Die emanzipierte Schnee-Madonna

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Echoloch

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„Ich habe eine Schneefrau gebaut!“, rief unsere siebenjährige Tochter Emily, polterte vom Garten ins Haus und schlug dabei so gewalttätig die Terrassentür zu, dass mich ein brachialer Schmerz im Rücken überkam bei der Vorstellung, wie die Tür gerade an ihren Scharnieren riss.
„Emily, pass auf die Tür auf!“, brüllte auch prompt mein Mann Martin, während ich mich in Richtung Putzschrank aufmachte, weil das Kind sicherlich nicht daran gedacht hatte, sich die klitschnassen, mit Schneebrocken verklebten Stiefel auszuziehen.
„Und zieh verdammt noch mal die Schuhe aus, bevor du ins Wohnzimmer gerannt kommst! Meinst du, das macht sich von selber sauber?“, bestätigte Martin meine Vermutung, während ich Lappen, Schaufel, Kehrblech und vorsichtshalber auch gleich Teppichreiniger ergriff. „Ich hab’ dir das schon hundert Mal erzählt, hörst du mir eigentlich nie zu?“, zeterte er weiter, während ich von der anderen Seite das Wohnzimmer betrat.
„Aber ich habe eine Schneefrau gebaut“, rief Emily in ungebremstem Entzücken und wie immer immun gegen rationale Argumente. Sie stand in ihrem dunkelblauen Skianzug mitten im Zimmer und tropfte symmetrisch auf den Naturseidenteppich.
„Dann geh wieder nach draußen, und bau ihr eine Schneeschwester, oder zieh dir sofort die nassen Klamotten im Windfang aus – hast du nicht gehört, was dein Vater gesagt hat?“, nörgelte ich und ging auf die Knie, um rund um mein Kind herum den Boden zu schrubben.
„Okay“, antwortete Emily gelangweilt und schlurfte aus dem Zimmer, ohne uns wissen zu lassen, welche der Alternativen sie zu verfolgen gedachte.
„Na toll“, bellte Martin und ließ sich aufs Sofa fallen.
„Was?“, zischte ich ihn an, weil ich mich darüber ärgerte, sauberes Schneewasser mit einem chemischen Teppichreiniger zu entfernen.
„So, wie du sie erziehst, wird sie nie lernen, sich zivilisiert zu benehmen“, griff er mich an.
„Was bitte habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?“ Ich war eher erstaunt als wütend, wünschte allerdings trotzdem, mein Mann würde in einem reißenden Strom Essigreiniger ertränkt.
„Du bist nicht konsequent, du bestrafst sie nie, du putzt hinter ihr her und lässt dir von ihr auf der Nase herum tanzen.“
„Martin, sie ist sieben Jahre alt!“, giftete ich ihn an und ärgerte mich darüber, dass ich dieses Gespräch auf Knien führte.
„Und deswegen kann sie machen, was sie will?“, blökte er zurück und war vermutlich vergrätzt, weil er zu träge war, um noch im Schnee zu spielen.
„Nein, aber deswegen muss sie noch nicht perfekt erzogen sein – Siebenjährige sind keine dressierten Spießer, sondern in erster Linie Kinder!“ Währenddessen stand ich auf, um meine Position zu stärken.
„Soll das jetzt heißen, dass ich ein dressierter Spießer bin?“, schnaubte mein Mann und wurde röter im Gesicht als noch vor einigen Jahren, wenn wir uns stritten. „Guck dich doch mal selbst an in deinen Hausfrauenpullis und mit deinem Putzfimmel!“
Mir verschlug es kurz die Sprache, ich taumelte, ehe ich kraftlos hervorbrachte: „Nein, das sollte nicht heißen, dass ich dich für einen Spießer halte. Da wusste ich allerdings noch nicht, was du von mir hältst.“ Ich ließ mich auf einen Sessel meinem Mann gegenüber sinken und fühlte mich alt.
Derweil hörte man Emily von oben die Treppe herunterlaufen, ihre Stiefel hatte sie ganz offensichtlich noch an und somit in der Zwischenzeit das ganze Haus überflutet. „Ich geh zu Marie zum Spielen“, rief sie uns fröhlich zu, ohne die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen, ohne im Laufen anzuhalten, ohne sich auch nur darum zu scheren, ob wir sie hören würden. In Momenten wie diesem war mir ihr sorgloses Gemüt gespenstisch.
Die Tür knallte, diesmal die Vordertür, die war der Energie unserer Tochter eher gewachsen.
Wir saßen uns noch immer schweigend gegenüber, Martin wand sich sichtlich betreten, im Grunde tat es ihm jetzt schon leid. Statt sich jedoch zu entschuldigen, schoss er plötzlich: „Und wieso überhaupt eine Schneefrau?“
„Wie bitte?“
„Wie kommt sie plötzlich auf eine Schneefrau – hast du ihr das eingeredet? Tut es nicht mehr der klassische Schneemann, muss es gleich wieder eine ...“ – er suchte nach Worten – „emanzipierte Schnee-Madonna sein?“
An dieser Stelle verlor ich die mir sonst eigene Kontenance: „Kann es sein, dass du gerade den Frust über dein verpfuschtes Leben an mir auslässt? Ist dir wieder eingefallen, was du eigentlich mit Mitte 30 alles erreicht haben wolltest und dass du nun weder Pilot, noch Offizier, noch Sherlock Holmes bist?“ Ich konnte sehr beleidigend sein, wenn ich schrie, ich kramte dann immer die intimsten Geheimnisse meines Gegenüber heraus. „Leider muss ich dir mitteilen, dass ich nicht Schuld daran bin, dass deine Kindheitsträume sich nicht erfüllt haben und dass du nun nur eine Familie und einen zwar sicheren, aber langweiligen Job hast.“
