Die Wanderung

gelahh

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DER ERSTE TAG:

Seit dem frühen Morgen waren sie jetzt unterwegs. Ein Beobachter hätte sie wohl für eine seltsame Gruppe gehalten. Man konnte sich vielleicht sogar schwer vorstellen, daß sie überhaupt gemeinsam unterwegs waren. Trotzdem handelte es sich aber um ein fest zusammengeschweißtes Trio. Beobachter bekamen die drei auch - wenn es sich irgendwie vermeiden ließ - gar nicht zu Gesicht. Man wollte bei diesem Unternehmen, jedenfalls am ersten Tag, unter sich sein. War es doch schwer genug für die drei, sich an die Anstrengungen solch einer Wanderung zu gewöhnen, zumal sie ja auch vollkommen unterschiedliche Konditionen hatten. Dem einen machte der Marsch selbst schon zu schaffen, der zweite litt unter der großen Hitze, ja, und der dritte, der hatte seine Schwierigkeiten, sich an die unterschiedlichen Befindlichkeiten seiner beiden Kameraden zu gewöhnen. Sie hatten sich aber vorgenommen, das Abenteuer - als solches sahen sie die Wanderung an - gemeinsam zu bestehen.
Der erste, der sich jetzt am Waldrand ins Gras warf, war der kleine etwas dickliche Mops Rollo. „Jetzt langt es mir erstmal, ihr beiden habt ja auch viel längere Beine. Ich muß mich ausruhen.“
„Wenn es nur nicht so fürchterlich heiß wäre“, seufzte der große afghanische Windhund Emir und setzte sich neben Rollo.
Nero, der kräftige Rottweiler, setzte sich schließlich auch zu seinen Gefährten, meinte jedoch: „Wenn wir so weitermachen, können wir unsere Wanderung wohl vergessen. Ihr seid ja auch viel zu verweichlicht für so ein Unternehmen. Sieh du dich doch nur an, Rollo. Du bist fast so dick und phlegmatisch wie dein Herr.“
Rollo machte ein beleidigtes Gesicht und erwiderte, immer noch kurzatmig: „Nun fang du bloß noch an, etwas über meinen Herrn zu sagen. Mit ihm können eure beiden sich doch überhaupt nicht vergleichen. Du weißt doch, daß Emir's Herrchen ein hirnschwacher Dandy ist. Na, und über deinen Herrn brauchen wir ja wohl nicht reden?“
Jetzt mischte sich auch Emir in das Gespräch: „Was soll denn das blöde Gequatsche von Herr und Herrchen. Ich kann euch beiden nur sagen, daß mein Willy wirklich elegant ist. Und außerdem ist er sehr nett. Natürlich ist er ganz anders als eure beiden Herren, wie ihr sie nennt, als Rollo's Professor und dein Kohlenhändler, Nero.“
„Ist ja gut, ihr beiden, ich wollte auch nichts negatives über eure Herren und Meister sagen. Nur führt das Leben im Haushalt eines Professors oder eines Vertreters eben wohl automatisch dazu, daß ihr beide euch immer weiter vom normalen Hundeleben entfernt. Ich kann euch nur sagen, daß ich ...“
„Nun fang du doch bloß nicht schon wieder von deinem gesunden Leben auf dem Hof des Kohlenhändlers an. Das brauchen wir jetzt gerade noch. Ich habe ja gleich gesagt, daß es schwierig werden wird, solch ein Unternehmen tatsächlich gemeinsam durchzuführen. Der Professor sagt ja auch immer, seit es keine uneingeschränkt respektierte Autorität mehr gibt, ist das Zusammenleben bedeutend komplizierter geworden.“
„Was hat das denn mit uns zu tun, wer sollte denn da uneingeschränkt respektierte Autorität haben?“ begehrte jetzt Emir auf. „Wir haben doch alle die gleichen Rechte und keiner ist besser als der andere.“
Nero hatte sich das ruhig angehört und sagte jetzt: „Das ist wohl wahr, zumal wir drei ja so grundverschieden sind. Rollo ist so klug, du Emir bist so schön und ich bin so stark. Auf der anderen Seite fehlt jedem von uns etwas von dem, was der andere im Überfluß hat. Wir sollten also unsre Aufgaben auch entsprechend unseren Veranlagungen verteilen. Da wo Klugheit notwendig ist, sollte Rollo das Wort führen. Wo aber Schönheit gefragt ist, sollten wir uns auf Emir verlassen. Ich wäre dann zuständig für alles, was meiner Kraft bedarf. In Bezug auf diese unsere persönlichen Aufgabengebiete sollte jeder von uns dann auch eine gewisse Autorität genießen“.
„Hört sich ja vernünftig an. Nur, selbst ich will meinem durchaus verehrten Herrn nicht so weit folgen, daß ich es für richtig hielte, wenn die Autorität in jedem Fall uneingeschränkt respektiert wird. Ich bin zwar nicht besonders schön, noch bin ich sehr stark, trotzdem möchte ich auf diesen Gebieten auch gehört werden. Andererseits bin ich es zwar gewohnt, den manchmal eigenartigen Gedankengängen meines Professors zu folgen. Das fällt mir, wie ich zugeben muß, oftmals schwer, in einigen Fällen gelingt es mir sogar gar nicht. Darum halte ich es für wichtig, daß, wenn gedacht werden muß, ein jeder von uns dreien dabei mithilft. Selbstverständlich will ich meine große Erfahrung hierbei einbringen und die Hauptverantwortung übernehmen.“
„Das ist ja ganz phantastisch. Ihr beiden habt euch das wirklich schön ausgedacht. Nach eurem Plan würde dann aber für mich wohl kaum etwas übrigbleiben. Denn, wann würde das, was ihr meine Schönheit nennt, von ausschlaggebender Bedeutung für uns sein?“
„Aber das ist doch ganz klar, mein lieber Emir. Deine Verantwortung wird sogar die größte sein. Denn immer, wenn wir mit Menschen zusammenkommen, müssen wir beide uns auf dich verlassen. Du weißt doch so gut wie wir, daß es bei Menschen in den meisten Fällen nur auf das Äußere ankommt. Die meisten Menschen halten mich doch für häßlich und ausgesprochen spießig. Nero hingegen wird von den meisten Menschen mit Vorsicht betrachtet, ja vielen flößt er sogar Angst ein. Du aber bist für die Menschen so etwas wie ein edler Hund. ‚Edel‘ ist etwas, was von den Menschen hochgehalten wird. Wenngleich sich der Begriff nicht nur auf das Äußere bezieht, tut er es sicherlich bei der Beurteilung von uns Hunden. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, von mir als einem edlen Hund zu sprechen. Bei dir ist das aber etwas ganz anderes. Aus diesem Grund werden die Menschen, die weder Nero noch mir ihr spontanes Vertrauen entgegenbringen würden, dir voll vertrauen. Und das kann für uns drei unter Umständen sehr wichtig sein.“
Nachdem Rollo nun auch Emir von seiner Zuständigkeit und Wichtigkeit überzeugt hatte, machte man sich zum Aufbruch bereit.
Die Sonne stand schon tief am Horizont als die drei an den Rand einer kleinen Ortschaft kamen. Es waren die gleichen beiden wie vorher, die jetzt wieder aufbegehrten. Emir sagte: „Spartanisch leben ist ja vielleicht ganz gesund, nur habe ich jetzt so ganz allmählich Hunger. Der Willy setzt mir nämlich um diese Zeit immer mein Essen hin.“
„Die Haushälterin bringt auch dem Professor um diese Zeit immer sein Essen, das heißt sie serviert im Eßzimmer für ihn. Das ist gleichzeitig das Zeichen, daß auch mein Napf in der Küche bereitsteht. Sparta ist weit weg und die dortige harte Schule hat, wie ich glaube von meinem Professor gehört zu haben, den Spartanern langfristig auch nicht so sehr viel gebracht.“
„Mein Kohlenhändler hat nie etwas über diese Spartaner gesagt. Daher kann ich dazu auch nichts sagen. Mit dem Essen war das bei uns aber nie so regelmäßig. Es kam sogar vor, daß man mich ganz vergaß. Das war aber nur, wenn Besuch da war und, wie dann üblich, viel getrunken wurde. Trotzdem finde ich es auch vernünftig, wenn wir uns das mit dem Essen jetzt mal überlegen. Ja, wir sollten das tun bevor es ganz dunkel wird.“
Rollo, eingedenk seiner erhöhten Verantwortung, setzte sich jetzt und überlegte. „Ich schlage vor, daß wir uns jetzt teilen. Jeder von uns versucht auf seine Weise, etwas zu essen zu bekommen. Da das Bevorraten und Herumtragen von Rationen für uns sehr schwierig sein würde, denke ich ein jeder sollte versuchen, sich irgendwo sattzuessen. Später können wir dann unsere Erfahrungen austauschen. Sicherlich habt Ihr auch die Turmuhr schlagen gehört. Wir sollten uns dann spätestens um 10 Uhr wieder hier an dieser Stelle treffen“.
„Abgemacht“, sagte Nero und „abgemacht“ sagte auch Emir. Ohne viel Zeit zu verlieren, machten sich beide sofort auf den Weg.
So einfach hatte Rollo sich seine erste Herausforderung nun doch nicht vorgestellt. Er hatte einen Vorschlag gemacht und die anderen hatten ihn befolgt. Es war nicht einmal zu einer Diskussion gekommen. Und dabei liebte er doch Diskussionen. Der Vorschlag, den er gemacht hatte, war verhältnismäßig einfach gewesen, da die Notwendigkeit ihn mehr oder weniger diktierte, denn Essen mußten sie ja. Betroffen war er aber schon etwas, daß die anderen beiden so losgezogen waren, als wenn sie genau wußten, wie der Vorschlag in die Tat umzusetzen sei. Rollo mußte sich nämlich eingestehen, daß er selbst bisher keine Ahnung hatte, wie er nun vorgehen müsse. Vielleicht würde sich etwas ergeben. Jetzt blieb nichts anderes übrig, als sich auch schleunigst auf den Weg zu machen.
Die kleine Ortschaft sah wie die meisten kleinen Ortschaften am frühen Abend aus. Es waren kaum Menschen auf der Straße. In einem Fenster sah er eine kleine schwarzweiße Katze sitzen, die ihm interessiert nachschaute. Obgleich er sich der Lächerlichkeit solcher Schaustellungen bewußt war, konnte er nicht umhin, sich in Positur zu setzen. Er marschierte also für kurze Zeit mit vorgepreßtem breiten Brustkorb und besonders festen Schrittes daher. Als Mops hat man wirklich nicht viele Möglichkeiten zu imponieren. Vielleicht war die Katze ja beeindruckt. Aber was weiß eine kleine Hauskatze schon von den Gefahren der großen weiten Welt.
Nun hätte er sich doch beinahe offenen Auges, geradewegs, wenn auch nicht ins Verderben, so doch in Gefahr begeben. Zu seinem Glück war die Gefahr in der Gestalt eines sich wie rasend gebärdenden großen Hundes jedoch durch einen festen Zaun, an dem er gerade entlang marschierte, von ihm getrennt. Auf der anderen Seite des Zauns sprang und rannte ein großer schwarzgoldener Schäferhund wütend bellend hin und her. In solchen Augenblicken sehnte er sich nach der Gesellschaft seiner beiden Kameraden. Hauptsächlich Nero beeindruckte andere große Hunde, aber auch Menschen, durch seine ruhige Kraft, daß man sich zusammen mit ihm nie zu fürchten brauchte.
Als er jetzt an einer nur angelehnten Tür vorbeiging, stieg ihm der angenehme Duft einer leckeren Mahlzeit in die Nase. Er konnte nicht widerstehen und näherte sich langsam der Tür hinter der dieser Duft hervorquoll. Als er sich durch den Spalt der Tür schob, sah er einen quadratischen kleinen Hof vor sich, der von hohen Häuserwänden eingerahmt war. Drei dieser Wände waren vollkommen fensterlos. Nur an der ihm am nächsten liegenden Wand befanden sich einige kleine Fenster und auch eine offene Tür. Aus dem untersten der Fenster und aus der Tür strömte der Duft auf den kleinen Hof. In der Mitte des Hofes stand ein kleiner Terrier vor einer riesigen Schüssel dampfender Fleischsuppe.
