Die Würstchenbude

Rakun

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Die Würstchenbude

Der Beweis lag klar auf der Hand. Im wahrsten Sinne des Wortes. Utó streckte seinen linken Arm aus.
„Sieh selbst!“
Tópia wollte kaum glauben, was sie sah.
„Das ist unglaublich! Aber.“
Sie sprach nicht weiter. Herz- und Lebenslinie dürfen nicht unterbrochen werden, war ihr Einwand gewesen. Wir sollten der Natur nicht auf diese Weise ins Handwerk pfuschen und eine andere Körperstelle finden!
„Papperlapapp!“
Bei diesem Ausspruch nahm seine Stimme immer eine tiefere Tonlage an und sie wusste, jede Diskussion war im Keim erstickt. Kein Pro und Contra mehr! Nun hatte er es doch gewagt, der Wissenschaft, der Zukunft zuliebe. Das Ergebnis war umwerfend. Alle Daten waren gut lesbar auf dem Dreiecksbildschirm. In der Handinnenfläche war er implantiert. Die Spitze zeigte zum Handgelenk. Utó betätigte eine der drei Eckpunkttasten.
„Sieh selbst, meine körperliche Verfassung ist einwandfrei, ich befinde mich mitten in der Stadt auf der L-Ebene, mein Gedankenwerk weist keine Störungen auf, Glückshormone leicht erhöht, Außentemperatur 24 Grad Celsius.“

Utó und Tópia hatten lange an der Entwicklung dieses Mikrochips gearbeitet. Das Leben sollte er erleichtern, Menschen in Not umgehende Hilfe leisten. Krankheiten würden sofort richtig diagnostiziert. Nicht nur das, jeder, der sich in ihrer Stadt aufhielt, ganz gleich auf welcher der sechs Ebenen, sollte alles in der Hand haben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein in die Hand implantierter Mikrochip zeigte sämtliche Daten des Trägers sowie der Stadt an. Der Chip würde Blinde führen, ohne Stock, ohne Begleithund. Taubstumme könnten sich mitteilen, jedoch mit implantierten Doppelchips.

Wer ihn eingesetzt hatte, wollte Tópia von Utó wissen, aber ihre Sorge galt vielmehr den zerschnittenen Innenhandlinien. Um den Dreiecksbildschirm war alles blau unterlaufen, das Handgelenk dick geschwollen. Utó schien es nicht zu stören oder zu beunruhigen. Alles im Dienste der Wissenschaft, ohne Rücksicht auf Verluste, war seine Devise.
Auf einmal saß Utó allein mit seinem Meisterwerk und starrte es unentwegt an. Immer wieder drückte er die Bedientasten.
Tópia war gegangen. Sie musste jetzt allein sein, in ihrem Lieblingskiez, den es nur noch in der N-Ebene gab. Hier war alles unverändert. Als ob jemand vergessen hätte, die Lebensuhr weiter zu drehen. Tópias Blick kroch hoch an den Wänden der Häuserblöcke, versteckte sich für einen Moment in Schnitzereien schwerer Holzportale, glitt über kunstvoll geformte Steindämonen und Engelsgesichter. Diese Gegend zog sie magisch an.

Der Wunsch, schoss es ihr wie ein Blitz durch den Kopf. Der Wunsch ist die Lösung! Er löst den Bewegungsmechanismus auf meinem Chip aus! Sie brauchte einen Rollstuhl. Sofort! Sie wusste, wo einer war. Ja, es kann nur der Wunsch sein! Sie hielt ihren Chip fest in der linken Hand und setzte sich in den Rollstuhl. Ihr Wunschdenken bewegte ihn. Ohne Anstrengung, ruhig und gleichmäßig rollte er mit ihr über das Kopfsteinpflaster. Kurz vor einer Hausecke hielt er an, dann setzte er sich wieder surrend in Gang und bog in sanftem Schwung um die Ecke. Mit Klebeband hatte sie den Chip auf ihrer Hand befestigt. So müsste es funktionieren. Sie hatte sich immer geweigert, die Hand aufschneiden zu lassen, um sie mit Technik zu bestücken. Warum hatte Utó jetzt im Alleingang diesen Versuch unternommen?
Nur in ihrem Kiez konnte sie entspannen, dort fühlte sie sich zu Hause. Dass es diese Gegend gab, war ihr Verdienst. Tópia hatte sich gegen alle durchgesetzt. Gegen futuristische Erneuerer, die Genies des Abbruchs. Gegen alle, die die gesamte Stadt dem Erdboden gleich machen wollten. Den Sinn für das Erhalten und Bewahren verloren hatten. Es wird eine Stadt ohne Herz, ohne Charme, ohne Zauber.

