Die gute Saat

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Bonaventura

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Heute bringt Mutter Sabine in die neue Schule. Ein Klinkergebäude ist es. Über den Treppenaufgängen liest man die Worte „Jungen“ und „Mädchen“ in Stein gemeißelt. Zuerst gehen sie zum Büro des Schulleiters. „Herein“ ruft jemand und dann öffnet Mutter die Tür. Ein Mann erhebt sich hinter dem Schreibtisch und sagt „Wolf“. Wie weiß sein Haar ist, denkt Sabine. Mutter lächelt und sagt „Sager“. Sie geben sich die Hand. Er blickt Sabine an, sagt dann zu ihrer Mutter: „Sie kommt zu Frau Wolfram in die Klasse“. Sabine mag ihn nicht, gar nichts hier mag sie. Sie will nicht zu Frau Wolfram und auch nicht in diese Schule. Niemand soll merken, daß Sabine Angst vor der neuen Klasse hat. Der Schulleiter begleitet sie, geht mit ihnen den Flur entlang. Mutters Absätze klicken auf dem Linoleum. Vor einer der offenen Türen ganz am Ende bleiben sie stehen. Sabine hängt ihren Anorak auf einen Haken an der Holzleiste. Gott sei dank musste sie heute morgen keine Mütze aufsetzen. Mutter will das immer, weil Sabine so oft Ohrenschmerzen bekommt. Sie hasst Mützen. Sie blickt an sich herunter. “Hoffentlich lachen sie nicht über meinen blauen Wollrock. Und dieser gestreifte Pullover“. Sie darf nie anziehen, was sie will. Ihre Mutter sagt: “Sabine, ich warte noch, bis Frau Wolfram kommt“. Da kommt eine Frau den Flur entlang auf sie zu, sie geht ganz schnell. Sie ist klein und trägt feste Schuhe. So nennt Mutti solche Schuhe, mit Schnürsenkeln und dicken Sohlen. Sie quietschen auf dem Fußboden. Nun streckt sie dem Schulleiter die Hand entgegen.
Alle stellen sich noch mal vor und reichen sich die Hände. Nun muss sie also in die neue Klasse. Mutti küsst sie schnell und geht dann fort. Sie treten ein. Gleich sieht Sabine, dass sie hier noch alte Pulte haben. Da schiebt man sich seitlich hinein, um sich hinzusetzen. In der Ritterstrasse in Eilbek hatten sie neue Tische und Stühle. Es sitzen schon so viele Kinder in den Pulten. Immer zwei zusammen. Sie fühlt, wie sie sie anstarren und da hört sie schön: „Setz dich mal da hinten in die Reihe, da ist noch ein Platz frei“ „neben Heidemarie Luppy“, und Sabine geht durch den Gang in der Mitte nach hinten. Sie schiebt sich in das Pult und hängt ihren Lederranzen auf den Haken an der Seite. Vorsichtig schielt sie auf Heidemarie. Die schaut zurück, sagt aber nichts.
„Wir singen jetzt erst mal ein Lied. Dann kann Sabine gleich sehen, was wir hier so machen“, sagt Frau Wolfram.
„Im Frühtau zu Berge“ ruft ein Mädchen. „Nein, lieber „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“ eine andere. “Birgit“ sagt Frau Wolfram da, „du darfst wählen“. Alle drehen sich nach Birgit um. Sie legt ihren Zeigefinger an die Lippen, sie denkt wohl nach. Dann sagt sie: “Kein schöner Land in dieser Zeit“.
„Gut“, sagt Frau Wolfram, summt einen Ton und hebt die Hände. Die Klasse singt. Sabine hört zu. Frau Wolfram dirigiert. Am Schluss breitet sie Hände weit aus und hält sie dann hoch wie zum Segen in der Kirche. Alle hören auf.