Mißtrauisch wurde Rollo betrachtet. Da er aber nicht größer als der Terrier war und anscheinend auch keinerlei Gefahr bedeutete, wurde Rollo jetzt eingehend beschnuppert, was er auch geduldig über sich ergehen ließ.
Offensichtlich war der Terrier mit dem Ergebnis seiner Prüfung zufrieden. Er begab sich zurück zu seiner großen Schüssel und erwartete nun von Rollo, daß dieser sich ihm anschloß. Es bedurfte denn auch nicht zu vieler auffordernden Blicke, bis Rollo sich zu seinem neuen Bekannten neben die Schüssel setzte. Wenngleich sein Magen laut und vernehmlich knurrte, merkte Rollo schnell, daß das Essen noch zu heiß war. So saß man denn da und schnupperte den verführerischen Duft ein. Dabei bedurfte es zumindest für Rollo bestimmt keiner Verführung, um mit sich ständig steigerndem Heißhunger dem ersten Bissen entgegenzusehen. Es sah so aus, als wenn eine tüchtige Portion Fleisch in dieser Suppe war. Dann war es wohl mehr ein Gulasch, das heißt ein angeblich ungarisches Gericht, das die Haushälterin manchmal für den Professor zubereitete. Ob man wirklich immer noch nicht konnte? Jetzt merkte er, daß die Verständigung mit dem fremden Terrier ganz gut klappte. Man sprach hier zwar etwas anders als zu Hause, aber doch nicht so anders.
Rollo hörte dann vom Terrier, daß sich hinter der duftenden Tür und dem unteren Fenster die Küche eines Restaurants befand und daß sein neuer Bekannter hier täglich gut versorgt wurde. Eigentlich hatte auch er nichts mit dem Restaurant und den dazugehörenden Menschen zu tun. Er kam aber bereits seit zwei Jahren hierher und war, den Eindruck hatte er jedenfalls, der Liebling des Kochs, eines dicken Italieners. Die Portionen waren meistens so reichlich, daß er oft sogar etwas in der Schüssel zurücklassen mußte.
Jetzt war es aber soweit. Rollo stürzte sich auf die Mahlzeit, daß für kurze Zeit die ganze Vorderseite seines kleinen Kopfes im Gulasch verschwunden war. So schien es jedenfalls. Plötzlich setzte er sich erschrocken zurück und leckte sich beschämt sein Gesicht sauber. Wenn ihn die Haushälterin oder gar sein Professor so gesehen hätten. Selbst seinem neuen Bekannten gegenüber war es ihm jetzt peinlich, daß er sich hatte so gehen lassen. Das, so hörte er den Professor oftmals sagen, sei der Zeitpunkt, wo man sein wahres Gesicht zeigt. Seine Selbstbeherrschung galt es auch oder gerade in Situationen der Not zu beweisen. Beschämt leckte er noch einmal über sein ‚wahres‘ Gesicht.
Der Terrier war so mit sich selbst und dem Essen beschäftigt, daß er von Rollos kleiner Krisensituation nicht das Geringste mitbekommen hatte. So machte denn auch Rollo sich wieder an das Essen, diesmal aber an seine gute Kinderstube denkend. Es war genügend für beide in der Schüssel. Als jeder der beiden seine Seite saubergeleckt hatte, setzten sie sich zufrieden zurück.
Jetzt mußte aber auch Rollo erst einmal erzählen, wer er denn sei und woher er käme. Mit Staunen hörte der Terrier von der Wanderung der drei Freunde. Nein, so etwas möchte er wohl doch nicht mitmachen. In dieser kleinen Ortschaft kannte er sich aus. Da wußte man, was man hatte. Das wollte er, auch nur für ein paar Tage, nicht mit irgendwelchen Ungewißheiten während einer solchen Wanderung eintauschen.
Während sie noch neben der jetzt leeren Schüssel lagen und miteinander sprachen, hörte Rollo in der Ferne die Kirchturmuhr halb zehn schlagen. Genüßlich streckte er sich noch einmal, bevor er sich von seinem neuen Bekannten verabschiedete. Er versprach, falls sein Weg ihn nochmals an der Ortschaft vorbeiführen sollte, am Abend in dem kleinen Hof vorbeizuschauen. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu der Stelle, wo man sich am frühen Abend getrennt hatte. Wie würde es den anderen beiden ergangen sein?
Der Mond war inzwischen aufgegangen, so daß man den Weg gut finden konnte. Als Rollo den Treffpunkt erreichte, war Nero schon da. Er hatte es sich gemütlich gemacht und lag im hohen Gras. Der Abend war noch warm und Nero war ganz schläfrig als er Rollo jetzt begrüßte. Gerade als er sich genüßlich streckend zum Aufstehen anschickte, läuteten die Glocken im Ort zehnmal. Man müßte also auch bald mit Emir rechnen können, wenn alles bei ihm geklappt hatte.
So war es denn auch. Nach höchstens einer Minute hörten die beiden ein rasch näherkommendes Hecheln und wirklich stand kurz darauf Emir, noch etwas außer Atem, vor ihnen.
„Da hab ich es ja doch noch einigermaßen pünktlich geschafft. Ich befürchtete schon, daß ich mich verspäten würde. Seid ihr beiden schon lange da?“
„Ich bin auch gerade erst angekommen, aber Nero hat anscheinend den ganzen Abend hier verbracht. Habt ihr beide denn auch gegessen? Am besten, jeder erzählt mal, wie es ihm ergangen ist. Also ich fang mal an.“ Und Rollo erzählte seinen beiden Freunden, was er an diesem Abend in der Ortschaft erlebt hat. Dabei erwähnte er die Begegnung mit der Katze und dem Schäferhund aber nicht, da er befürchtete, daß die anderen beiden seine feineren Gefühle doch nicht verstehen würden.