Seelenlos wird sie bleiben, hatte Tópia vehement protestiert.
Utó wird mir verzeihen, dachte sie. Er wollte nie, dass sie allein etwas ausprobierte, am liebsten wüsste er jede Sekunde, wo sie sich aufhielt. Seit dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. In ihrem Kiez, an ihrer Würstchenbude. Utó hatte sich damals verlaufen. Er wollte nur nach dem Weg fragen. Solch einen Glückszufall gestattete die ausgeklügelte Technik nun nicht mehr.

Seit dem Tag lebten beide ihre Idee, das Leben zu verbessern, ohne die Natur zu übertölpeln, sondern dankbar die Geschenke aufzuspüren, die das Universum der Menschheit sichtbar vor
die Füße legt. Gleichgültigkeit behinderten die meisten Menschen. Sie erkannten diese Gaben nie. Für Utó und Tópia gab es nichts, das es nicht gab. Allein Tópias Wunsch trieb jetzt den Rollstuhl an.

„Gedanken bringen mich weiter,“ sagte Tópia leise. Sie lehnte sich zurück an die gepolsterte Lehne. Der Stuhl rollte mit ihr über das holperige Pflaster, das in allen anderen Ebenen durch Gleitfäden ersetzt war. Gleitfäden und -netze, die Mobos (Fahrzeuge) bewegten, ohne Lärm, ohne Gestank, unabhängig von Fremdenergien, ohne atmosphärische Verunreinigung. Utó hatte sie von der Spinnkunst der Spinnen übernommen, in akribischer Arbeit in neuzeitliche Gebrauchstechnik umgesetzt. Bei seinem ersten Versuch mussten Schneidbrenner ihn aus seiner Testnetzkonstruktion befreien.
Er hatte Glück gehabt, in seiner Verklebtheit, fast wäre er erstickt. Wie eine dicke, fette Schmeißfliege hatte er zappelnd in seiner Netzidee gehangen. War zur Beute seiner eigenen Kreation geworden.
Danach hatten sie beide den untauglichen Klebeeffekt durch einen Zufall überlisten können. Damals hatte er den zweiten Versuch auch heimlich, ohne ihr Wissen ausgeführt.

„Ich wollte erst ganz, ganz sicher sein“, war seine Entschuldigung gewesen. Tópia erinnerte sich nur allzu gut. Wenn er Adjektive wiederholte, verriet er sich und hatte etwas ausgeheckt. Ganz, ganz sicher. Atemlos hatte er vor ihr gestanden, mit hochrotem Kopf. Danach ging alles sehr schnell. Utó und Tópia wurden als Erfinderpaar des Jahrhunderts mit allen Ehren gefeiert. Sie waren noch jung, lebten ihre Unbekümmertheit und machten sich keine Gedanken über Zeit und Geld, Karriere fördernde Verbindungen zu einflussreichen Persönlichkeiten. Alles lief wie von selbst. Ihr Gleitfädennetzprojekt war der Beginn der sechs Ebenen, die die Stadt von da an bildeten mit Schadstoffabscheidern und Virenabtastern. Das neu entdeckte Material ersetzte alles Vorherige. Dieser neue Baustoff eroberte sogar die Bekleidungs- und Spielzeugindustrie, brachte die totale Unabhängigkeit, gefährdete keine Ressourcen mehr.

