Die eigene Meinung

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norawind

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Die eigene Meinung​
von Nora Wind

Heute hatte ich ein Skype-Gespräch mit meiner Nichte. Zwischen ihrem Lebensort und meinem liegen zwei Tausend Kilometer. Dank skype – einer wirklich nützlichen Erfindung des Menschen – kommt es einem so vor, als säße der Gesprächspartner im gleichen Raum hinter einer Glaswand.
[ 4]Nach der obligatorischen Frage „Wie geht’s?“ und einigen Vorwürfen, warum ich mich schon wieder so lange nicht gemeldet habe, sprachen wir über die Gesundheit, Kindererziehung und Politik, so wie Frauen über Politik sprechen, d.h. mit der Hoffnung, dass sie nicht all zu viel Aufmerksamkeit verlangt, weil man sich auf wirklich wichtige Dinge im Leben konzentrieren muss: Kinder, Ernährung und Pflege des Freundschaftskreises.
[ 4]Meine Nichte ist zweimal jünger als ich, hat aber schon zwei Kinder. Heute geht alles irgendwie schneller. Sie machte sich Sorgen, dass ihr älteres Kind, Junge im Schulalter, seine Antworten schlecht verteidigen kann, auch wenn sie richtig sind und durch Nachfrage schnell verunsichert wird. Zu ihrer Beruhigung sagte ich, dass es in seinem Alter noch ganz normal ist und dass man es erst später lernt, eigene Meinung zu verteidigen und sie überhaupt zu haben. Manche lernen es nie. Viele wollen es gar nicht lernen, weil zu viel eigene Meinung zur Isolation führen kann. Man bleibt lieber in der Gruppe.
[ 4]Außerdem hat man heute gar keine Zeit für die eigene Meinung. Rund um die Uhr ist man damit beschäftigt, e-mails, sms etc. zu lesen und zu schreiben, Fernsehserien, wenn auch schon zum hundertsten Mal zu gucken und am Abend, unter Freunden, den Tag „flüssig“ oder „pflanzlich“ ausklingen zu lassen. Und wenn manch einer durch Kleidung oder Frisur auffallen will, bleibt er trotzdem in einer Gruppe, der Auffälligen eben, weil das äußere Auffallen mit der eigenen Meinung – dem individuellen und kritischen Blick auf die Gesellschaft, d.h. auf jede Gruppe – nichts zu tun hat. Dazu muss man kurz stehen bleiben und sich in der chaotischen und wenn auch nur fiktiv verändernden Welt umschauen. Und das geht heute eben nicht: die show must go on, auch wenn die Darsteller rund um die Welt immer ähnlicher und die shows immer langweiliger werden.
[ 4]Die Welt braucht Unterschiede und frische Meinungen.
[ 4]Wir brauchen Wind!
 



 
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