Als nächster war jetzt Nero dran. „Ja, was soll ich euch viel erzählen? Alles klappte wie am Schnürchen. Ich fand heraus, daß die Ortschaft zwei Schlachterläden hat. Beim ersten waren sämtliche Türen geschlossen, so ging ich denn weiter zum zweiten. Dort hatte ich Glück. Man war gerade beim Aufräumen und die Tür zum Hof stand offen. Ehe sie mich richtig gewahr wurden, hatte ich einen großen Knochen mit noch viel Fleisch dran erfaßt und war auf der Flucht. Natürlich gab es viel Geschrei und Geschimpfe, aber hinterhergelaufen ist nachher doch keiner. Für sie war es auch nicht so ein wertvolles Stück. Noch einmal könnte ich das allerdings wohl nicht machen. Ich hatte auch Glück, denn die Schlachter haben oftmals recht unsympathische Hunde und auf einen Kampf um einen Knochen wäre auch ich nicht so scharf gewesen. Jedenfalls war ich danach verhältnismäßig früh wieder hier und habe dann ganz gemütlich meine Beute genossen. Ein Stück von dem großen Knochen habe ich sogar für unser gemeinsames Frühstück aufgehoben. Nun bin ich aber gespannt, wie Emir zu seiner Abendmahlzeit gekommen ist“.
„Ja, ich kann mir vorstellen, daß ihr jetzt gespannt seid. - Auf dem Weg in die Ortschaft habe ich mir das noch einmal überlegt, was ihr mir vorhin gesagt habt. Hauptsächlich Rollo, mit seiner Einschätzung meiner Wirkung auf die Menschen. Entsprechend plante ich mein Vorgehen für den Abend. Und wirklich, irgendwie hattet ihr anscheinend recht, denn es hat tatsächlich funktioniert. In der Mitte der Ortschaft befindet sich ein kleiner Park, in dem Kinder spielen und Leute spazieren gehen. Das heißt, als ich ankam, war schon fast alles vorbei. Es begann nämlich schon zu dunkeln und die Leute wollten offensichtlich nach Hause. Trotzdem habe ich mich da aber noch etwas umgesehen.“
„Ich stellte mich neben eine kleine Gruppe, die gerade aufbrechen wollte. Ein kleiner Junge streichelte mir über den Rücken. Seine Mutter, die das sah, rief: ‚Laß um Gottes Willen den fremden Hund in Ruhe, sonst wirst du noch gebissen.‘ Ein Mann, der das hörte, sagte aber: ‚So ein edles Tier beißt doch nicht. Das würde es nur in Selbstverteidigung tun.‘ Dann pfiff er leise durch seine gespitzten Lippen, so wie Willy das ab und zu auch tut. Da dieser Mann schon etwas älter war und einen sehr friedlichen Eindruck machte, ging ich zu ihm hin. Er streichelte mir den Kopf und inspizierte dann mein Halsband. Erst dachte ich, daß er mir das Halsband stehlen wollte. Aber er sah es sich nur an. Dann sagte er doch wahrhaftig: ‚Hast dich wohl etwas verlaufen und wirst jetzt sicher Hunger haben.‘ Da er sich auch zum Fortgehen anschickte, blieb ich in der Nähe und wartete. So sehr nahe an mich ran wollte ich ihn aber nicht wieder kommen lassen, denn ich hatte plötzlich Angst, daß er mich mit meinem Halsband irgendwo festmachen könnte. Der Willy benutzt zwar nie eine Leine, aber man sieht doch oft, daß Hunde an so einer Leine geführt werden. Es gibt sogar Hunde, die haben auch zu Hause eine Leine an ihrem Halsband. Das habe ich jedenfalls gehört.
„Als er mir jetzt etwas zurief und dann anfing fortzugehen, folgte ich ihm. Ich hielt aber immer einen Sicherheitsabstand, daß er mich nicht nochmals am Halsband greifen konnte. Er wohnte anscheinend in einem Haus mit einem großen Garten. Dort ging er jedenfalls rein. Nachdem ich sichergestellt hatte, daß ich auch bei geschlossener Gartentür leicht über die Mauer flüchten konnte, falls dies notwendig sein sollte, folgte ich ihm auch da. Er blieb ab und zu stehen, um sich zu vergewissern, daß ich auch noch da war. Dann ging er in das Haus hinein. Ich blieb in einiger Entfernung sitzen und wartete.
„Es verging nur kurze Zeit, dann kam er wieder heraus. Hinter ihm kam jetzt aber noch eine Frau aus dem Haus, die eine große weiße Schürze umhatte und einen großen Napf in der Hand hielt. Die Frau wollte zu mir hingehen. Er sagte aber, sie solle den Napf auf den Boden stellen, ich würde dann schon kommen. Natürlich verhielt ich mich erstmal abwartend. Es sah aber alles ganz sicher aus. Der Mann war inzwischen wieder ins Haus gegangen und rief nun auch der Frau zu, sie solle ins Haus kommen.“
„Jetzt ging ich natürlich hin um mir den Napf und seinen Inhalt näher zu betrachten. Der Napf war wirklich groß. Er war mehr als halb voll mit einem mächtigen Batzen Fleisch und verschiedenen Wurststücken. Ich kann euch beiden sagen, meine Augen gingen über. Selbst zu Weihnachten, wo Willy immer spendabel ist und sich nicht lumpen läßt, habe ich noch nie so einen Schmaus vor mir gehabt. Ich versicherte mich noch mal, daß ich auch wirklich vollkommen unbeobachtet war und keinerlei Gefahr für mich bestand. Dann schnupperte ich und nahm ein paar ganz vorsichtige kleine Häppchen ins Maul. Aber auch der Geruch und der Geschmack waren gut. Ohne irgendwelchen Beigeschmack. Man hat ja auch schon davon gehört, daß böse Menschen fremde Hunde einfach vergiften. Hier schien aber wirklich alles in Ordnung zu sein. Als nun meine Bedenken vollständig zerstreut waren, schluckte ich den ersten Bissen hinunter. War das ein Genuß. Ich verbrachte nun mindestens zwei Stunden in dem Garten, da ich die große Portion nicht auf einmal essen konnte. Zweimal kam der Mann aus dem Haus und sah nach mir. Einmal rief er sogar die Frau heraus, daß sie sich das auch ansah. Ich weiß nicht, ob das die Frau von dem Mann war oder die Köchin. Aber das ist ja auch egal. Nach diesem guten Essen wurde ich natürlich müde und mußte aufpassen, daß ich dort nicht einschlief. Dann hörte ich plötzlich, daß die Kirchturmuhr viertel vor zehn schlug. Also bellte ich nochmals ein kurzes Dankeschön in Richtung des Hauses. Aber dort war man wohl inzwischen mit anderen Dingen beschäftigt. Dann rannte ich los. Ja, und da bin ich nun“.
