Die Wortbörse.

5,00 Stern(e) 1 Stimme

pleistoneun

Mitglied
Es war einmal ein Einfall, der ziellos in der Gegend rumflog. Eines Tages hatte dieser Einfall eine Idee. Er dachte, bevor er so ziellos in der Gegend rumhängt, sollte er doch zu den Menschen fliegen, damit er sich dort als Handlung in der Welt manifestieren könnte. Sogleich machte er sich auf den Weg, die Menschen zu besuchen, genauer gesagt, einen beliebigen, denn der Inhalt des Gedankens wäre sowieso für alle Menschen derselbe. Der Gedanke kam an ein Haus, vor dem ein Mann seine tägliche Arbeit machte. Es war ein einfacher, aber zufriedener Brotkorbflechter. Mitten in der Arbeit widerfuhr ihm plötzlich dieser Gedanke. Regungslos hielt er in seiner Arbeit inne und empfand sofort danach den Drang ins Haus zu gehen, um seine Eingebungen zu notieren. Ihm waren bisher solcherlei Geistesblitze fremd, doch wusste er in diesem Moment nicht nur was der Gedanke bedeutete, sondern zugleich auch was zu tun war. Der Brotkorbflechter kritzelte in großer Euphorie seine Erleuchtung auf eine freie Stelle der Morgenzeitung und mit jedem Wort, das er auf das Papier bannte, vollzog er die Geburt einer Sache, die allein durch den Vorgang des Schreibens ihren Sinn verstärkte. Er schuf die Wortbörse.

Die Wortbörse funktionierte so, dass die Menschen für jedes gesprochene Wort bezahlen mussten. Der Wert des Wortes war umso höher, je seltener es ausgesprochen wurde oder je ausgefallener es war. Und bezahlt wurde in der allgemein gültigen Währung: ihrer eigenen Lebenszeit. Menschen, die einen sehr geringen Wortschatz hatten, verwendeten natürlich immer dieselben Ausdrücke zur Verständigung und bezahlten aufgrund dieser Fehlleistung mehr und starben früher als jene, die an exotischen Wortkombinationen und vokabularischen Abnormitäten feilten. An der Wortbörse wurde eine Art Verhältnisskala mit allen jemals ausgesprochenen Wörtern geführt. Jene mit den meisten Nennungen, und daher die Wertlosesten, rangierten im Kurs ganz oben, um auf einen Blick zu sehen, welche gegenwärtig massiv lebensverkürzend waren. Hilfszeitwörter, Wetterbeschreibungen und unzählige Synonyme für das Wort "Problem" wechselten minütlich die Spitzenplätze. Die angesammelte Zeit, der Einsatz der Menschen, die Gegenleistung, die das System forderte, war die Nahrung für den Gott der Illusion. Je mehr artikulatorische Einfallslosigkeit die Menschen produzierten, desto mächtiger wurde dieser Gott und desto mehr konnte er die Menschheit mit seinen materiellen Dingen knechten, verführen, verstricken und letztlich in der materiellen Welt verhaftet halten.

Der einfache Mann wusste nicht, wie die Wortbörse funktionierte und was sein Werk anrichtete. Schon bald war er geblendet vom Erfolg, der ihm beschieden war und wurde ein Opfer seiner eigenen Maschinerie, von Geld und Macht verführt, in der Materie durch den Wunsch noch reicher und mächtiger zu sein, verstrickt und starb stark verfrüht durch die Einseitigkeit seines Jargons. Die Macht eines falschen Gedankens konnte die Welt zum Negativen verändern, aber nur weil er zugelassen wurde und so auch zur Umsetzung gelangte. So endet diese Geschichte mit der Hoffnung, dass es da draußen noch viele gute Gedanken gibt, denen es bald einfallen wird, hierher zu kommen, um dich und mich zu besuchen.

Hinweis: Diese Geschichte mündlich erzählt, kostet umgerechnet 4 Sekunden Ihres Leben.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
prust,

kicher, lach! besonders der letzte satz ist ein echter brüller. vergnüglich zu lesen, das ganze und sehr unterhaltsam. mach mal so weiter!
ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten