Herbert Stahlvogel
Mitglied
Die Welt des Tommy Whistle
Sie nannten ihn Tommy Whistle, Whistle wie die Flöte. Aber sein richtiger Name war Tom Feile. Niemand wusste, woher er kam oder wohin er ging. So wie er plötzlich auftauchte, so war er auch wieder verschwunden. Aber wenn er durch die Straßen der Dörfer ging, schlürfend, mit den Händen in den Hosentaschen, konnte man ihn schon von weitem pfeifen hören. Seine Augen hatten den Glanz von Silber, seine Haare die Farbe des Goldes und obwohl er nicht einen Groschen besaß, durchreiste er die Welt in einer Zufriedenheit, dass sich alle über diesen Burschen wunderten. Es hieß, die Sonne würde ihm folgen, denn wo er hinging, gab es keine hängende Wolken und keine finsteren Tage.
Er liebte die Vielfalt der Natur mit ihren Geheimnissen und Abenteuern und weil sie hierzulande über mehrere Morgen Land verbreitet waren, verschlug es ihn immer wieder an die selben kleinen Flecke dieser Erde zurück.
So pendelte er mit leichtem Gang, als trügen ihn Melodien durch die langen schlängelnden Wege von einem Ort zum anderen.
Wenn er am Fluss unseres Dorfes ankam, an jener Stelle, von der aus man ihn pfeifen hören konnte, rannten die Kinder aus ihren Häusern und begrüßten ihn mit: „Hi, Tommy Whistle.“
Selbst die alte gebrechliche Menschen trippelten an ihre Fenster und lauschten seinen Klängen.
Tommy drehte sich dann um, so wie er es immer tat und nickte ihnen freundlich zu.
War das der Grund, weshalb die Sonne sein steter Begleiter war?
Niemand wusste es, so wie keiner das Geheimnis seiner betörenden Lieder kannte.
Es schien, als ob die ganze Welt auf Tommy Whistle warten würde.
Als er wieder einmal an der Straße unseres Dorfes vorbeischlurfte, flitzte ein Junge mit einem Beutel unter dem Arm aufgeregt auf ihn zu.
„Hi Tommy Whistle. Schau mal was ich habe.“
Er öffnete den Beutel mit der linken Hand und zog mit der rechten eine Piccoloflöte heraus, die so alt aussah, als wäre sie von Generation zu Generation weitergereicht worden.
Freudestrahlend hielt er sie ihm vor’s Gesicht, aber Tommy sah nur flüchtig hin und ging seinen Weg weiter, ohne ein Wort zu sagen - pfeifend und mit den Händen in den Taschen. Das ärgerte den Jungen und er setzte die Flöte an den Mund und spielte eines seiner schönsten Lieder, in der Hoffnung, Tommy würde stehen bleiben. Doch Tommy drehte sich nicht um. Der Junge packte seine Flöte wieder ein und hastete ihm hinterher.
„Hey Tommy Whistle. Warte!“ Er lief so schnell er konnte und als er ihn eingeholt hatte, sagte er angestrengt und außer Atem:
„Willst du’s denn nicht auch mal probieren?“
„Nein, danke. Ich pfeife lieber.“
Der Junge sah ihn entgeistert an:
„Aber warum denn? Hast du denn nicht gehört, wie schön sie klingt?“
„Warum pfeifst DU denn nicht und lässt das Flöte spielen sein?“
„Weil ich besser Flöte spielen kann.“
„Siehst du, das selbe dachte ich auch“, und damit ging Tommy zufrieden weiter.
Der kleine Junge gab sich mit der Antwort nicht zufrieden und watschelte ihm hinterher, beobachtete, überlegte, beobachtete wieder und wunderte sich, wie Tommy Whistle die Gegend bestaunte, mit fremden Blicken und Augen, die niemals zu ruhen schienen.
Stunden vergingen, in denen sie an Wiesen und Wälder, plätschernden Bächen und langen schmalen Flüssen vorbeikamen. Er blieb an hohen stämmigen Bäumen stehen und klopfte auf Holz, schöpfte an Bächen frisches Wasser mit seinen Händen, die er zu einer Grube formte und lies es durch seine Finger fliesen, ohne es zu trinken.
Im Gras summte er vor sich hin, sah eine Ameisenkolonie zu, wie sie im Gleichschritt über seine Finger wanderten. Aber die meiste Zeit war er am pfeifen.
Der Junge grübelte über Tommys seltsames Verhalten. Er wusste zwar nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber da er nun schon so lange mit ihm gegangen war, nahm er allen Mut zusammen und fragte ihn das, was er schon immer wissen wollte:
„Sag mal, woher hast du eigentlich all diese Lieder her?“
Tommy blieb stehen und sah ihn nachdenklich an. Der Junge hatte leuchtend grüne Augen mit großen runden Pupillen und einen wissbegierigen Blick. Auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß und sein Gesicht schien ledrig und ausgetrocknet zu sein. Die braunen langen Haare fielen ihm glatt über die hageren Backen und machten eine leichte Welle zum Kinn. Um die Nase waren viele kleine Sommersprossen, wie Regentropfen. Tommy richtete seinen Blick wieder auf die Augen, die ihn geduldig ansahen, ließ sich von ihnen hineinziehen, tiefer und tiefer, bis er in ein wundersames Licht versank.
„Tommy?“ sagte der kleine Junge verwirrt. Er riss sich los, breitete seine Arme zu Flügeln aus und antwortete:
„Weißt du kleiner Mann, diese Lieder sind die Stimmen der Natur. Wenn man aufmerksam ihren Klängen lauscht, kannst du sie jeden Tag hören. Wenn ich morgens aufwache höre ich den Gesang der Vögel. Wenn ich die Wälder durchstreife höre ich den Wind, der durch die Äste braust und die Blätter rauschen lässt. An euren Häusern zieht der Wind vorbei, klopft an eure verschlossenen Fenster und ruft eure Namen– ich höre ihn, aber ihr hört es nicht. Wenn ich den Bach entlang gehe, höre ich dem Schlängeln des Wassers zu und wenn ich durchs Gras laufe höre ich es brummen und zirpen und auch lispeln. Jeder kann es hören, nur“, er hielt inne, beeindruckt von dem wachsamen Gesicht, „man muss es eben wollen.“
Die Augen des Jungen wurden größer und gierig und sein Gesicht bissig.
„Aber Tommy das stimmt doch gar nicht! Jeder mag deine Lieder und jeder will sie hören!“ Er stampfte wütend den Fuß in den Boden und bemerkte nicht, den Löwenzahn, den er zertrat.
„Ihr hört mich, weil ihr mich hören wollt. Wäre ich bei euch - wie die Natur - immer um euch ist, dann empfändet ihr mich als normal und würdet mich kaum noch beachten. Alles muss für euch neu sein. Wenn es alt ist, verschließt ihr eure Augen und Ohren, obwohl die ganze Welt offen vor euch steht. Ihr müsst euch selbst wieder finden, sonst könnt ihr es nicht erfahren. Schärft eure Sinne. Sie sind abgestumpft, so flach, dass ihr die Welt nur trübe seht. Ihr habt euch an das Schöne so sehr gewöhnt, dass ihr es einfach nicht mehr seht.
Der Junge versuchte zu verstehen.
„Darum hast du mich ignoriert, als ich dir meine Flöte zeigte?“ Er legte seinen Zeigefinger an den Mund, überlegte und deutete zum Himmel. „Du wolltest mir zeigen, wie wir mit der Natur umgehen!“
„Ja kleiner Mann. Die Natur ist das Kostbarste auf unserer Welt. Darum sollten wir auch erkennen wie wertvoll sie für uns ist. Sie ist geduldig; sie wartet auf jeden einzelnen, so lange bis es jeder erkennt. Sie liebt uns so sehr, dass sie sich selbst für uns aufgeben würde. Weißt du wie gefährlich das ist? Ohne sie könnten wir nicht existieren. Wir nehmen ihr einfach die Luft weg, die sie so sehr braucht; wir zerstückeln sie, schränken sie ein und räuchern sie aus. Sollten wir uns ändern, wird sie uns dafür ewig dankbar sein.“
Und damit ging Tommy weiter und sah mal nach links, mal nach rechts, mal in die unerreichbare Weite über ihn, mit der Angst, irgendetwas zu verpassen. Er winkte den Vögeln entgegen, zwinkerte Schmetterlingen und Bienen zu und fuhr mit seinen langen Händen an Bäumen entlang, als wolle er sie streicheln. Er genoss die Wunder der Natur, die Rätsel der Erde, denn er wusste, eines Tages wird es diese Welt, wir er sie kennt, nicht mehr geben. Er blieb auf der Stelle stehen und drehte sich einfach so im Kreis.