Die drei Freunde waren mit dem Ablauf des ersten Tages wirklich zufrieden. Wenn der zweite Tag auch so gut verlief, würde man um diese Zeit morgen abend wieder zu Hause in der gewohnten Umgebung sein. Für zwei Tage von zu Hause fortlaufen war gewagt genug. Die anderen beiden würden sicherlich mit einer strengen Ermahnung davonkommen, aber der Nero würde wohl ebenso sicherlich von seinem Kohlenhändler Prügel bekommen. Aber das hatte Nero bisher immer gut überstanden, denn an sich schlug der Kohlenhändler nur ungern und auch nie sehr hart zu.
Jetzt legten sich die drei aber ins weiche Moos und da es ja noch immer warm war, schliefen sie auch nach kurzer Zeit bereits fest.

DER ZWEITE TAG:

Emir war als erster wach. Interessiert schaute er sich in der Umgebung um, kam dann aber, als er nichts aufregendes finden konnte, zurück und weckte die anderen beiden. Nero war sofort hellwach, denn natürlich hatte er gemerkt, daß Emir bereits auf war. Nur bei Rollo dauerte es etwas, bis auch er soweit war. Hatte er doch gerade noch so schön geträumt.
Nero streckte sich und trabte dann zum nahen Bach, um ein erfrischendes Bad zu nehmen. „Herrlich“, rief er, „kommt doch her, das ist das richtige zum Wachwerden“. Doch Emir und Rollo standen nur und staunten. Nicht für ein Stück saftige Rinderlende wären sie zu Nero in den kalten Bach gesprungen. So warteten sie denn, bis Nero sich wieder zu ihnen gesellte, nachdem er sich vorher noch kräftig geschüttelt hatte.
Natürlich hatten die beiden den letzten Teil von Neros Erzählung noch nicht vergessen und blickten ihn daher jetzt erwartungsvoll an. Etwas völlig unerwartetes nahm jedoch ihre Aufmerksamkeit plötzlich gefangen. Vergessen war der Rest von Neros Knochen. Alle drei blickten gespannt auf die Straße zur Stadt, die in einiger Entfernung von ihrem Rastplatz vorbeiführte. Auf dieser Straße kamen langsam fünf Planwagen daher, die von jeweils zwei Pferden gezogen wurden. - Die waren aber schon früh unterwegs.
Rollo sagte: „Das sind Zirkuswagen, so etwas habe ich schon mal gesehen. Da müssen auch Tiere dabei sein“.
Weder Nero noch Emir konnten sich unter dem Begriff Zirkus etwas vorstellen. So war es denn an Rollo, den beiden anderen zu beschreiben, was er selbst darüber wußte. Es war schon lange her, daß er mit seinem Professor, der damals von einem Freund begleitet wurde, an einem Zirkus vorbeigekommen war. Trotzdem konnte er sich noch ganz gut erinnern, was er dabei von den beiden gehört und auch selbst gesehen hatte.
„Also, ein Zirkus besteht aus einer Gruppe von Menschen und einer Gruppe von Tieren, die zusammen von Ort zu Ort fahren und Kunststücke vorführen. Um diese Kunststücke zu sehen, müssen die anderen Menschen dann Geld bezahlen“.
Das brachte Emir sofort auf die Idee: „Vielleicht könnten wir dann ja auch mal zum Zirkus gehen. Was müssen die Tiere denn da können?“
Auch darüber hatte Rollo etwas gehört. „Erstens müssen die Tiere alle möglichen Tricks können, wie zum Beispiel Wettläufe auf zwei Beinen oder durch feurige Reifen springen. All das müssen sie immer dann machen, wenn die Zirkusleute das wollen. Die geben Kommandos und wenn das Tier nicht will oder nicht kann, bekommt es Schläge. Und zweitens bekommen die Tiere kein Geld für diese Kunststücke. Das Geld erhalten nur die Zirkusmenschen“.
Das war denn doch nicht das, was Emir sich darunter vorgestellt hatte. „Wenn das stimmt, was du da erzählst, dann ist das doch sehr ungerecht“.
Jetzt mischte sich auch Nero ein, der bisher still zugehört hatte. „Wenn ich euch manchmal so reden höre, kann ich nur feststellen, daß ihr vom wirklichen Hundeleben keine Ahnung habt. Ihr denkt, nur weil der Professor und der Willy euch beide, bei Kost und Logis auch noch gut behandeln, daß das das Normale ist. Ihr wißt, wie es mir oft ergeht. Aber auch ich bin noch fein raus. Es gibt viele Hunde, die leben wild, ohne ein Zuhause. Die können nur betteln oder klauen. Stellt euch aber nicht vor, daß das dann so geht wie bei uns gestern Abend. Ich bin nur mit euch beiden losgezogen, weil ich glaube, daß man für zwei Tage auf sein Glück vertrauen kann. Schlimmstenfalls wären wir am Ende des zweiten Tages ausgehungert wieder zu Hause angekommen und unsere Herren hätten uns zurückgenommen, ja sich vielleicht sogar noch gefreut.
„Vielleicht sind aber diese Zirkustiere auch gar nicht so schlecht dran. Denn auch unter den Zirkusleuten gibt es sicherlich sogenannte Tierfreunde. Wenn die Tiere also gut zu essen bekommen, versucht manch eines gern dafür auch Kunststücke zu machen. Was sollen die Tiere denn auch mit Geld?“
Jetzt hatte aber Emir doch Einwände. „Was passiert denn aber, wenn die Tiere zu alt werden, um weiterhin Kunststücke zu machen? Wir können doch beruhigt in unsere Zukunft blicken, denn uns wird man doch wohl behalten bis zum Ende. Das hab ich mir jedenfalls immer als vollkommen selbstverständlich vorgestellt. Die Zirkusleute, die mit Hilfe der Tiere aber nur Geld verdienen wollen, werden die älteren Tiere, mit denen man kein Geld mehr verdienen kann, vielleicht sogar fortjagen. Ob die sich dann aber noch an das wilde Leben, von dem du, Nero, sprachst, gewöhnen können? Denn auch das kann man sich ja nur vorstellen, wenn man noch nicht alt ist. Wirklich, wenn man mal alt ist, muß man sein Zuhause haben.“
„Na, dann gehen wir also nicht zum Zirkus. Ich wüßte auch nicht, was für außergewöhnliche Fertigkeiten ich dort anbieten könnte“, schloß jetzt Rollo das Thema.