Er machte den Mund auf, aber aus mir kam noch ein Argument hinterher geschossen, das sich verlaufen hatte und deshalb nicht rechtzeitig angekommen war: „Das ist übrigens mehr, als die meisten Leute in diesem Land ihr Eigen nennen können: Eine krisensichere, respektable Anstellung, ein gesundes, fröhliches Kind, ein beinahe abbezahltes Haus und eine Frau, die zwar gelegentlich ausgeleierte Pullis trägt, aber ansonsten noch ganz gut beisammen ist.“
Das anschließende Schweigen im Raum klang hohl und leblos. Wir blickten uns an, aber erkannten uns nicht. Ich begriff, dass ich mich nicht nur alt fühlte, sondern dass wir beide tatsächlich gealtert waren, denn noch vor wenigen Monaten hätte sich solch ein substanzloser Streit an dieser Stelle in Gelächter aufgelöst. Wir hatten überhaupt immer zu lachen begonnen, wenn ich über die mir zustehenden Grenzen schoss. Ich grübelte. Waren meine Argumente lächerlicher als die meines Mannes? Was waren die mir zustehenden Grenzen? Vielleicht sollte ich wirklich mehr Wert auf die emanzipierte Erziehung meiner Tochter legen, damit sie nicht zu so einem Waschweib verkam, wie ich es war, hohe Bildung und keine Ambitionen. Wieso hatte sie eine Schneefrau gebaut?
Martin räusperte sich. Ich dachte, wir würden uns jetzt vertragen, als er zwischen den Zähnen hervor knirschte: „Ich hasse es, wenn du hysterisch wirst.“
Damit trat er die Lawine los: „Was bist du bloß für ein mieser Chauvinist!“, schrie ich nun tatsächlich mit überschlagender Stimme und sprang auf. „Ich dachte noch bis vor wenigen Minuten, wir wären glücklich miteinander, aber offensichtlich leben wir genauso teilnahmslos nebeneinander wie der senile Durchschnitt, den wir immer belächelt haben. Ich will dir mal was sagen: Ich habe keine Ahnung, wieso Emily eine Schneefrau gebaut hat, aber ich bin froh darüber, denn vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sie sich zu einer eigenständigeren Frau entwickelt, als ich es bin, und vielleicht kriegt sie dann auch eines Tages einen Mann, der kein Problem mit starken Frauen hat!“
„Mein Gott, worum geht es hier eigentlich?“, japste mein Mann hilflos. Wir standen uns wütend im Wohnzimmer gegenüber, und für einen kurzen Moment meinte ich, wir würden gleich aufeinander losgehen und uns verprügeln. Die Vorstellung begann, mir zu gefallen, ein Rest echter Leidenschaft. Ich setzte gerade einen bedrohlichen Blick auf, als es an der Tür klingelte.
„Scheiße!“, knurrte Martin.
„Wohl wahr“, nuschelte ich.
Während wir uns auf den Weg zur Tür machten, betrachteten wir uns heimlich von der Seite, zu einer Schlägerei würde es heute nicht mehr kommen.
Vor der Tür stand Maries Mutter, sie war mit ihrer Familie neu in der Nachbarschaft und machte einen netten Eindruck unter all den eher konservativen Eltern unserer Straße. Wir würden uns sicherlich bald einmal privat treffen, es gab so wenig Paare mit Kindern, bei denen beide Partner sich gegenseitig schätzten.
Maries Mutter lachte uns an: „Das müsst ihr euch ansehen!“ Wenigstens waren wir noch in dem Alter, in dem man sich automatisch duzte.
Wir zogen uns schnell Schuhe und Jacken an und folgten ihr in den Garten. Dort waren Emily und Marie vergnügt damit beschäftigt, riesige Schneekugeln zu formen, während der dreijährige Luka quietschend zwischen ihnen hin- und herlief und sie mit Schnee beschmierte. Marie hatte ein ähnlich großherziges Gemüt wie Emily, beide Mädchen lachten und ließen den Kleinen gewähren.
„Ich bin so froh, dass Marie so schnell Anschluss gefunden hat“, freute sich ihre Mutter, während Martin und ich – uns weiterhin geflissentlich ignorierend – vertraulich lächelnd nebeneinander standen, so dass unsere Arme sich leicht berührten. „Emily ist wirklich ein tolles Mädchen, sie ist so offen und frei, sie ist ein großer Schatz für Marie. Die war so traurig, von ihren Freunden wegzuziehen.“ Mir schoss vor Freude das Blut ins Gesicht, und Martins Brust weitete sich stolz, was ich vermutlich nicht hätte wahrnehmen dürfen.
„Jetzt müssen wir die Kugeln neben die Schneefrau rollen“, rief Emily, und die beiden Mädchen setzten sich in Bewegung, während der Junge hinterher purzelte.
Wir folgten den Dreien und bogen um die Ecke, die zur Terrasse führte. Dort stand die Schneefrau mit Schneebrüsten, Tannenzapfenaugen, einer Bananen-Nase, Apfelstücken-Schmollmund und meinem lila Wollschal. Martin und ich glucksten im gleichen Atemzug und hielten uns dann mit derselben Anstrengung zurück.
„Und wie kreativ sie ist.“, fuhr Maries Mutter fort, „Das ist eine tolle Schneefrau, Emmi!“, schaltete sich Martin ein, „Und was baut ihr jetzt?“, fragte ich die glücklichen Kinder.
„Na, das ist doch klar!“, triumphierte Marie durch ihre Zahnlücke, und die Kinder quiekten begeistert – die Mädchen, weil die Erwachsenen mal wieder gar nichts begriffen und der Junge, weil er gerade im Schnee umgefallen war. „Jetzt bauen wir natürlich einen Schneemann!“, klärte uns Marie weiter auf, und in einem ihrer seltenen anhänglichen Momente stürmte Emily auf uns zu und warf sich uns in die Arme. Wir fingen sie gemeinsam auf und küssten sie und uns. „Schließlich ist einer Schneefrau ohne Schneemann ja ziemlich schnell langweilig!“, flüsterte sie uns zu, bevor sie wieder zu ihrer Freundin lief.
 