Sie nannten ihn Tommy Whistle, Whistle wie die Flöte. Aber sein richtiger Name war Tom Feile. Niemand wusste, woher er kam oder wohin er ging. So wie er plötzlich auftauchte, so war er auch wieder verschwunden. Aber wenn er durch die Straßen der Dörfer ging, schlürfend, mit den Händen in den Hosentaschen, konnte man ihn schon von weitem pfeifen hören. Seine Augen hatten den Glanz von Silber, seine Haare die Farbe des Goldes und obwohl er nicht einen Groschen besaß, durchreiste er die Welt in einer Zufriedenheit, dass sich alle über diesen Burschen wunderten. Es hieß, die Sonne würde ihm folgen, denn wo er hinging, gab es keine hängende Wolken und keine finsteren Tage.
Er liebte die Vielfalt der Natur mit ihren Geheimnissen und Abenteuern und weil sie hierzulande über mehrere Morgen Land verbreitet waren, verschlug es ihn immer wieder an die selben kleinen Flecke dieser Erde zurück.
So pendelte er mit leichtem Gang, als trügen ihn Melodien durch die langen schlängelnden Wege von einem Ort zum anderen.
Wenn er am Fluss unseres Dorfes ankam, an jener Stelle, von der aus man ihn pfeifen hören konnte, rannten die Kinder aus ihren Häusern und begrüßten ihn mit: „Hi, Tommy Whistle.“
Selbst die alte gebrechliche Menschen trippelten an ihre Fenster und lauschten seinen Klängen.
Tommy drehte sich dann um, so wie er es immer tat und nickte ihnen freundlich zu.
War das der Grund, weshalb die Sonne sein steter Begleiter war?
Niemand wusste es, so wie keiner das Geheimnis seiner betörenden Lieder kannte.
Es schien, als ob die ganze Welt auf Tommy Whistle warten würde.
Als er wieder einmal an der Straße unseres Dorfes vorbeischlurfte, flitzte ein Junge mit einem Beutel unter dem Arm aufgeregt auf ihn zu.
„Hi Tommy Whistle. Schau mal was ich habe.“
Er öffnete den Beutel mit der linken Hand und zog mit der rechten eine Piccoloflöte heraus, die so alt aussah, als wäre sie von Generation zu Generation weitergereicht worden.
Freudestrahlend hielt er sie ihm vor’s Gesicht, aber Tommy sah nur flüchtig hin und ging seinen Weg weiter, ohne ein Wort zu sagen - pfeifend und mit den Händen in den Taschen. Das ärgerte den Jungen und er setzte die Flöte an den Mund und spielte eines seiner schönsten Lieder, in der Hoffnung, Tommy würde stehen bleiben. Doch Tommy drehte sich nicht um. Der Junge packte seine Flöte wieder ein und hastete ihm hinterher.
„Hey Tommy Whistle. Warte!“ Er lief so schnell er konnte und als er ihn eingeholt hatte, sagte er angestrengt und außer Atem:
„Willst du’s denn nicht auch mal probieren?“
„Nein, danke. Ich pfeife lieber.“
Der Junge sah ihn entgeistert an:
„Aber warum denn? Hast du denn nicht gehört, wie schön sie klingt?“
„Warum pfeifst DU denn nicht und lässt das Flöte spielen sein?“
„Weil ich besser Flöte spielen kann.“
„Siehst du, das selbe dachte ich auch“, und damit ging Tommy zufrieden weiter.
Der kleine Junge gab sich mit der Antwort nicht zufrieden und watschelte ihm hinterher, beobachtete, überlegte, beobachtete wieder und wunderte sich, wie Tommy Whistle die Gegend bestaunte, mit fremden Blicken und Augen, die niemals zu ruhen schienen.
Stunden vergingen, in denen sie an Wiesen und Wälder, plätschernden Bächen und langen schmalen Flüssen vorbeikamen. Er blieb an hohen stämmigen Bäumen stehen und klopfte auf Holz, schöpfte an Bächen frisches Wasser mit seinen Händen, die er zu einer Grube formte und lies es durch seine Finger fliesen, ohne es zu trinken.
Im Gras summte er vor sich hin, sah eine Ameisenkolonie zu, wie sie im Gleichschritt über seine Finger wanderten. Aber die meiste Zeit war er am pfeifen.