„Schön“, sagt sie jetzt, „holt Eure Fibeln raus. „Sabine, wir holen nachher deine Bücher in der Pause. Jetzt kannst du bei Heidemarie mit hinein schauen“.
Heidemarie schiebt ihre Fibel ein wenig in die Mitte der Bank.
Es ist dieselbe Fibel wie in der Ritterstraße. „Bunte Welt“ heißt sie. Sabine mag Lesen. Sie kann gut lesen und hat schon die ganze Fibel durch. Die Geschichten von Nis Puck liest sie oft.
Aber so weit sind sie hier noch lange nicht. Sie lesen von Heini und Lene und ihrem Hund Leo. Diese Geschichten sind in größeren Buchstaben geschrieben als die weiter hinten im Buch.
Birgit soll lesen. Birgit liest sehr gut. „Sabine, jetzt lies du mal“, sagt Frau Wolfram, „mal sehen, wie du liest“, sagt sie doch tatsächlich. Und Sabine liest. Sie zittert innerlich etwas. Aber alles klappt gut.
„Birgit wird dir sagen, was wir hier so machen“, sagt Frau Wolfram wieder. „Birgit ist wohl ihr Liebling“ denkt Sabine.„Sie wohnt in der Sudeckstrasse, nicht weit von euch. Sie kann dir ihre Hefte zeigen, dann siehst du alles. Birgits Hefte sind sehr ordentlich.“
Sabine schaut zu Birgit hinüber. Sie wünscht sich auch lange Haare und einen Pferdeschwanz, wie ihn Birgit trägt. Aber das darf Sabine nicht. Ihr Haar wird im Nacken immer kurz geschnitten und an der Seite gescheitelt. Eine Haarklammer hält die Haare aus dem Gesicht. Dabei hatte Mutti als Kind selbst schöne lange Zöpfe. Sabine hat es auf ihren Fotos gesehen, die sie aus Stettin mitgebracht hat. Birgits Haar ist ganz glatt. Tante Lore nennt solches Haar immer „Schnittlauchlocken“.
Neben Birgit sitzt ein Mädchen, das auch einen Pferdeschwanz trägt. Er ringelt sich lockig über ihrem Nicki und der Pony wellt sich über ihren Augen.. Durch die Frisuren sehen beide aus wie Schwestern.
Ihr grüner Nicki ist von Schober. Das sieht Sabine gleich. Weil Mutti ihr auch einen Nicki gekauft hat. Einen echten Schober Nicki. Nur darf sie den nicht zur Schule anziehen.
Da klingelt es, schon die Pause. Aber nur die kleine, die große Pause ist erst nach der nächsten Stunde.
Alle drängeln raus. Sabine steht auf. „Komm, wir holen die Bücher für dich“, hört sie Frau Wolfram. Sabine geht zu ihr. Die Lehrerin geht aus der Tür und rennt in einem Tempo den Gang entlang, daß Sabine kaum folgen kann. Wenn sie einen Schritt macht, muß Sabine zwei machen. So pesen sie durch die Schule, Treppe runter, rechts und wieder links. Sie halten vor einer Tür. „Lehrerzimmer“ steht dran. “Warte hier“ sagt Frau Wolfram. Sie geht hinein und kommt gleich wieder heraus, mit einem Schlüssel. Damit schließt sie die Tür neben dem Lehrerzimmer auf. Sie gehen hinein. Sie sieht Regale mit vielen Büchern. Sie holt mehrere Bücher und hält sie Sabine hin. „Hier ist das Rechenbuch, ein Gedichtbuch, die Fibel. Hefte gebe ich dir noch oben in der Klasse. Deine Mutter soll sie für dich einpapieren“. Sie gehen hinaus, Frau Wolfram schließt die Tür zu und sagt: “Du kannst wieder in die Klasse gehen“. Sabine nimmt die Bücher, knickst wieder und geht nach oben. „Rechnen für das zweite Schuljahr“ steht auf dem Rechenbuch, Sabine macht es auf und gleich wieder zu. Sie mag nicht gern rechnen. Das Buch ist auch fleckig. Die Fibel ist sauber, wohl wenig benutzt. Das Gedichtbuch sieht schön aus, es heißt „Die gute Saat“ und ist schon für das 2. + 3. Schuljahr. Es sind Geschichten, Bilder und Gedichte drin. Der Einband ist dunkelrot.
„Wo wohnt ihr?“ fragt Birgit, die plötzlich neben ihr steht.
„Haynstrasse 32“ antwortet Sabine. „Ja, das ist nicht weit von uns“, meint Birgit. „Wir bringen aber erst Hannelore nach Hause, sie wohnt Breitenfelder Strasse“.
Da läutet es und sie müssen zurück in den Unterricht. Birgits Pferdeschwanz wippt, wie sie so vor Sabine her geht. Bestimmt ist Hannelore ihre beste Freundin. „All die anderen Mädchen in der Klasse gefallen mir nicht so wie diese beiden“, denkt Sabine.
Die Schule in der Ritterstrasse fällt ihr wieder ein. Ihre Freundinnen dort, Uschi und Renate Pirner und Gisela Obenhaus. Da geht Hannelore im grünen Nicki an ihr vorbei und zischt: “Birgit ist meine Freundin, merk’ dir das!“
Das tut weh. Sabine sagt gar nichts und geht wieder nach hinten auf ihren Platz.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

stellenweise n bischen langatmig, aber durchaus interessant. allerdings scheint es mir mittendrin aufzuhören. ich würde gern mehr über diese schulkinder lesen. ganz lieb grüßt
 



 
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