Die alte Eiche

heidi dorma

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DIE ALTE EICHE
Anita Dormann wuchs als Einzelkind bei ihren finanziell sehr gutgestellten Eltern auf. Trotzdem erzog man sie sehr bodenständig und so lernte sie schon von Kindesbeinen an jeden Pfennig zu schätzen. Anita war ein ruhiges und schüchternes Kind und kränkelte des -öfteren. Das änderte sich auch nicht, als Anita schon eine junge Frau war.
Anitas ganze Liebe galt der Malerei und ihren Pferden. Sie war eine exzellente Reiterin und es brach ihr fast das Herz, als der Arzt ihr eines Tages eröffnete, daß sie eine Allergie gegen Pferdehaare besaß. Schweren Herzens trennte sie sich von ihren 9 Reitpferden. Ihre Eltern ließen danach die Stallungen in ein Atelier umbauen, wo Anita genug Licht für ihre Malerei hatte. Nachdem Anita nun die Pferde nicht mehr in unmittelbarer Nähe um sich hatte, verbesserte sich ihr gesundheitlicher Zustand zusehends.
Gregor Worthmann besaß im Nachbarort ein großes Gestüt. Dorthin kamen Anitas Tiere. Die beiden Familien kannten sich schon seit Generationen. Heiko Worthmann, einer der drei Söhne und Anita verband mehr als nur die Pferde. Heiko war 4 Jahre älter als Anita. Als Anita 22 Jahre alt war heirateten die beiden. Sie waren sich einig, daß sie mindestens 3 Kinder haben wollten. Die Eltern von Anita und auch die von Heiko waren über diese Ehe hoch erfreut. Obwohl sie ihren Kindern bei der Partnerwahl freie Hand gelassen hatten, wurde ein Ehevertrag gemacht und Gütertrennung vereinbart.
Wegen Anitas Pferdehaare-Allergie wohnte das junge Paar im Hause Dormann. Das Gebäude hatte so viel Platz, daß noch 3 bis 4 Familien mit Kindern bequem dort hätten wohnen können. Zu dem Haus gehörte ein riesengroßes Anwesen, welches durch die Bediensteten tadellos gepflegt wurde.
Vor den ehemaligen Stallungen – dem jetzigen Atelier – stand eine sehr alte und äußerst markant gewachsene Eiche. Anita liebte diesen Baum sehr. Schon als kleines Kind hatte sie oft in seinem Schatten hier gespielt.
Als Anita nach einem halben Jahr Ehe schwanger wurde waren sie und Heiko überglücklich. Anita fühlte sich anfangs nicht so sehr wohl, doch das änderte sich ab dem 3. Schwanger- schaftsmonat. Danach fühlte sie sich sehr gut. Täglich ging sie nun in ihr Atelier und malte, was der Pinsel hergab. Für ihre Bilder benutzte sie das Pseudonym A. Bende. Bende war der Mädchenname ihrer Mutter. Als Anita erfuhr, daß sie einen Sohn bekommen würde, beschloß sie ein Bild für das Kinder- zimmer zu malen. Anita sah schon in Gedanken das fertige Bild vor sich: Fast mittig die alte Eiche, an den Stamm gelehnt einen Teddy mit blauer Schleife, daneben ein Pferd – Lucy, Anitas Lieblingsstute – und anstatt der sonst üblichen Sonne dachte sie an einen Engel mit blonden Locken, der mit lustigen Augen aus einer Wolke hervorschaut. Anita baute die Staffelei auf und schon eine Woche später war das Kunstwerk fertig. Auch Heiko gefiel das Bild und – um seiner Frau eine Freude zu bereiten – organisierte er für sie eine Vernissage. Da sich aber Anita im Grunde von keinem ihrer Bilder trennen wollte, setzte sie die Bildpreise so hoch an, daß sie sicher war, keines davon verkaufen zu können. Bei dem Bild für das Kinderzimmer schrieb sie gleich: „unverkäuflich“. Doch es kam ganz anders. Von den 34 Werken wurden nur 5 nicht verkauft. Diese Bilder stellte sie in eine kleine Kammer, die sowieso leer stand. Auch das Bild, das für das Kinderzimmer gedacht war, stellte Anita dazu, denn der Raum ihres Sohnes, der Alexander heißen sollte, mußte noch renoviert werden.
Bis zur Geburt ihres Sohnes waren es jetzt noch 7 Wochen. Es war die letzte Augustwoche. Das Thermometer zeigte 33°C im Schatten an. Anita hatte sich hingelegt. Die Hitze machte ihr arg zu schaffen. Das Telefon klingelte – ihr Schwiegervater war am anderen Ende. Heiko, der das väterliche Gestüt verwaltete, hatte Probleme mit Stella, die fohlen sollte. Das Pferd gehörte Anita. Sie setzte sich ins Auto und fuhr hin. Vor dem Stall standen Heiko und der Tierarzt. Es stand nicht gut um das Tier. Anita wollte sich selber davon überzeugen und ging in den Stall hinein. Als sie Stella sah, erschrak sich Anita sosehr, daß sie sich festhalten wollte, doch sie fand keinen Halt. Heiko versuchte noch seine schwankende Frau aufzufangen, aber er konnte Anita nicht festhalten und so stürzte sie direkt neben das Pferd. Vor Schreck und vor Schmerzen trat das Tier aus und trat Anita dabei in den Bauch. Noch bevor der Rettungswagen eintraf erlitt Anita eine Fehlgeburt. Danach wurde sie ohnmächtig . Als Anita am nächsten Tag aus ihrer Ohnmacht erwachte erfuhr sie von dem Chefarzt, daß sie nie wieder ein Kind bekommen konnte. Für Anita und für Heiko brach eine Welt zusammen. Nachdem Anita die Klinik verlassen durfte, verkroch sie sich im Hause. Selbst in den Garten zu ihrer heißgeliebten Eiche ging sie nicht. Heiko, seine Eltern und auch Anita´s Eltern kümmerten sich rührend um sie. Nach gut einem Monat hatte Anita endlich die schlimmsten Depressionen überstanden und ihr Leben fing langsam an sich wieder zu normalisieren. Trotzdem, zu ihren Schwiegereltern nach Hause ging Anita nicht. Sie hatte angst die Stallungen und die Pferde zu sehen. Heiko arbeitete wie besessen. Er war immer seltener zu Hause. Wegen jeder Kleinigkeit gab es Streit. Anita bemerkte wie sehr sich ihr Mann veränderte. Immer öfter drehte er sich nach schwangeren Frauen um und sah kleinen Kindern beim Spielen zu – ihrer Ehe fehlten Kinder. Die Spannungen wurden unerträglich und nach einem Jahr ließen sich Anita und Heiko scheiden.
Nach ihrer Trennung von Heiko lebte Anita weiterhin in dem Haus ihrer Eltern. Zu den wenigen gemeinsamen Freundinnen und Freunden die die beiden hatten, brach Anita nun den Kontakt ganz ab. Total zurückgezogen widmete sie sich jetzt ganz der Malerei. Schon bald hatte Anita genug Bilder für eine neue Vernissage beisammen.
Das Anwesen, wo Anita wohnte, lag in der Lüneburger Heide. Es war ein kleines unbekann- tes Dorf. Anita hatte hier nun schon öfter ihre Werke in der Öffentlichkeit präsentiert und wollte ihre nächste Vernissage dieses mal in einer großen Galerie in Hamburg stattfinden lassen.Inzwischen war ihr Künstlername bekannt und die Preise ihrer Werke lagen bei denen, wo ein „normal verdienender“ Familienvater ein halbes Jahr – oder mehr –hart arbeiten mußte.
An einem trüben Novembermorgen kam ein Kleintransporter, den Anita bestellt hatte. Sie zeigte den Männern die Kammer, wo die Bilder aufbewahrt wurden. Alle Bilder, die sich darin befanden, sollten die Spediteure mitnehmen. Ohne sich weiter um den Transport zu kümmern verschwand Anita wieder in ihr Atelier. Die Spediteure waren sehr gewissenhaft – auch ein Bild, das versteckt und zugehängt in einer Ecke stand, luden sie mit ein – „unverkäuflich“ stand auf der Rückseite. Zwei Stunden später waren die Werke in Hamburg. Else Grothe, eine gute Freundin von Anitas Mutter, war Mitbesitzerin dieser Galerie und sie sorgte auch für die Organisation und Präsentation der Bilder. Anita hatte ihr, falls noch irgend welche Fragen auftreten sollten, in allen Dingen freie Hand gelassen. Bezüglich Katalog – nummern und Preise hatte sich Anita schon im Vorwege mit Frau Grothe in Verbindung gesetzt, so mußte sie bei der Anlieferung nicht zugegen sein. Erst bei der Eröffnung wollte Anita anwesend sein. Nachdem Else Grothe die Lieferung in Empfang genommen hatte, sorgte sie für die richtige Plazierung der Werke. Ein Bild war dabei, welches keinen Preis hatte: „unverkäuflich“ las sie auf der Rückseite - der Titel fehlte gänzlich. Auch im Katalog war das Werk nicht erwähnt. So gab Else Grothe von sich aus dem Bild den Namen „der Schutzengel“ und plazierte es etwas separat von den anderen Werken.
Richard Wagner wohnte am Stadtrand südlich von Hamburg. Er war erst vor ein paar Wochen mit seinem 5-jährigen Sohn Felix von Schneeverdingen dorthin gezogen, nachdem vor einem halben Jahr seine Frau bei der Geburt seines 2. Kindes gestorben war. Auch das Kind lebte nur ein paar Stunden. Die große Wohnung und dann die Tagesmutter für Felix, der laufend neu eingekleidet werden mußte weil er so schnell wuchs – all das überschritt die Finanzen von Richard Wagner. Jetzt wohnte er ganz in der Nähe seines Arbeitgebers und seiner Eltern, die ihm jederzeit seinen Sohn abnahmen, wann immer es nötig war. Auch seine Schwester Corinna wohnte nicht weit entfernt. Ihr Sohn Max war 1 ½ Jahre älter als Felix und so bekam dieser die zwar getragenen aber immer noch gut erhaltenen Sachen von Max. Corinna arbeitete für eine Zeitung. Ihr Sachgebiet war Kultur – sie schrieb über Veranstaltungen jeg – licher Art.
Jetzt hatte ihr Chef sie beauftragt über die Vernissage von Anita einen Bericht zu erstellen. Natürlich streikte prompt zum Wochenende mal wieder ihr Auto und so fragte Corinna ihren Bruder Richard ob er sie nicht fahren könnte. Da die Ausstellung in der Nähe der Alster war, nahm Richard Felix mit. Er wollte einen schönen Tag zusammen mit seinem Sohn ver – bringen, um die Alster bummeln, Eis essen u.s.w. Es war das 1. Mal nach dem Tod seiner Frau, daß Richard wieder etwas unternahm. Als die 3 losfuhren war der Himmel mausgrau und als er dann die Galerie erreichte, goß es wie aus Kübeln. Kurz entschlossen legte Corinna ihr Presse-Schild ins Auto und mit dem Presse-Ausweis kamen die 3 problemlos in die Halle. Richard Wagner war beeindruckt. Auf den Bildern las er A. Bende. Er kannte den Künstler nicht.
Anita traf leicht verspätet ein. Nur ein kurzer Blick genügte ihr. Das Bild mit der alten Eiche bemerkte sie nicht, scheinbar war alles in Ordnung. Else Grothe hatte gute Arbeit geleistet. Man gab dem Personal ein Zeichen und die Eingangstür wurde geöffnet. Es herrschte ein reger Andrang – ein Glas Sekt, eine kurze Ansprache und dann stellte sich Anita den Fragen der Presse und der Besucher. Richard war erstaunt. Er hatte nicht mit einer so jungen und hübschen Frau gerechnet – eher an einen Künstler, ein Mann so um die 50 Jahre alt.
Felix war vorher noch nie auf einer Vernissage. Er fragte seinen Vater, ob man die Bilder kaufen oder wie im Museum nur ansehen dürfe. Richard antwortete seinem Sohn, daß man diese Werke kaufen könne. Sie kosten – erst da sah er in den Katalog und erstarrte über die Preise – ein Vermögen. Richard verschlug es die Sprache und an einigen Bildern hing bereits das Schild „VERKAUFT“... Felix sah sich um. Die Bilder die er sah erweckten nicht sein Interesse – doch dann stand er vor einem Bild, das sein Herz höher schlagen ließ. Er wollte dieses Bild unbedingt haben: Es war das Bild mit der alten Eiche. Richard Wagner wurde blaß. Er versuchte seinem Sohn zu erklären, daß das Bild viel zu teuer für ihn wäre – dann erst sah er das Schild „unverkäuflich“. Seinem Sohn das beizubringen war etwas einfacher. Trotzdem füllten sich die Augen von Felix mit Tränen. Genau in diesem Augenblick sah Anita zu Felix herüber. Es gab ihr einen Stich ins Herz den Jungen so traurig zu sehen. Mein Sohn wäre jetzt auch so etwa in dem Alter, dachte sie. Ohne den Blick von ihm zu wenden ging sie zu ihm und fragte, warum er denn weinen würde. Felix zeigte auf das Bild, das sein Vati ihm nicht kaufen konnte. Als Anita sah um welches Bild es sich hier handelte, hatte sie das Gefühl, als ob sie jeden Augenblick der Erdboden verschlucken würde. Sie hatte nicht mehr an das Bild gedacht seit ihrem Unfall. Die nächsten 5 Minuten erlebte Anita wie in Trance. Sie fragte Felix, was denn so besonderes an dem Bild sei, vielleicht der Teddy? Dann erfuhr sie von dem Kind, daß es der Engel war – dieser Engel hatte genau so lustige Augen und auch die gleichen blonden Locken wie seine Mutti sie hatte – und die Mutti sei doch auch schon ein Engelein..... Ungeachtet der Alarmanlage nahm Anita das Bild von der Wand. Sie drückte es Felix in den Arm und meinte nur, daß dieses Bild ihn seine Mutti nie vergessen lassen solle und daß er dieses Bild in Ehren halten möge. Noch bevor sich Felix und auch Richard bedanken konnten entschwand Anita durch einen Hinterausgang. Ganz langsam begriff Richard, was für einen Schatz Felix da in den Händen hielt. Es war absolut ruhig, alle starrten Richard und Felix an. Nur Corinna ging auf ihren Bruder zu, faßte ihn am Ärmel und zog ihn sanft zum Ausgang. Sie hatte eine tolle Story für ihre Zeitung und war zufrieden.
Else Grothe war Anita gefolgt. Sie holte sie im Treppenhaus ein und Anita erzählte Frau Grothe was es für eine Bewandtnis mit dem Bild hatte. Diese war entsetzt. Hätte sie nur die leiseste Ahnung gehabt, sie hätte das Bild nie ausgestellt. Jetzt war es aus Anitas Leben verschwunden und Anita war sich sicher es nie wieder zu sehen.