katia

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herrlich!

liebe maja,
eine herrliche, vermeintlich kleine alltagsgeschichte, die so viel beinhaltet an lebensweisheit und nachdenklichkeit, lauter fröhlichkeit und leisem witz..sehr gut finden sich diese fäden zusammen, auch prima dosiert, so dass es nie zu viel auf einmal wird.
diese geschichte ist dir sehr gut gelungen.
..nur zwei klitzekleine vorschläge hätte ich aus meiner subjektiven sicht heraus (die aber wirkung keinen abbruch taten)

"Was im umgekehrten Fall ja offensichtlich nicht der Fall ist"..ich fände "nicht zutrifft" statt dem zweiten mal "Fall" günstiger, weil es die doppelung rausnimmt, über die ich ein bisschen gestolpert bin.
"Glücklicherweise waren wir WENIGSTENS noch in dem Alter, in dem man sich automatisch duzte." könnte diese altersthematik noch ein klein wenig würzen im nachhinein, bevor der szenenwechsel kommt.

liebe grüße voller anerkennung
zollt
kati
 

Echoloch

Mitglied
schäm

Liebe Kati,
vielen Dank für das Lob und Deine sehr berechtigten Hinweise. Insbesondere der doppelte "Fall" war mehr als kritikwürdig, gut, dass ich ihn mit Deiner Hilfe gleich "wegwischen" konnte!

Im übrigen freut es mich, wenn die von Dir beschriebenen Nuancen sich durch die Leichtigkeit der Geschichte durchsetzen, ich schreibe sonst eher dramatisch und fühlte mich noch etwas unsicher in dem "unbeschwerten" Stil.

Herzliche Grüße zur Nacht von Maja
 



 
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