Die fremde Frau

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Die fremde Frau

Jeden Morgen um sechs Uhr verlasse ich das Haus. Wenn ich die Tür hinter mir schließe, ist es noch dunkel draußen. Da ich der Letzte bin, muss ich zusperren.
Die Straße liegt verlassen und einsam vor mir. Wir haben ein altes Haus in einem kleinen Dorf. Bis zur Bushaltestelle muss ich nur ein paar Meter laufen. Wenn ich um die Kurve bin, sehe ich sie. Sie läuft ein paar Meter vor mir.
Ihr blondes Haar scheint zu leuchten im Dunkeln. Es ist sehr hell und kraus, und manchmal trägt sie es offen. Meist jedoch hat sie die Haare hochgesteckt. Ihre Schuhe sind viel zu hoch, und sie klappert laut auf den einsamen Fußwegen. Ihre Sachen sind auffällig und aus einer anderen Zeit, als man die Hosen noch über dem Nabel zuknöpfte. Ihre Tasche besteht aus rotem Leder, und sie trägt sie nicht, sondern sie hält sich daran fest.
Jeden Morgen geht sie vor mir her. Bis zur Haltestelle an der Hauptstraße. Dann steigt sie in den Bus und setzt sich ganz vorn in die erste Reihe. Ohne sie anzusehen, setze ich mich in die letzte Reihe. An ihren Schritten kann ich erkennen, wie es ihr geht. Sie hat den Gang einer Frau, die Haltung bewahren will, aber schon längst den Boden verloren hat. Meist ist sie betrunken. Dann geht sie schneller und aufrechter. Ich sehe es trotzdem.
Noch nie hat sie sich nach mir umgesehen, obwohl sie weiß, dass ich hinter ihr bin. Und ich halte den immer gleichen Abstand zu ihr.
Plötzlich strauchelt sie, und ich erschrecke. Sie versucht, sich zu fangen, doch es gelingt ihr nicht. Hilflos fällt sie, die Hände noch nach vorn gestreckt, doch ihr Kopf trifft den Bordstein.
Ich laufe zu ihr und versuche, ihr aufzuhelfen. Starker Parfum-Duft soll den Geruch von Alkohol überlagern, doch die Mischung aus beidem widert mich an. Panisch krallen sich ihre langen roten Nägel in meine Jacke, doch sie bekommt keinen Halt. Ich sehe eine Platzwunde an ihrer Stirn und wundere mich, wie schwer ein so dünner Mensch werden kann. Dann fasse ich mir ein Herz und packe richtig zu.
Im nächsten Moment steht sie wieder auf beiden Füßen. Sie wischt sich den Dreck von der Hose, ohne das Blut zu bemerken, das ihr von der Stirn über die Wange läuft und ihren Pullover verschmutzt.
„Ich muss zur Arbeit!“ sagt sie und schiebt mich beiseite.
Ich halte sie fest. Verwundert sieht sie mich an.
„Heute nicht, Mutter!“ sage ich mit fester Stimme. „Heute nicht!“
 

Retep

Mitglied
Hallo lumiere solaire,

ein sehr guter Schluss, den konnte man nicht erwarten.Die Geschichte gefällt mir.

-
Ihre Tasche besteht aus rotem Leder, und sie trägt sie nicht, sondern sie hält sich daran fest.
Guter Satz!

- gute Beschreibung der Protagonistin, du beschreibst nur, was notwendig ist, sehr treffend.


Kleiner Tipp: Mach doch ab und zu einen Abschnitt.
(Im Bus, dann wieder auf der Straße)

Gruß

Retep
 
Retep

Danke!

Es gibt eigentlich Absätze, aber ich kam nicht so ganz mit dem Texteinstellen klar. Ich war dann froh, dass es einigermaßen ordentlich aussah!
 

Retep

Mitglied
Ich habe deine Geschichte noch einmal gelesen.

Der Titel gefällt mir nicht besonders (persönliche Meinung!)

Weiß im Moment auch keinen anderen Titel.

Retep
 



 
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