Die geheimnisvolle Handschrift

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Ingeburg

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Die geheimnisvolle Handschrift
Von Ingeburg Rahmsdorf
Wenn sich einer seinen Spitznamen redlich verdient hatte und täglich aufs neue verdiente, so war es der "rasende Artur".
Die anderen Kinder aus Werben waren schon längst auf dem Schulhof versammelt, so saß er noch am Frühstückstisch. Fünf Minuten vor acht Uhr schwang er sich auf sein Fahrrad und raste durch die Kleinstadt, tief über den Lenker gebeugt. Bog er in den Schulhof ein, klingelte es bereits zur Stunde. Artur trat dann noch einmal mit aller Kraft an, knallte das Rad in den Schuppen und huschte noch in die Klasse, bevor der Lehrer nach der Türklinke greifen konnte.
Artur war überhaupt ein flinker Bursche. Fragte der Lehrer etwas und Artur glaubte es zu wissen, so platzte er mit der Antwort heraus, ehe ein anderer dazu kam, seinen Arm zu heben. Wurde gelesen, war Artur seinen Mitschülern stets um zwei Seiten voraus. Schrieb die Klasse einen Aufsatz, legte Artur bereits die Feder weg, wenn die anderen mit der Reinschrift begannen. Da er seine Sätze in Windeseile ausdachte und in fliegender Hast hinschrieb, sah es aus, als habe ein Taifun die Buchstaben durcheinander gewirbelt.
Die Deutschlehrerin, Frau Wenning, seufzte jedes Mal laut auf, wenn sie sich durch Arturs Buchstabenwildnis hindurchquälen musste. Ging das Schuljahr zur Neige, legte Artur seinen berühmten Endspurt hin und kam mit Ach und Krach in die nächste Klasse.
"Noch ist es gut gegangen, Artur", sagte die Lehrerin, "aber eines Tages wird es schief gehen. Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich bin überzeugt, früher oder später gibt mir das Leben recht."
Wer so sattelfest ist wie ich, dachte Artur, der wird auch ohne Sonntagsschrift mit dem Leben fertig.
Das Leben ließ nicht lange auf sich warten. Es hieß Babette,
kam aus Marseille und begegnete ihm in den letzten Tagen im Ferienlager.
Artur hatte das große Radrennen "Rund um den See" gewonnen, stand glückstrahlend auf dem Siegerpodest und sah erstaunt ein schwarzhaariges Mädchen auf sich zukommen. Es lächelte ihm freundlich zu und überreichte einen Gladiolenstrauß. Artur wollte Kavalier sein, zog aus dem Strauß eine schöne Gladiole heraus und gab sie der kleinen Französin. Die wurde rot, sagte "merci" und lief davon.
Am Abend zog sich Artur ein sauberes Hemd an und machte sich auf die Suche nach seiner unbekannten Freundin. Neben dem Küchenzelt fand er sie. Dort saßen sie bei Kaffee und Kuchen. Babettes Nachbarin rückte zur Seite, winkte Artur zu und lud ihn freundlich ein, Platz zu nehmen. Dabei sagte sie etwas wie "Monsieur Täve".
Artur war um Gesprächstoff nicht verlegen. Er steuerte auf Babette zu und fing an zu erzählen. Ein junger Mann stoppte von Zeit zu Zeit Arturs Redefluss und übersetzte seine Schilderungen ins Französische. Nach dem Kaffeetrinken ging es zum Baden.
Artur war nicht nur ein guter Rennfahrer, sondern er konnte auch schwimmen wie ein junger Seehund. Das zeigte er gehörig. Er hechtete von den Zweigen einer alten Erle kopfüber in den See, tauchte nach einem ins Wasser geworfenen Taschenmesser und kraulte allen anderen Jungen davon.
Der Abend kam und mit ihm der Abschied. Artur musste Babette die Hand geben und "Auf Wiedersehen" sagen. Sie sagte "Au revoir" und drückte ihm eine Postkarte in die Hand. Ihre Adresse!
Artur beschloss, ihr einen Brief zu schreiben.
Nach dem Abendbrot setzte er sich hin und schrieb:
Liebe Babette,
ich ergere mich ganz entsetzlich! Weizt du warum? Weil ich vergessen habe, dier meine anschrift zu geben. Hir isst sie. Artur Pahl Werben. So, jtzt kanst du mier antworten. Ich bin sehr gespant auf deinen Brif. Wenn es sich machen lest schick mir ein Bild von dir und auch eines vom Siger der Tuhr de franze. Bilder von Radfarern samle ich nämlich.
Es grüzt dich dein Freund Artur.

