Die bessere Hälfte

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Claret

Mitglied
Nico Steckelberg
Die bessere Hälfte


Ich habe Eric nie wirklich gemocht.
Obwohl er mein Bruder war.
Ich glaube, unser Problem war einfach, dass wir zu viel Zeit miteinander verbracht haben.
Miteinander verbringen mussten.
Unsere Kindheit war das kleinere Übel. Am schlimmsten war die Pubertät und die Phase des Erwachsenwerdens. Nie konnte er mich auch nur einmal mit einem Mädchen alleine lassen. Jedes Mal, wenn ich eine Verabredung hatte, musste er mitkommen. Glauben Sie mir, so etwas strengt auf Dauer an und geht an die Substanz. Ich habe mir immer gewünscht, irgendwann einmal nur einen einzigen Tag für mich zu haben.
Seit zwei Wochen bin ich nun allein. Das erste Mal in meinem Leben.
Und obwohl ich ihn nie wirklich mochte, tut es mir ein wenig leid, hier zu sein und zu sehen, wie sie Erics Sarg mit Seilen in das modrig feuchte Grab herab lassen.
Es ist ein schöner Tag. Zu schön, um ihn auf dem Friedhof zu verbringen. Es ist Frühling, es ist warm, es ist ruhig. Der richtige Tag um neu anzufangen.
Denise, Erics Freundin, steht neben mir.
Sie weint sich an meiner Schulter aus. An meiner rechten Schulter. Meine linke Schulter und den Arm sowie eine Lunge habe ich zusammen mit Eric verloren. Die Ärzte sagen, dass die Wunden erst in ein paar Monaten gut genug verheilt sein werden, um mir Prothesen anpassen zu können. Aber damit kann ich leben, denn ich bin endlich frei.

Eric, so hatte man uns erzählt, war der Jüngere von uns beiden. Er hat erst spät mit dem Atmen begonnen. Wir haben wohl beide großes Glück gehabt, zu überleben. Hätte sich Erics Lunge nicht rechtzeitig entfaltet, wäre wohl auch ich nicht durchgekommen.
Mein Bruder und ich sind - Pardon! - waren beinahe gleich alt. Das hat den einfachen Grund, dass wir als Zwillinge zur Welt kamen.
Unglücklicherweise hatten sich einige unserer gemeinsamen Zellen im Mutterleib nicht vorschriftsmäßig teilen wollen. Diese Laune der Natur sollte unser fortwährendes Privatleben zu einer unangenehmen, wenig intimen Nebensache verdammen.
Eric hatte bei unserer Geburt nicht geschrien. Diese Eigenschaft hat er die ganzen sechsundzwanzig Jahre seines Lebens behalten. Er war nach außen hin immer ruhig gewesen. Viel stiller als die anderen Kinder und viel stiller als ich. Ein stummer Beobachter, der nie ein Wort zu sagen pflegte.
Weil er es nicht konnte.
Ich war der Einzige von uns, der über funktionierende Stimmbänder verfügte. Seine waren verkrüppelt. Alles, was er jemals hervorbrachte, waren kurze leise a-Laute. Eric dachte sich seinen Teil.
Sie werden sich nun fragen, ob wir denn als Brüder nie miteinander geredet haben. Selbstverständlich taten wir das. Jedoch benötigten wir dazu keine Stimme. Wir hielten Konversationen im Geiste und sprachen permanent miteinander. Erics Gedanken waren meine und meine Gedanken waren Erics. Niemand von uns konnte an etwas denken oder etwas fühlen, ohne dass der andere es mitbekam. Sie können sich vorstellen, dass ich niemals meine Ruhe hatte. Sie haben immer eine zweite Stimme im Kopf, die Sie nicht abstellen können. Sie fühlen, welche Rivalität und welcher Hass sich in Ihrem Bruder gegen Sie aufbaut. Sie träumen sogar doppelt. Es ist schrecklich.
Es war schrecklich.

Vor fünf Jahren habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie ich Eric loswerden konnte.
Er hatte meine destruktiven Gedanken zeitgleich mitbekommen. Er war entsetzt und beschimpfte mich als einen gefühlskalten Egoisten. Dennoch redete mir Eric in solchen Momenten immer gut zu; sagte, dass das alles doch gar nicht so schlimm sei, und dass das Leben zu kurz und zu schön sei um sich solch böse Gedanken zu machen.
Für ihn war das Leben in der Tat schön. Er war schon immer der gut aussehendere von uns gewesen. Ich weiß wirklich nicht, wie dieser stumme Krüppel es immer wieder geschafft hat, aber er hatte stets die besseren Chancen bei Frauen.
Vor einigen Jahren lernte er (und ich mit ihm) Denise kennen. Seit wir sie kannten, wusste ich, was er für sie empfand, und dass sie ihm neuen Lebensmut geschenkt hatte. Schon bald waren sie ein Paar.
Doch auch ich konnte mich ihrem Zauber nicht entziehen. Ich konnte es nicht verhindern, mich, wie mein Bruder, ebenfalls in Denise zu verlieben. Eine furchtbare Eifersucht entbrannte.
Eric wusste schon früh, dass sein Leben davon abhing, mich bei Laune zu halten. Mir gehörte und gehorchte der Großteil unseres Körpers. Sein Kopf saß auf meiner linken Schulter. Eric beherrschte nur den linken Arm, und er hatte seine eigene Lunge. Alles andere gehörte mir. Mein Bruder konnte definitiv nicht ohne mich leben.
Ich aber sehr wohl ohne ihn.

