Die Zeitreise

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Ganimed

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Die Zeitreise

In den letzten Tagen reiste ich in meine Vergangenheit. Ich war bis in meine Jugend zurückgegangen, sah mich auf einem hölzernen Stuhl sitzend, gedankenverloren aus dem Fenster sehend, während vorne an der Tafel ein Lehrer Zahlenkolonnen niederschrieb.

Ich sah mich im Graben liegend, das Glühen meiner Zigarette mit der Hand verdeckend. Auf dem Kopf ein grünes Barett, Kameraden neben mir, und sah wie meine Augen die Sterne zählten.

Ich sah mich auf dem Innenhof der Staatsbibliothek stehend. Um mich herum diskutierende Studenten, Bücher unter dem Arm, schlendernde Professoren, während ich einer Taube zu sah, wie sie mit kräftigen Flügelschlägen zum Himmel aufstieg.

Ich sah mich in einem Büro sitzend. Eine Sekretärin brachte einen Kaffee, Auszubildende lachten, Telefone klingelten, ein Kunde wartete, während ich in die Tasse sah, wo die Milch sich schleierartig im Kaffee verteilte.

Ich sah mich im Krankenhaus. Pfleger und Krankenschwestern kamen und gingen, Ärzte telefonierten, Durchsagen hallten durch die Gänge, während ich Hände hielt und meinen Kopf auf dem Bauch einer Frau gebettet hatte, die Augen ins Nichts gerichtet, von Tränen verschlossen.

Wieder sah ich mich im Krankenhaus. Ein Arzt nickte mir zu, eine Hebamme wischte sich den Schweiß von der Stirn, meine Hand an der Wange einer erschöpften Frau, lächelnd auf meinem Arm ein kleines, noch unbekanntes Wesen.

Ich sah mich in einem Park. Viele ältere Menschen kamen und gingen, Blumen allerorts, Steine wie Monolithen, verknöcherte Bäume. Ich sah mich an einer Kuhle kniend, schwarze Erde in der Hand, geschlossenen Auges, lautlos einen Monolog führend.

Ich sah mich am Hafen auf einem Poller sitzend, mein Sohn neben mir. Wir lachten und alberten, sahen riesige Segelschiffe einlaufen, Hubschrauber und Zeppeline. Ich sah, wie ich meinen Sohn betrachtete, das Leuchten seiner Augen, die kindlichen Gesichtszügen und auch mein eigenes Lächeln. Ich sah, wie er meine Hand nahm und etwas zu mir sagte. Meine Antwort hallt noch jetzt in meinem Kopf. Ich dich auch, mein Sohn, ich dich auch.

Heute fühle ich mich wie ein Hund, der den Regenbogen sieht...



Anm.: Hunde sind Farbenblind
 

rosste

Mitglied
Eine schöne Reise durch Dein Leben.
Eine gute Mischung aus Freude und Melancholie.
Der Hund, der den Regenbogen sieht und gedankenversunken mit der Taube zum Himmel aufsteigt...
Grüsse, Stephan
 



 
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