Als Richard wieder mit seinem Sohn nach Hause kam, begegneten die beiden ihrer Vermieterin. Felix zeigte ihr voller Stolz das Bild, das er bekommen hatte. Die Vermieterin, Christiane von Oppen, kannte sich sehr gut mit Kunstwerken aus. Sie war 3 Jahre älter als Richard und hatte mehrere Jahre an einer Fachhochschule Kunst unterrichtet. Frau von Oppen war erstaunt. Sie hatte nie damit gerechnet, daß Richard ein Kunstliebhaber sei. Aber da er seinem Sohn einen echten A. Bende für das Kinderzimmer schenken konnte war er bestimmt sehr wohlhabend – vermutete sie. Christiane von Oppen wußte, daß Richard noch nicht sehr lange Witwer war. Nun beschloß sie die neue Frau an seiner Seite zu werden. Äußerst geschickt versuchte sie sich bei ihm und Felix unentbehrlich zu machen. Immer wieder schmeichelte sie sich bei Richard ein. Doch Richard und auch Felix merkten schnell, daß sie es nur auf das Bild bzw. Richards Geld ( wovon er nun wirklich nicht allzuviel besaß ) abgesehen hatte. Außerdem kam noch hinzu, daß Richard innerlich noch nicht dazu bereit war, wieder mit einer anderen Frau eine Partnerschaft einzugehen. Zu sehr hatte er seine Ehefrau geliebt. Als Richard Frau von Oppen unmißverständlich zu verstehen gab, daß er das Bild nicht veräußern würde, da es seinem Sohn gehöre und er selber keine Reichtümer besaß, zog sich die Dame diskret zurück. Richard und Felix waren darüber äußerst glücklich.
5 Jahre zogen ins Land – es war wieder Sommer. Felix, der inzwischen 10 Jahre alt war, hatte Ferien und Richard Urlaub. Da Felix sehr gut in der Schule war hatte Richard seinem Sohn versprochen eine Woche mit ihm in den Harz zu fahren. Es war ein sehr spontaner Urlaub, Richard hatte nichts gebucht. An einem Samstag fuhren sie los – aber nicht über die Autobahn, sondern quer ab über die Dörfer – mitten durch die Lüneburger Heide. In einem gemütlichen kleinen Lokal aßen die beiden zu Mittag. Richard bezahlte gerade, da hörten der Wirt und alle anwesenden Gäste Bremsen quietschen und Blech scheppern. Richard sah wie versteinert aus dem Fenster. Ein Sportwagen war auf regennasser Fahrbahn ins Schleudern gekommen und hatte mit dem Heck sein Auto gerammt. Der Fahrer des Sportwagens war zwar unverletzt, aber der Schock saß ihm gehörig in den Gliedern. Er mußte in der Kurve wegen einem Reh bremsen und dabei hatte er die Gewalt über sein Fahrzeug verloren. Richard war klar, daß er mit seinem Wagen so nicht weiterfahren konnte. Er erkundigte sich bei dem Gastwirt nach einem Zimmer – doch dieser konnte ihm nicht weiterhelfen und er selber vermietete keine Zimmer.
Unterdessen kümmerte sich ein Gast fürsorglich um den Fahrer des Unfallverursachers. Offensichtlich kannten sich die beiden Männer. Der Wirt ging zu den beiden, unterhielt sich kurz mit ihnen und kam dann zu Richard. Man hatte zwischenzeitlich die Polizei verständigt. Jetzt kamen auch der Unfallverursacher und sein Bekannter zu Richard und Felix. Der ältere der beiden Männer stellte sich mit dem Namen Michael Dormann vor. Dann erzählte er Richard, daß sein ex-Schwiegersohn den Unfall verursacht habe. Dieser würde natürlich für den Schaden aufkommen. Richard fragte Michael Dormann ob er aus dieser Gegend stammen würde und als dieser die Frage mit „ja“ beantwortete fragte er ihn nun, ob er eine Pension oder ein Gasthaus kennen würde, wo er sich mit seinem Sohn für ein paar Tage einquartieren konnte. Michael Dormann überlegte: Die einzige Pension im Ort war vor 6 Wochen fast abgebrannt und nicht in der Lage Feriengäste aufzunehmen, der andere Gasthof hatte wegen Betriebs – ferien geschlossen. Er schüttelte den Kopf. Felix fragte seinen Vater, ob sie nun auf der Straße schlafen müßten. Noch bevor er antworteten konnte lud Michael Dormann Richard und seinen Sohn kurz entschlossen zu sich nach Hause ein. Platz hatte er ja wirklich genug. Richard zögerte anfangs ein wenig, nahm das Angebot dann aber dankend an. Das Gepäck, was bei Richard im Auto war, wurde kurzerhand in Michael Dormanns Wagen umgeladen. Richard durfte seinen defekten Wagen bis zum Montag in der Scheune des Wirts abstellen. Endlich kam die Polizei und nahm den Unfall auf. Danach fuhren sie gemeinsam zu den Dormanns.