Die Tage schlichen im Schneckentempo dahin. Der erste Schultag kam, aber aus Frankreich immer noch keine Antwort. Nun begann er zu zweifeln, ob Babette überhaupt geschrieben hatte.
Trotzdem behauptete er in der Deutschstunde, er korrespondiere mit einem französischen Mädchen.
Die anderen lasen die Briefe vor, die sie aus dem Ausland erhalten hatten. Artur saß mit leeren Händen da und ärgerte sich.
Um das Maß seines Kummers voll zu machen, lautete das nächste Aufsatzthema: "Ein Brief an einen ausländischen Freund".
Es wurde Arturs kürzester Aufsatz. Auf einer knappen Seite erklärte er, das ganze Briefschreiben mache keinen Spaß, wenn man niemals eine Antwort erhalte. Ärger und Ungeduld hatten ihm die Feder geführt, und jemand, der Artur nicht kannte, mochte denken, der Aufsatz sei in arabischer Geheimschrift abgefasst.
Auf dem Nachhauseweg wurde er von der "Post-Lotte" angehalten.
"Frankreich hat sich gemeldet", sagte sie und: "Deine Freundin muss eine richtige Schluderliese sein. So eine krakelige Handschrift habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Ein Wunder, dass der Brief überhaupt angekommen ist."
Arturs Herz klopfte. Der weiße Umschlag war tatsächlich aus Frankreich. Aber die Schrift kannte er doch! Das war ja seine eigene!!! Es gab keinen Zweifel, Babette hatte die Adresse bis auf das letzte I-Tüpfelchen seiner Vorlage nachgemalt. Die Krakel stammten von ihm. Sie waren umrahmt von einem halben Dutzend Adressen, die Postleute aus allen möglichen Orten aus dem Original herausgedeutet hatten. Endlich nach sechswöchiger Odyssee war der Brief da angekommen, wo ihn die kleine Babette eigentlich hingeschickt hatte.
Artur, der sonst im Schalten sehr geübt war, brauchte eine Weile, bis er die Zusammenhänge begriff. Als er sie begriffen hatte, war ihm nicht so ganz wohl. Hastig riss er den Umschlag auf und nahm den Brief heraus. Er war in einer Schrift abgefasst, von der Artur nicht einmal geträumt hatte. Leider verstand er von dem Geschriebenen nicht mehr als seinen Vornamen, denn Babette schrieb ja französisch. Also musste er Frau Wenning bitten, ihm den Brief zu übersetzen.
In der nächsten Stunde stand Grammatik auf dem Plan. Das war für Artur ein Grund mehr, seinen Brief vorzuzeigen. Normalerweise konnte man Frau Wenning nicht so schnell ablenken. Aber diesmal machte sie eine Ausnahme.
Im Brief war zu lesen:
Lieber Artur, ich danke dir für Deinen reizenden Brief, den Du mir aus dem Ferienlager geschrieben hast. Du bist wirklich ein großartiger Radfahrer. Jetzt möchtest Du sicher wissen, warum ich nichts aus Deinem Brief beantworte. Das ist mir leider nicht möglich. Ich habe ihn drei Leuten gezeigt, aber keiner fand sich mit Deiner Schrift zurecht. Die Adresse habe ich genauso nachgemalt, wie Du sie hingekritzelt hast. Ich hoffe, Du bekommst den Brief trotzdem und schreibst mir dafür einen, der auch zu lesen ist.
Mit freundlichem Gruß
Babette Bruon
Artur wurde rot und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. Seine Freunde blickten ihn verstört an. Wie oft war der rasende Artur wegen seiner Schrift und der schlechten Rechtschreibung getadelt worden; nie hatte man ihn dadurch aus der Ruhe bringen können. Sie mochte seine Verlegenheit kaum begreifen und warteten gespannt auf Frau Wennings Reaktion. Doch die lies die Hefte herausnehmen, holte ein Mädchen an die Tafel und begann mit der Grammatikstunde.
Als es zur Paus klingelte, stürzten die Klassenordner nach vorn, um den Tafeltext auszulöschen. Da hörten sie, wie jemand rief: "Wartet doch, ich bin noch nicht fertig mit Abschreiben!!"
Der es da gerufen hatte, war der rasende Artur.
 



 
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