Die große Leere

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mikhan

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Die große Leere

Die entsetzliche Leere, welche die langen Jahre der Abhängigkeit bei ihm hinterlassen hatte, begann sich nur gemächlich wieder zu füllen. Zwischen seiner reinen, unbeschwerten Kindheit und dem heutigen Tag befand sich ein unüberwindbares, unheimliches schwarzes Loch, das immer noch große Anziehungskraft auf ihn ausübte. Nur ein unüberlegter Schritt, und er würde sich wieder darin gefangen finden, doch dann für alle Zeiten. Nein, das durfte nicht passieren!
Wie gerne wäre er zurückgekehrt zu jenen fröhlichen Tagen, als seine Gedanken noch ungetrübt und sein Herz rein gewesen waren. Aber das war nicht mehr er, der da am anderen Ende des Loches stand, das war ein Fremder, der ihm nicht einmal mehr äußerlich ähnelte.
Vergeblich versuchte er, während er durch seinen alten Heimatort streifte, die vergangenen Gefühle und Erinnerungen wieder aufleben zu lassen.
Mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren gab er ein bedauernswertes Bild von einem Mann ab: ein junger Erwachsener, der bereits seiner Vergangenheit nachtrauerte und dieselben körperlichen Gebrechen aufwies wie der eigene Großvater. Seine Freundin hatte ihn als erste verlassen, dann seine vermeintlichen Freunde und zuletzt auch noch seine Familie. Nur sein Bruder schien noch gewillt, ihn bei sich zu empfangen, doch auch das nur mit Vorbehalt.
Ohne einen Job, geschweige denn einem Schulabschluss oder einer sonstigen Ausbildung sah er sich außerstande noch einmal von vorne zu beginnen, sich eine neue Zukunft aufzubauen. Sein Schicksal interessierte niemanden, bei den Behörden war er nur eine von vielen Nummern, die jeden Tag aufs Neue erschienen.
Ein kleiner Junge winkte ihm von der anderen Straßenseite her zu, was ihn sehr überraschte. Doch auch ihm kam der Junge auf der anderen Straßenseite seltsam vertraut vor. Neugierig geworden, schickte er sich an, die Straße zu überqueren.
Doch dann ließ ihn eine plötzliche Eingebung das Blut in den Adern gefrieren: der Junge war niemand anderes als er selbst! Der kleine Junge winkte ihm energisch zu, schien ungeduldig geworden zu sein. Es war ihm beim besten Willen nicht möglich die Straße zu überqueren, hätte er es aber getan, so wäre er wohl gestorben, wenn nicht vor Angst, dann aus anderen, unheimlicheren Gründen. So blieb er einfach an Ort und Stelle stehen und betrachtete sich selbst, wie er im Alter von vielleicht zehn Jahren ausgesehen hatte. Der Junge winkte nicht mehr, sondern sah jetzt nur noch zornig hinüber, offenbar ebenfalls unfähig, die Straße zu überqueren. Es sah so aus, als würde er etwas sagen, seine Lippen bewegten sich ständig, doch kein Ton drang herüber.
Der Anblick des Jungen machte ihm plötzlich keine Angst mehr, stattdessen spürte er eine Traurigkeit in sich aufsteigen, die viel tiefer und umfassender war, als alles, was er an diesem Tag, ja in seinem ganzen Leben, bisher empfunden hatte. Es kam ihm so vor, als sei der Junge der einzige Mensch auf der Welt, der dieses Gefühl der völligen Traurigkeit zu verstehen vermochte und wieder spürte er dieses erdrückende Gefühl der totalen Einsamkeit, welches ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte. Ohne es zu merken war er einen ganzen Schritt nach vorne getreten. Er tat noch einen Schritt, noch einen, noch einen weiteren…doch mit jedem Schritt den er nach vorne tat, schien sich der Junge nur von ihm zu entfernen, bis er schließlich nichts weiter als eine nebulöse Gestalt in der Ferne war.
Er stand mitten auf der Straße und bemerkte das dröhnende Hupen des Lastwagens nicht einmal. War da nicht vielmehr das Gelächter von spielenden Kindern zu hören?
Der Lastwagen hatte ihn am jenem Tag lebensgefährlich verletzt, doch als er schließlich wieder in einem Krankenhaus zu Bewusstsein kam, schienen seinen früheren Sorgen und Ängste und selbst seine tiefe Verzweifelung verschwunden zu sein. Er war froh am Leben zu sein. Das Leben war das einzige, was er besaß, und wie schwer es auch sein möge, es war auf jeden Fall besser als der Tod.
 

gox

Mitglied
Hello mikhan,
eine dunkel-traurige, aber durchaus gelungene Geschichte.

Allerdings kann ich ihrer Logik am Ende nicht folgen: So öde und traurig und beschwerlich ist das Leben - da schiene mir der Tod doch besser. Egal ob mit LKW oder ohne.
Ein paar Kommas mehr würden das Lesen wohl erleichtern...

Viele Grüsse vom gox
 



 
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