Nachdem sie alle drei etwas an Neros Knochenrest herumgenagt hatten, bemerkten sie plötzlich, daß sie aus der Ferne beobachtet wurden. Unter einer Baumgruppe standen ein paar verwahrloste Hunde. Sie hatten offensichtlich Hunger und warteten, ob vielleicht etwas von dem Knochenstück übrig bleiben würde.
Nero hatte sie zuerst gesehen und sagte zu den anderen beiden: „Das ist ja ein jämmerlicher Anblick. Mit dem Zirkus haben die wohl nichts zu tun. Das sind solche verwilderten Hunde, die kein Zuhause haben. Lassen wir Ihnen das, was vom Knochen noch übrig geblieben ist. Ist leider nicht mehr viel dran, aber mehr haben wir ja auch nicht.“
„Jetzt weiß ich auch, warum immer von ‚armen Hunden‘ gesprochen wird.“ Meinte jetzt der erstaunte Emir. „Die wären ja wohl auch nicht einmal in der Lage, sich so eine Mahlzeit zu verschaffen, wie wir gestern. Kaum ein anderer Hund und bestimmt kein Mensch würde ihnen trauen.“
Der gutmütige Rollo meinte: „Wenn wir die gestern getroffen hätten, dann hätte man ihnen noch etwas mitbringen können. Aber jetzt haben wir ja auch nicht mehr als das Knochenstück. Am besten wir ziehen weiter, dann können sie sich über das, was noch da ist, hermachen. Ich hätte jetzt doch keinen Appetit mehr, nachdem ich das gesehen habe.“
Da sie heute nach Hause zurück wollten, ohne jedoch den gleichen Weg wie gestern zu benutzen, hatten sie wieder eine ganz schöne Wegestrecke vor sich.
Zuerst mußten sie ein Waldstück mit viel dichtem Unterholz durchqueren. Emir ging voran, dann folgte Rollo und den Abschluß machte Nero. Rollo hatte es beim Vorwärtskommen natürlich am schwersten. Emir suchte aber den jeweils gangbarsten Weg aus.
In der Ferne hörten sie jetzt auffälliges Knacken des Unterholzes. Was immer es war, es kam rasch näher. Da war es. Ein Rehkitz stutzte kurz, als es sie sah, wich etwas von der alten Richtung ab, setzte dann aber seinen Weg fort. Das Knacken im Unterholz kam aber immer noch näher. Da kam also noch jemand. Jetzt erschien ein großer Jagdhund, der so vom Jagdeifer erfaßt war, daß er die unerwartete Begegnung zuerst gar nicht richtig einzuordnen wußte. Direkt vor Emir kam er zum Stehen. Gerade wollte er sich wütend auf den guten Emir stürzen, der ihm offensichtlich seine Jagd verdorben hatte, als er das heisere Gekläffe und das warnende kurze Bellen der beiden anderen hörte.
Sein starrer Blick war jetzt auf Nero gerichtet, der sich nach vorne neben Emir gestellt hatte. „Was fällt euch denn ein. In diesem Wald habt ihr doch nichts zu suchen. Ich kenne alle Hunde in der Umgebung, euch habe ich aber noch nie hier gesehen. Wartet nur bis mein Jäger kommt. Dann könnt ihr euch mit einer Ladung Schrot im Rücken ja mal überlegen, ob es ratsam ist, in unserem Revier herumzustreichen.“
Jetzt trat auch Rollo nach vorne. „Das ist ja wohl das Erbärmlichste, was es gibt. Ein Hund hilft den Menschen, ein anderes Tier, und dann noch so ein kleines wie dies junge Reh, zu töten. Du mieses Vieh, versuch doch mal, es mit uns aufzunehmen“.
Erstaunt sah der große Jagdhund den kleinen runden Rollo an. Zugegeben, Rollo hatte da eine etwas große Klappe gehabt, aber er war so wütend, daß er vielleicht nicht einmal an die sichere Deckung durch seine beiden größeren Freunde gedacht hatte.
Als der Jagdhund sich laut bellend entfernte, wohl um seinen Jäger zu holen, sahen auch unsere drei Freunde zu, daß sie weiter kamen. Denn auf ein Treffen mit dem fremden Jäger wollten sie es nicht ankommen lassen.
Ihr Weg führte sie jetzt dicht an der Landstraße entlang. Sie waren noch nicht viel weitergekommen, als sie ein Schild sahen. ‚Zugang zu den Waldgebieten nur nach vorheriger Genehmigung durch die Gemeindeverwaltung‘ stand in großen Lettern auf diesem Schild. Überlegend standen sie davor.
„Da habt ihr's“ meinte Emir, „man muß erst um Erlaubnis fragen, bevor man in den Wald gehen darf.“
Jetzt wollte Nero wissen: „Sag mal Rollo, was ist das eigentlich, diese sogenannte Verwaltung?“
Jetzt war der kleine Rollo in seinem Element. Schwierige Fragen seiner Freunde beantworten, ja das machte Spaß. Es war doch gut, daß sein Herrchen so klug war. Es ließ sich ja auch gar nicht vermeiden, daß ein Professoren-Hund so ein kleines bißchen von den Überlegungen und Gesprächen der klugen Herren abbekam. Dieses bißchen war aber natürlich unter Hunden eine ganze Menge.