Ich entwickelte eine Theorie. Mir war klar, dass ich nur dann frei denken konnte, wenn Eric schlief. Und so schmiedete ich Nacht für Nacht Pläne, in der Hoffnung, dass Eric sie nicht mitbekam.
Schon bald stelle sich heraus, dass sich all meine Gedanken, die ich nachts hegte, in Erics Träumen widerspiegelten. Doch er zweifelte nie daran, dass sie lediglich eine Ausgeburt seiner eigenen Fantasie waren.
Ich erzähle Ihnen gern von meinem Plan. Bitte halten Sie mich nicht für herzlos. Ich könnte es Ihnen nicht einmal verübeln, aber versetzen Sie sich einmal in meine Lage.
Ich musste einen Weg finden, Eric zu töten und gleichzeitig seinen Körper von mir zu entfernen. Schnell kam mir das Sägewerk in Oakwood in den Sinn. Wie ich in die Halle hineinkäme, und wie ich das riesige Sägeblatt zum Rotieren brachte, ja, ob ich die ganze Aktion selbst überleben würde, wusste ich nicht. Aber all das wollte ich vor Ort klären.
Ich war mir im Unklaren darüber, ob der Begriff "Mord" auch auf meine Situation anwendbar war. Aber selbst wenn ich nach der Durchführung meines Plans eingesperrt worden wäre, so wäre ich doch ein freier Mann gewesen. Ich hatte folglich nichts zu verlieren.

Eines nachts, Eric war bereits eingeschlafen, verließ ich unsere Wohnung und setzte ich mich in den Wagen. Mein Bruder schlief tief und fest und wachte noch nicht einmal auf, als ich den Motor startete und den Wagen über die Schnellstraße in Richtung Oakwood lenkte. Es war nicht einfach, mit einem Arm zu lenken. Normalerweise half mir Eric beim Fahren. Diesmal und künftig musste es ohne ihn funktionieren.
In Gedanken ging ich meinen Plan noch einmal durch. Vor meinem geistigen Auge sah ich das mannshohe Sägeblatt, unter das ich mich zusammen mit Eric legen würde. Mein Bruder würde schlafen und gar nichts mitbekommen. Dieser Gedanke erleichterte mich. So wenig ich Eric auch mochte, ich wollte ihm nicht unnötig wehtun. Doch ich machte mir nichts vor. Ich würde mit Sicherheit unbeschreibliche Schmerzen erleiden müssen. Und doch würde es mir letztlich so unendlich gut tun.
Das Bild des Sägeblatts noch vor Augen, wachte mein Bruder auf und gab einen erschrockenen Laut von sich. Ich schaltete meine Gedanken blitzartig ab und hoffte, dass er auf der Stelle wieder einschlafen würde. Doch er rieb sich die Augen, gähnte und erzählte mir, halb panisch, von seinem schlechten Traum.
Dann, ganz plötzlich, war der Moment der Wahrheit gekommen.
Unser Herz machte einen Sprung als das Ortsschild von Oakwood am Straßenrand an uns vorbeizog. Ich spürte, wie Erics Gedanken rasten. Schlagartig wurde ihm alles klar. Er wusste, dass all die schlechten Träume keine Träume waren, und er wusste, dass ich ihn umbringen würde. Nicht irgendwann, sondern heute Nacht. Er wusste von meiner Liebe zu Denise und er wusste von meinem Hass zu ihm.
Eric reagierte schnell und völlig unerwartet für mich. Sein Arm griff ins Lenkrad und zog es so heftig herum, dass ich nicht mehr reagieren konnte. Der Wagen geriet ins Trudeln und durchbrach die Mittelleitplanke.
Nun ließ ich es darauf ankommen. Anstatt das Tempo zu verringern, trat ich das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Ich sah die Scheinwerfer eines Holztransporters, auf den wir frontal und mit zunehmender Geschwindigkeit zufuhren. Eric schrie lautlos. Im letzten Moment konnte ich das Lenkrad herumreißen, so dass der tonnenschwere Truck nicht über den ganzen Wagen hinwegrollte, sondern nur die linke äußere Hälfte der Fahrerseite touchierte.
Wieder machte unser Herz einen Sprung. Der Wagen wirbelte herum und überschlug sich mehrmals. Stahl- und Glassplitter regneten auf uns herab, ein stechender Schmerz durchfuhr meine linke Körperhälfte. Das Letzte, an das ich mich noch erinnern kann, sind die Worte, die mir Eric in meine Gedanken schrie: "Ich war immer der Bessere von uns beiden!". Dann verlor ich das Bewusstsein.