Einem riesigen Spinnennetz, in horizontaler Spannung, glich die Stadt, mit versetzt angeordneten Lebensräumen. Tópias Chip machte nun jeden mobil, auch in der untersten Ebene und ihr Erfolg beruhigte die beiden Büpos, die Stadtverwalter. Repos wurden sie scherzhaft genannt, ein sprachliches Relikt aus französischer Besatzerzeit. Ruhe, Pause bedeutet es. Viele meinten, die Büpos gönnten sich zuviel davon. Zu oft hatten sie Tópia unter Zeitdruck gesetzt.
Dies sollte ihr letztes Projekt sein, sie war erfindungsmüde geworden. Sie wollte zurück in die N-Ebene, ohne die neue Sprache, Futó, sprechen zu müssen, in der alle Wörter auf 'ó'
und 'os' endeten. Einfallslos und unlebendig. Mobos waren Fahrzeuge aller Art, Indos Geschäftsleute, Kaufos Käufer, Touros Besucher, Pedos Spaziergänger, ein Junó war man bis zum 20. Lebensjahr. Büpó hieß Bürgermeister. Nach einem unentschiedenen Wahlergebnis in der Vergangenheit hatte man beide Anwärter ernannt. Seitdem regierten zwei Büpos die Stadt und residierten in der obersten Ebene
B. Von dort aus war es nicht weit in die nächste, zu
E, der Ruheebene, mit rieseigen Parks und Seen, langen Spazierwegen und Schweigezonen, an denen nie ein Wort gesprochen werden durfte.
R war für Schulen, Kindergärten, Spielplätze, alle Sportarten, Kinos, Musik- und Theatervorstellungen konzipiert.
L glich einem Tummelplatz. Geschäfte, Büros, digitale Spielhallen, Flaniermeilen mit Straßencafés. Sie waren aus alter Zeit übernommen worden, da man das Neugier- und sensationslüsterne Gen immer noch nicht in den Griff bekommen hatte.
I, hier waren Krankenhäuser und Erholungszentren erbaut mit einem riesigen Gebiet für frei lebende Tiere.
N, die Vergangenheitsebene, in der alles wie früher belassen war. Mit Tópias Lieblingskiez und ihrer Würstchenbude, wo sie und Utó einst ihre Liebe zueinander fanden. Bis dorthin wurden Regen und Schnee geleitet. Letzterer berührte die uralten Steinwege und Straßen. Lag nicht lange dort, weil Laser gesteuerte Schneeerwärmungsstrahlen die weiße Pracht binnen kürzester Zeit in nützliches Wasser verwandelten. Das floss durch extra angelegte Kanalsysteme in Wassertanks der Stadt. Waren diese komplett gefüllt, wurde das übrige wertvolle Nass auf Felder und zu Schrebergärten außerhalb der Stadt geleitet.

Wurstpaule schätzte diese Erfindung am meisten, doch sein leicht aufbrausendes Temperament ließ keinen Zweifel daran, wie sehr und wie viel am Leben vorbei ‚jeplant’ wird.
„Kinder, ick sage euch, nich allet wat neu is, is ooch jut!
Verjesst nie, eener is imma dabei, der det Jute umdreht!“
Jeden Freitag gingen Utó und Tópia zu Paule. Die Freiheit nahmen sie sich. Keine Woche ließen sie aus. Stundenlang hielten sie sich bei Paule auf. Dort waren viele ihrer Ideen, aus dem praktischen Leben heraus geboren. Nicht mit verbissener Konzentration an irgendeinem eckigen, digitalen Flimmerkasten. Bis aufs Messer konnten sich die drei streiten. Manchmal ging es hoch her. Zukunft und Leben waren ihre Themen.

„Kinder“, sagte Paule, „Kinder, man kann det nich einfach übers Knie brechen, det mit de Zukunft!“
Wurstpaule hatte Utó und Tópia immer wieder ermahnt:
„Mit Herz, det jeht nur mit Herz, mit Sinn und Verstand!“
Wie gern standen sie an der wackeligen Holztheke und hörten Wurstpaule zu, wenn er aus vergangenen Zeiten erzählte.
Wie sehr bewunderten sie diesen Mann, seine Lebenserfahrung, seinen nie versiegenden Optimismus. Seine Mundwinkel zeigten immer nach oben, wie bei einem Delphin, lächelnd und freundlich. Wie ein Jongleur schwang er seine Wurstzange und nahm die Würstchen von dem altmodischen Grill.
„Wenn ick mal nich mehr bin, jibt’s och keene Bratwürstchen mehr!“
Nach diesem Satz verspürten sie eine ungewöhnliche Ruhe.
Ihre Blicke wanderten von einem zum anderen. Wurstpaule sah zuerst zu Tópia herüber, liebevoll und eindringlich und dann zu Utó. Tópia drehte den Kopf zu Utó. Ihre Hilflosigkeit konnte und wollte sie nicht verbergen. Sie wünschte, Utó könnte ihre Gedanken lesen. Wie ihr Bewegungschip.
Ernsthaftigkeit und Schwermut schienen auf einmal alles
still stehen zu lassen. Als ob jemand abrupt eine Filmspule angehalten hätte. Die einzige Bewegung, die Utó und Tópia spürten, war die duftende Bratwärme, die die Luft erfüllte.
 



 
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