„Ja, so eine Verwaltung, das ist eine Stelle, die für viele Menschen gleichzeitig das macht, was jeder einzelne nicht selbst machen könnte.“ Begann Rollo seinen Vortrag, wurde aber sofort von Emir unterbrochen: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß da so sehr vieles ist, was mein Willy, oder nehmen wir doch mal deinen Professor, nicht selbst machen könnte. So sehr viel klüger können die bei der Verwaltung doch auch nicht sein.“
„Sind sie auch nicht. Bestimmt nicht klüger als mein Professor. Aber das ist auch nicht immer notwendig. Ihr müßt euch vorstellen, daß es Angelegenheiten gibt, die nicht nur einen alleine, sondern eine Vielzahl von Menschen betreffen - nehmt doch zum Beispiel mal die Verwaltung des gemeinschaftlichen Geldes. Ebenso gibt es vieles, was nicht jeder einzelne für sich entscheiden kann. Denn dann würde es ja möglicherweise ein großes Durcheinander geben. Für solche Aufgaben wird dann die Verwaltung für die Gemeinschaft tätig.“
„Ja, aber,“ meinte jetzt Nero, „besteht denn diese Verwaltung nicht auch nur aus ganz normalen Menschen? Die werden doch immer in ihrem Sinne - also im Interesse der Mitglieder dieser Verwaltung - entscheiden. Sicherlich dürfen die Hunde der Verwaltung auch durch diesen Wald laufen.“
„Natürlich ist es wichtig, daß die Verwaltung ihre Aufgaben uneigennützig ausübt. Könnt ihr euch vorstellen, daß die kleinste Gemeinschaft, die sogenannte Familie ist? Auch in der Familie gibt es eine Person, die das Geld verwaltet und für den täglichen Bedarf einkauft. Stellt euch vor, sie oder er würde immer zuerst ins Café oder ins Wirtshaus gehen und erst dann von dem, was noch übriggeblieben ist, für die Familie einkaufen. Ihr seht, es fängt bereits im einzelnen kleinen Haushalt an. Nicht umsonst wird auch die Verwaltung von Geld bei den um vieles größeren Gemeinschaftsgruppen ‚Haushalt‘ genannt. Damit nun sichergestellt ist, daß die Verwaltung nicht für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft arbeitet, gibt es genau festgelegte Regeln. Das sind zum Beispiel die Gesetze, die das Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft möglichst genau festlegen.“
Rollo war ganz stolz, wie er das so ´rausgebracht hatte, aber Nero meinte nur gelangweilt: „Wen interessiert das denn schon. Ich dachte du würdest jetzt etwas über das, was die Leute ‚Politik‘ nennen, sagen. Davon hört man ja so viel, daß ich auch gerne wüßte, was das denn eigentlich ist.“
Emir fand Rollo´s Vortrag ziemlich gut. Darum sagte er jetzt: „Das mit der Verwaltung hast du wirklich ganz toll erklärt, Rollo. Jetzt kann ich mir darunter auch etwas vorstellen. Natürlich sind da noch viele Fragen. Aber sag mal, hat denn das mit der Verwaltung nicht auch irgendwie etwas mit der Politik, von der Nero etwas wissen möchte, zu tun?“
Wenn Rollo von Nero´s Meinung über seine Erläuterungen zur Verwaltung enttäuscht war, so ließ er es sich nicht anmerken. Um so mehr freute er sich aber über das, was Emir sagte.
„Natürlich hast du recht, Emir. Politik und Verwaltung haben tatsächlich etwas miteinander zu tun. Nicht umsonst nennt man die Verwalter der größeren Gemeinschaften, zum Beispiel der Gemeinden und Länder oder der Bundesrepublik auch Politiker, das heißt nichts anderes als die für den Staat oder das Gemeinwesen Zuständigen.“
„Ja, und die Parteien, wo kommen die da nun ´rein?“ wollte Nero jetzt wissen.
„Nun hört aber allmählich auf. Schließlich bin ich ja nur der Hund des Professors,“ ließ sich jetzt Rollo hören. Aber natürlich hatte er auch darüber etwas gehört - ein guter Hund hört eben alles.
„Du hast vorhin bezweifelt, Nero, daß die sogenannten Verwalter, als ganz normale Menschen, immer vollkommen uneigennützig handeln würden. Da dieses ja aber äußerst wichtig für das Funktionieren solch einer Verwaltung ist, gibt es auch Regeln, die als Leitfaden für die Verwaltung aufgestellt werden. Diese Regeln müssen natürlich im Sinne und im Interesse der ganzen Gemeinschaft - soweit dies eben möglich ist - aufgestellt werden.“
„Da hast du es. Solche Regeln gibt es ja gar nicht. Als wenn die ganze Gemeinschaft immer nur das gleiche will.“ warf jetzt auch Emir ein.
„Aber seid doch nicht so ungeduldig. Wartet doch ab. Also jetzt sind wir da, wo die Parteien in diese Geschichte mit hineinkommen. Da nicht jeder Bürger ständig gefragt werden kann, wählt man einige aus, denen die Bürger vertrauen. Diese müssen dann alle aufkommenden Fragen besprechen, bis sich eine Mehrheit für eine Entscheidung gefunden hat. Um auch hier nicht eine Vielzahl vollkommen verschiedener Meinungen und Interessen entstehen zu lassen, bildet man Gruppen. Das sind die sogenannten Parteien. Diese Parteien sind nun nicht nur in der Bürgerversammlung tätig, dem sogenannten Parlament, von dem es eines in jeder Gemeinde, in jedem Land und schließlich das wichtigste, das Bundesparlament, gibt, sondern die Parteien sind auch ständig dabei die nächsten Wahlen vorzubereiten. Und da auch die Meinungen der einzelnen Gruppen oft sehr weit auseinanderklaffen, ist es für jede Partei wichtig zu versuchen, bereits vor der Wahl eine Mehrheit der Bürger von den Vorzügen ihrer Pläne, sie nennen das ihr Programm, zu überzeugen. Eine jede Partei ist bestrebt, im nächsten Parlament die meisten Vertreter zu haben. Diese Vertreter werden dann versuchen, durch die Mehrheit ihrer Stimmen das als neues Gesetz einbringen, was sie als Partei ihren Wählern vor der Wahl versprochen haben - oder auch etwas anderes.“
Nach kurzem Nachdenken meint Nero: „Ach, darum wird also überall so viel von Parteien geredet und gestritten. Das ganze hört sich nicht so sehr vertrauenerweckend an, finde ich. Aber vielleicht gleicht sich ja das Risiko durch die große Anzahl der Verantwortlichen etwas aus. Ich meine, daß dann auch genügend wirklich gute und wachsame Leute dabei sein müßten.“
Emir ist ganz stolz auf seinen Freund Rollo. „Das muß man dir lassen, erklären kannst du uns das wirklich gut. Ich möchte wissen, ob alle Professoren-Hunde so klug sind wie du, Rollo.“
Aber Rollo hatte jetzt andere Sorgen. Sie waren nämlich die ganze Zeit, wenn auch nicht sehr schnell, weitergewandert. Jetzt warf er sich vollkommen erschöpft ins Gras. So lange er am Erzählen gewesen war, ging es ja noch, aber jetzt mußte er sich erst einmal ausruhen. Er spürte, daß sie seit dem Morgen, nur unterbrochen durch kurze Pausen, unterwegs waren. Wie schon am ersten Tag bedurfte es nur dieses Hinweises, und auch der gute Emir spürte plötzlich die Anstrengung der Wanderung.