Der Junge grübelte über Tommys seltsames Verhalten. Er wusste zwar nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber da er nun schon so lange mit ihm gegangen war, nahm er allen Mut zusammen und fragte ihn das, was er schon immer wissen wollte:
„Sag mal, woher hast du eigentlich all diese Lieder her?“
Tommy blieb stehen und sah ihn nachdenklich an. Der Junge hatte leuchtend grüne Augen mit großen runden Pupillen und einen wissbegierigen Blick. Auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß und sein Gesicht schien ledrig und ausgetrocknet zu sein. Die braunen langen Haare fielen ihm glatt über die hageren Backen und machten eine leichte Welle zum Kinn. Um die Nase waren viele kleine Sommersprossen, wie Regentropfen. Tommy richtete seinen Blick wieder auf die Augen, die ihn geduldig ansahen, ließ sich von ihnen hineinziehen, tiefer und tiefer, bis er in ein wundersames Licht versank.
„Tommy?“ sagte der kleine Junge verwirrt. Er riss sich los, breitete seine Arme zu Flügeln aus und antwortete:
„Weißt du kleiner Mann, diese Lieder sind die Stimmen der Natur. Wenn man aufmerksam ihren Klängen lauscht, kannst du sie jeden Tag hören. Wenn ich morgens aufwache höre ich den Gesang der Vögel. Wenn ich die Wälder durchstreife höre ich den Wind, der durch die Äste braust und die Blätter rauschen lässt. An euren Häusern zieht der Wind vorbei, klopft an eure verschlossenen Fenster und ruft eure Namen– ich höre ihn, aber ihr hört es nicht. Wenn ich den Bach entlang gehe, höre ich dem Schlängeln des Wassers zu und wenn ich durchs Gras laufe höre ich es brummen und zirpen und auch lispeln. Jeder kann es hören, nur“, er hielt inne, beeindruckt von dem wachsamen Gesicht, „man muss es eben wollen.“
Die Augen des Jungen wurden größer und gierig und sein Gesicht bissig.
„Aber Tommy das stimmt doch gar nicht! Jeder mag deine Lieder und jeder will sie hören!“ Er stampfte wütend den Fuß in den Boden und bemerkte nicht, den Löwenzahn, den er zertrat.
„Ihr hört mich, weil ihr mich hören wollt. Wäre ich bei euch - wie die Natur - immer um euch ist, dann empfändet ihr mich als normal und würdet mich kaum noch beachten. Alles muss für euch neu sein. Wenn es alt ist, verschließt ihr eure Augen und Ohren, obwohl die ganze Welt offen vor euch steht. Ihr müsst euch selbst wieder finden, sonst könnt ihr es nicht erfahren. Schärft eure Sinne. Sie sind abgestumpft, so flach, dass ihr die Welt nur trübe seht. Ihr habt euch an das Schöne so sehr gewöhnt, dass ihr es einfach nicht mehr seht.
Der Junge versuchte zu verstehen.
„Darum hast du mich ignoriert, als ich dir meine Flöte zeigte?“ Er legte seinen Zeigefinger an den Mund, überlegte und deutete zum Himmel. „Du wolltest mir zeigen, wie wir mit der Natur umgehen!“
„Ja kleiner Mann. Die Natur ist das Kostbarste auf unserer Welt. Darum sollten wir auch erkennen wie wertvoll sie für uns ist. Sie ist geduldig; sie wartet auf jeden einzelnen, so lange bis es jeder erkennt. Sie liebt uns so sehr, dass sie sich selbst für uns aufgeben würde. Weißt du wie gefährlich das ist? Ohne sie könnten wir nicht existieren. Wir nehmen ihr einfach die Luft weg, die sie so sehr braucht; wir zerstückeln sie, schränken sie ein und räuchern sie aus. Sollten wir uns ändern, wird sie uns dafür ewig dankbar sein.“
Und damit ging Tommy weiter und sah mal nach links, mal nach rechts, mal in die unerreichbare Weite über ihn, mit der Angst, irgendetwas zu verpassen. Er winkte den Vögeln entgegen, zwinkerte Schmetterlingen und Bienen zu und fuhr mit seinen langen Händen an Bäumen entlang, als wolle er sie streicheln. Er genoss die Wunder der Natur, die Rätsel der Erde, denn er wusste, eines Tages wird es diese Welt, wir er sie kennt, nicht mehr geben. Er blieb auf der Stelle stehen und drehte sich einfach so im Kreis.