Richard staunte nicht schlecht als er das große Haus und das parkähnliche Grundstück sah. Die Angestellten richteten in Windeseile 2 nebeneinander liegende – nur durch eine Schie- betür getrennte – Gästezimmer her. Es waren große helle Räume mit teuren Möbeln. Richard sah das sofort. Beide Zimmer hatten ein Bad/WC und einen gemeinsamen Balkon. In den Zimmern hingen Fotos aus der Gegend. Felix betrachtete die Fotos und dachte an das Bild, das zu Hause in seinem Zimmer hing. Er liebte dieses Bild sehr
Der Himmel riß auf, die Sonne kam aus den Wolken hervor. Jetzt hatte es auch aufgehört zu regnen. Felix ging auf den Balkon. Er sah sich den wunderschönen Garten an. In etwa 30 m Entfernung stand ein Haus fast ganz aus Glas und daneben – Felix glaubte seinen Augen nicht zu trauen – eine alte Eiche. Es war genau die gleiche Eiche die auf seinem Bild war. Auch Richard war zu seinem Sohn auf den Balkon getreten. Er war genauso verblüfft. Menschen haben Doppelgänger, Tiere manchmal auch – aber Bäume ?! Er konnte es sich nicht erklären.
Kurze Zeit später klopfte es bei Richard an der Tür – er öffnete sie. Michael Dormann stand davor. Richard bat seinen Gastgeber herein. Felix stürmte zu den beiden ins Zimmer. Er er – zählte Michael, daß der Baum, der dort unten im Garten stünde, auf einem Bild sei, welches er zu Hause in seinem Zimmer habe. Ein gemaltes Bild und kein Foto, setzte er noch hinzu. Michael Dormann bezweifelte das zwar, sprach es aber nicht aus. Er fragte nur wer das Bild denn gemalt habe. Dann erfuhr er von Richard und Felix, daß es eine Malerin war, die A. Bende heißt. Michael Dormann ahnte, von welchem Bild Felix sprach. Er kannte alle Werke seiner Tochter und er wußte auch, daß sie es vor einigen Jahren einem Jungen in Hamburg geschenkt hatte. Tagelang danach noch hatte Anita ihren Eltern von diesem Jungen mit den traurigen Augen erzählt. Um ganz sicher zu sein fragte er Felix noch, ob auch andere Teile auf dem Bild wären oder nur der Baum. Felix beschrieb das Bild ganz exakt. Nun wandte sich Michael Dormann an Richard und fragte ihn, ob er noch irgend etwas benötigen würde. Dieses war nicht der Fall und so verblieben die beiden Männer so, daß Michael Dormann seine Gäste eine Stunde später abholen würde, damit man gemeinsam im Eßzimmer zu Abend essen könnte.
Michael Dormann ging in sein Arbeitszimmer und rief von dort aus seine Tochter im Atelier an. Er berichtete Anita kurz, daß 2 Gäste für einige Tage anwesend sein würden, aber um wen es sich hierbei handeln würde, verschwieg er.