Als ich meine Augen wieder öffnete, bemerkte ich sofort die Stille. Etwas war geschehen.
Die linke Hälfte meines Körpers schmerzte noch immer stark.
Ich lag auf einem Krankenbett in einem sterilen weißen Zimmer. So weit es die Bandagen um meinen Kopf erlaubten, sah ich an mir herab und stellte fest, dass mein linker Arm nicht mehr da war. Und noch etwas fehlte. Ich konnte meinen Kopf zwar nicht weit genug drehen, doch ich spürte es auch so: Eric war weg.
Ein Arzt betrat den Raum und bestätigte meine Vermutung. Nachdem er mich untersuchte, mir im Groben (und übertrieben einfühlsam) berichtete, was genau nach dem Unfall geschehen war, sagte er: "Es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir ihren Bruder nicht retten konnten." Später erfuhr ich, dass Erics leblose Überreste chirurgisch von mir entfernt worden waren.
Glauben Sie mir, in diesem Moment war mein Kopf leer. Ich hätte tausend Dinge auf einmal denken können, aber stattdessen waren meine Gedanken und Gefühle einfach nur leer.

Im Laufe der vergangenen zwei Wochen erholte ich mich schnell von den Verletzungen. Die Wunden schlossen sich schon nach wenigen Tagen und die Blutungen hörten bald auf.
Ich genieße eine vorzügliche psychologische Betreuung, seit ich Eric verloren habe. Die Ärzte machen sich viele Sorgen um mich und meinen Gemütszustand.
Nun, was soll ich sagen? Die Gespräche tun mir gut. Es ist schön, mit jemandem allein zu reden. Selbst simpelster Smalltalk bereitet mir Freude.
Und bislang, das gebe ich zu, auch wenn ich mich ein wenig dafür schäme, habe ich Eric noch nicht einen Tag vermisst.

Jeder Tod, so sagt man, birgt neues Leben in sich.
Ich kann das nur bestätigen.
Mein neues Leben hat vor zwei Wochen mit einem schweren Autounfall begonnen. Und nun werde ich dieses neue Leben in vollen Zügen genießen! Sobald Erics Beerdigung beendet ist, werde ich Denise auf einen Drink und ein ruhiges Gespräch unter vier Augen in ein nettes Promenadencafé einladen.
Denn schließlich ist es Frühling. Es ist warm und es ist ruhig.
Und mal sehen, was der Abend sonst noch mit sich bringt.
 

axel

Mitglied
Hallo Nico.
Beim Lesen deines Textes hatte ich auf einmal den Gedanken: Wenn der namenlose Protagonist deiner Geschichte die Gedanken seines Bruders die ganze Zeit gespürt hat, dann müsste er doch jetzt der einzige Mensch auf der Welt sein, der die Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gibt, zweifelsfrei beantworten könnte, oder?

Ansonsten fand ich die Idee einer 26jährigen siamesischen Existenz faszinierend. Man könnte das Szenario natürlich ausbauen, könnte die Entwicklung der beiden Persönlichkeiten detaillierter schildern. Beispiele? Die beiden fangen irgendwann an, darüber zu streiten, welche Klamotten man tragen sollte, mit welchen Leuten man sich trifft, welche Hobbies man pflegt, usw.
Außerdem wäre es vielleicht noch reizvoller, wenn die ganze Geschichte ein wenig verklausuliert geschrieben wäre, wenn man zum Beispiel an einigen Stellen ins Rätseln käme: Geht es tatsächlich um eine KÖRPERLICHE Doppelexistenz?
Ob du mit diesen Gedanken etwas anfangen kannst oder überhaupt weiter an dem Text arbeiten möchtest, musst du natürlich selber wissen.

Noch ein paar Kleinigkeiten: „der einzige von uns beiden“ – das tut richtig weh! Wenn es nur um zwei Personen geht, sollte „derjenige“ dort stehen.
Außerdem hatte ich die ganze Zeit ein kleines Kaff in den Rockys vor Augen und mich dann gefragt: „Haben die Straßen dort Mittelleitplanken?“
Aber das sind Kleinigkeiten.
Schöne Grüße,
axel
 

Claret

Mitglied
Hi Axel!

Vielen Dank für den Tipp mit "derjenige"... man kann einen Text noch so oft lesen, es gibt Dinge, die fallen einem einfach nicht auf. Dies gehört dazu.

Natürlich kann man die Geschichte ausbauen, ich habe mir aber beim Schreiben dieser Story das Ziel gesetzt, Unnötiges von vornherein wegzulassen und alles so knapp wie möglich zu schreiben. Ich wollte nichts Langes.

Die Mittelleitplanke hat mich schon zuvor stark beschäftigt. Ich mag aber das Bild, wie der Wagen sie durchbricht. Es ist ein Action-Stilmittel, sozusagen. Sie muss einfach da sein, sie ist sehr effektvoll.

Und wer weiß, auf welchem Erdteil sich der Ort Oakwood befindet?? Ich jedenfalls nicht. Nur eines ist sicher: Die Straßen dort haben Mittelleitplanken! :)

Gruß

NICO
 



 
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