Nero blickte kurz nach dem Stand der Sonne und dann auf die umliegenden Hügel. „Wir sind zwar tüchtig marschiert, wie ihr aber an der Umgebung sehen könnt, sind wir trotzdem noch weit entfernt von unserer Stadt. Sicherlich sind wir heute durch unsere angeregte Unterhaltung doch nicht so schnell vorwärts gekommen wie gestern. Wenn ich mich nicht irre, müssen wir noch um das Ende dieser Hügelkette, bevor wir die Stadt sehen können. Ich vermute dort drüben bei den Bäumen einen kleinen Bachlauf. Vielleicht können wir uns da ja etwas erfrischen.“
Und wirklich hatte Nero, der in diesen Dingen ja doch etwas erfahrener war als die anderen beiden, recht mit seiner Vermutung. Das Wasser war kühl und es schmeckte gut.
So kam man denn überein, zuerst etwas im Schatten der Bäume auszuruhen, dann aber kräftig auszuschreiten, um möglichst noch vor Dunkelheit die Stadt und die jeweiligen Zuhause der drei zu erreichen.
Bevor sie jetzt wieder aufbrachen, wollte jeder noch etwas zu ihrer Wanderung, ihrem Abenteuer, sagen. Es war nämlich abzusehen, daß sie Mühe haben würden, vor Sonnenuntergang zu Hause anzukommen.
Emir war der Erste, der seinen Gefühlen Ausdruck verleihen wollte. „Ich weiß, ihr werdet mich vielleicht auslachen, aber sagen möchte ich es jetzt doch.“
Nero konnte sich nicht zurückhalten: „Wenn du noch etwas zu sagen hast, dann leg man los. Deine Einleitung hat unsere Erwartungen schon auf ein Höchstmaß gesteigert.“
Aber Rollo meinte begütigend: „Laß ihn man, Nero. Ich möchte nämlich auch noch etwas sagen, solange wir noch Zeit dafür haben. Also schieß los, Emir.“
„Ach, ihr macht das so spannend. Was ich sagen wollte ist, daß unsere Wanderung mir sehr gut gefallen hat. Selbst, wenn sie ungewohnt anstrengend war, so haben wir doch sehr viel erlebt in den zwei Tagen. Mehr als in vielen Wochen zu Hause. Ich hatte auch nicht erwartet, daß ich so viel neues lernen und kennenlernen würde. Wenn ihr wieder einmal loszieht, denkt auch an mich.“
Selbst Nero, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte, war von Emirs kleiner Rede berührt. Ihm lagen solche Aussprachen überhaupt nicht. Das versuchte er jetzt zu überspielen, indem er lächelnd zu Emir gewandt sagte: „Du bist zwar ein verweichlichter Schönling, wie ich immer schon gesagt habe, aber als Freund und auch als Gefährten auf so einer Wanderung möchte ich dich nicht missen. Wenn ich noch mal losziehen sollte, dann nur mit euch beiden.“
„Also, wie sollte es anders sein, jetzt erwartet ihr beiden wohl von mir, daß ich die richtigen Worte finde, um unsere Wanderung zusammenfassend abzuschließen. Und das, obgleich wir noch gar nicht zu Hause sind. Da dies aber die letzte Möglichkeit ist, in Ruhe darüber zu reden, will ich auch meinen Senf dazu geben. Zu allererst möchte ich euch beiden zustimmen. Wenn ich noch einmal in meinem Leben so etwas Anstrengendes wie eine Wanderung unternehmen sollte, dann nur zusammen mit euch. Wie Emir schon sagte, es ist erstaunlich, was man auf so einer Wanderung alles erleben kann. Denkt nur zurück an gestern abend, oder an den Zirkus oder an unser Abenteuer im Wald. An die verwilderten Hunde mag ich euch gar nicht erinnern. Wir haben es ja wirklich gut, wir drei. Denn wir sind doch ziemlich sicher, daß man uns zu Hause nicht nur wieder aufnehmen wird, sondern wir hoffen oder erwarten sogar, daß man sich freut, uns wiederzuhaben. Gerade nach solchen Erlebnissen sollten wir aber gelernt haben, daß das gar nicht so selbstverständlich zu sein braucht. Deshalb dürfen wir es auch nie übertreiben. Es ist gut, wenn man als Genosse eines Menschen geduldet wird. Da, wo man aber sogar wahre Zuneigung findet, sollte man versuchen auch den Menschen unsere Dankbarkeit zu zeigen. Ich habe mir gerade vorgenommen, auch der Haushälterin meines Professors gegenüber nicht mehr so fies zu sein. Selbst, wenn sie ja dafür bezahlt wird, uns zu versorgen.“
Wenngleich ein Teil dieser kleinen Rede für die beiden Freunde zu anspruchsvoll und daher nicht voll verständlich war, bellten beide doch kurz ihre Zustimmung - was einem menschlichen „hört, hört“ entsprochen hätte.
Danach beeilten sie sich, so schnell es ging, durch die jetzt immer bekannter werdende Gegend ihr Ziel, ihr Zuhause, zu erreichen.....
 



 
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