Richard wurde klar, daß das riesengroße Haus mit dem parkähnlichen Grundstück einer einzigen Familie gehörte, die offensichtlich alleine mit den Angestellten hier wohnte. Er hätte nicht in seinen kühnsten Träumen daran gedacht einmal die Bekanntschaft so reicher Leute zu machen. Richard hatte Michael Dormann für einen einfachen Bauern gehalten, denn in der Gaststätte trug er eine ausgebeulte alte Cordhose, Gummistiefel und ein durchgeschwitztes T –Shirt. Richard überlegte, was er zum Abendessen anziehen sollte. Bei so gut gestellten Leuten legt man bestimmt Wert auf gepflegte Kleidung, dachte er. Die Wahl fiel auf seinen dunkelblauen Anzug, den er nur mitgenommen hatte, falls er doch mal ausgehen würde. Doch als Michael Dormann Felix und ihn selbst zum Essen abholte, traf ihn fast der Schlag. Michael Dormann trug eine Jeans und dazu ein Polo-Hemd.
Im Eßzimmer stellte Michael Richard und Felix seiner schon anwesenden Frau und seiner Tochter Anita einander vor. Richard stutzte: Anita Dormann – das Gesicht, diese Augen – woher kannte er diese Frau? Felix war unbekümmert wie immer. Lustig plapperte er drauflos. Er erzählte den Anwesenden von dem Unfall und daß das Auto jetzt kaputt sei. Dann sprach er von dem Baum – der alten Eiche – und von seinem Bild, das ihm eine Malerin geschenkt hatte. Richard wurde blaß. Er wußte plötzlich, wer Anita Dormann war und auch Anita erkannte Felix wieder. Er war zwar älter geworden, doch seine Augen waren die gleichen geblieben. Richard unterbrach den Redefluß seines Sohnes. Ihm war die Angelegenheit mehr als peinlich. Er hoffte, daß Anita sich nicht mehr an Felix, das Bild und den Vorfall in Hamburg erinnern würde, doch plötzlich lächelte Anita. Sie hatte immer noch die Worte von Felix im Ohr, daß der Engel auf ihrem Bild seiner verstorbenen Mutter so ähnlich sehe. Nun gab sie sich als die Malerin des Bildes zu erkennen und fragte Felix und seinen Vater, ob sie nicht Lust hätten ihr Atelier zu besichtigen. Felix sagte begeistert zu, Richard zögerte – er wußte nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, sagte dann aber Felix zuliebe auch zu. Michael und Gabi Dormann waren erstaunt. Noch nie durfte jemand, außer der Familie Anitas Atelier betreten. Doch sie begriffen schnell, daß es die unkomplizierte Art von Felix war, die Anita wieder zum Lachen brachte.
Da Richard und Felix ohne weibliche Begleitung in Urlaub gefahren waren, ahnte Anita, daß Richard sich noch nicht wieder an eine Frau gebunden hatte und zum 1. Mal nach ihrer Scheidung zeigte sie nun wieder Interesse für einen Mann. Anita berichtete Richard ganz offen für wen das Bild eigentlich gedacht war und das es nur aus Versehen mit in die Aus – stellung gekommen war. Ebenso sprach sie von ihrem Unfall und ihrer Scheidung. Danach erzählte Richard aus seinem Leben: von seiner Frau, ihrem Tod und sein Leben als Witwer. Auch die Sache mit Frau von Oppen verschwieg er nicht.
Aus all diesen Gesprächen konnte Anita heraushören, wie sehr Richard seinen Sohn liebt und daß er ein sehr fürsorglicher Vater war. Anita hatte Felix in ihr Herz geschlossen und als man sich eine Woche später wieder trennen mußte, weil Richards Urlaub zu Ende war, stand für Anita, Richard und Felix fest, daß man zukünftig ganz engen Kontakt halten würde – denn nicht nur Anita und Felix verstanden sich ausgezeichnet, auch zwischen Anita und Richard bahnte sich schon ganz langsam mehr als nur Freundschaft an......


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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