Die alte Frau und das Meer

träumerin

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Eine einsame Landstraße Richtung Süden.

Ein klappriger Opel kurvt gemütlich durch die Landschaft, ein eierndes Tape klingt nach Flower-Power-Roadmovie, das junges Mädchen am Steuer tippt mit den Fingern auf das Lenkrad und singt mit, ihre Beifahrerin lächelt. Die Bäume sind grün, die Felder goldgelb, die Vögel zwitschern und alles ist idyllisch bis zum Brechreiz.
Wo es den beiden besonders gefällt, bleiben sie ein Weilchen, gegen Abend suchen sie sich eine Unterkunft. Sie wissen nicht, wo sie morgen sein werden, was sie sehen werden, wo sie schlafen werden. Sie haben keine Eile. Keinen Plan. Nur eine gemeinsame Sehnsucht: das Meer.

Das Bild verschwimmt in buntem Farbgewirr.

Die beiden sitzen zuhause, die eine klagt über ihren Freund, der nicht weit fahren und vorher alles genau geplant haben will. Die andere über ihren Mann, der es früher immer nur eilig hatte, an sein Ziel zu kommen und so die ganze Familie über die Autobahn hetzte. Dabei wäre sie so gerne einfach...

Das Bild blitzt wieder auf.

Sie schwärmt von vergangenen Zeiten. Vom Bodensee, vom Gardasee, von Prag, von Rom, von Budapest... Und natürlich vom Meer. Denn sie weiß, wenn man einmal das Meer gesehen hat...
"Dann fahr doch weg, wie du willst! " - "Ich? Jetzt bin ich doch alt. Du bist jung..." - "Ja. Klar. Aber trotzdem fährt niemand mit mir weg. " Was nützt einem die schönste Jugend, wenn man keine Freunde hat? "Weißt du was? Wenn die anderen wegfliegen, hab ich das Auto, dann pack ich dich ein und wir fahren einfach los. " - "Oh Kind, ich bin doch alt. "

"Jetzt hörst du sie schwärmen", sagt meine Mutter mir später. "Die ist noch nirgends freiwillig hingefahren und es hat ihr doch gefallen. Die muß man einfach zwingen. "

Wie soll ich das machen? Kann ich so etwas? Darf ich das? Darf man jemanden zu seinem Glück zwingen? Sollte man sogar? Brauchen das wirklich manche?
 



 
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