalog vor, zuerst nur für die erste Woche. Zu seinem Erstaunen nahm sie die Ankündigung relativ gelassen hin. So fand Reginald nach dem Motto, jetzt oder nie den Mut, schnell noch das Programm für die restlichen zwei Wochen hinterher zu schieben, und zu seinem maßlosen Erstaunen verzog seine Frau keine Wimper.
„Du hättest mir vorher ruhig was sagen können“, bemerkte sie nur.
Während Ute noch den Veranstaltungskatalog studierte, klingelte bereits das Zimmertelefon.
„Das wird der Aufruf für die geführte Rundwanderung unter verschärften Bedingungen sein“, mutmaßte ihr Mann, „komm, Schatz, du musst dich beeilen!“
In der Tat war es die erste Mahnung zum nächsten Programmpunkt.
„Reginald, Schatz“, bat Ute „ich mache alles mit, das volle Programm, wenn du willst, doch lass mir nur ein klein wenig Ruhe, wenigsten im Moment.. Mach du bitte heute allein diese Wanderung. Danach stehe ich dir komplett zur Verfügung und bin für alle Schandtaten bereit, tagsüber wie auch in den Nächten.“
Reginalds Augen leuchteten vor Glück.
„Na, gut, Ute, dann will ich mal. Ruh’ dich schön aus, bis später, Schatz!“
Äußerst gutgelaunt begab er sich auf den Weg zur ersten Strapaze, der verschärften Wanderung.
‚Gott sei Dank’ dachte er, ‚sie macht mit, das klappt ja besser als vorhergesehen. Na, dann, Hörsturz ade, bei soviel Stress.’

Als Reginald nach vierstündiger knallharter Rundwanderung zurückkehrte, steigerte sich sein erwünschter Stress ins Unermessliche, aber ganz anders, als er geplant hatte.
Er öffnete die Hotelzimmertür und erbleichte; das Zimmer war derart vollgestopft mit Schachteln, Einkaufstüten und Päckchen, dass er sich regelrecht einen Weg bahnen musste. Mitten im Zimmer stand seine Ute und vollführte eine Modenshow besonderer Klasse. Reginald aber hatte dafür keine Augen und starrte nur auf das Sammelsurium im Raum, das ihm wie ein Vorbote aus einer anderen Welt erschien.
„Wo ist die Rechnung?“ stöhnte er nur.
„Aber Schatzilein, was hast du denn? Du hast doch schließlich das ganze Programm ausgesucht und irgendwas zum Anziehen muss ich doch wohl haben, meinst du nicht?“
Als Reginald die Rechnung in Händen hielt, erlitt er nicht nur einen Hörsturz, sondern direkt einen Herzinfarkt; bevor ihm die Sinne schwanden, dachte er jedoch: ‚Gut, dass mir das am ersten Tag passiert ist, dann bin ich in drei Wochen wenigstens wieder fit, für’s Büro…’
 



 
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