Die kleine Flasche

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ibini

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Sie stand im Supermarkt am Ende der Straße. In dem Regal gleich neben der Eingangstür ganz oben. So konnte sie gut beobachten, was sich in dem Laden tat, wer aus und ein ging, wer mit wem sprach. Sie kriegte mit, wenn sich die Frau an der Kasse vertippte und bemerkte, wie der junge Mann mit der roten Schirmmütze eine Tafel Schokolade heimlich in seiner Tasche verschwinden ließ. Sie wußte in ihrem Reich genau Bescheid. Denn sie sah alles, ohne selbst gesehen zu werden: die kleine grünliche Glasflasche mit dem beinahe kunstvoll geschwungenen Bauch. Mehrere Monate war sie schon da. Leer, wie vergessen. Was um sie herum lagerte, war inzwischen verschiedene Male ausgewechselt worden. Die Flasche beachtete keiner. Auf diese Weise konnte sie ein äußerst geruhsames Leben führen.

Das änderte sich, als der Supermarkt einen neuen Leiter bekam. Dessen Blick fiel sofort auf die kleine Flasche. Sie vom Regal zu nehmen und – nach kurzem Stirnrunzeln – in den Müllcontainer zu werfen, war eins. Und die kleine Flasche checkte das gar nicht. Denn sie schlief gerade und träumte von einem Paradies, zu dem nur ihre Schwestern und Brüder Zugang hatten. Erst das für sie ungewohnte Gerüttle und Geschüttle, Geholpere und Gepoltere riß sie aus ihren Phantasien. Als sie zu sich gekommen war, fand sie sich auf einer riesigen Mülldeponie wieder. Bis sie begriffen hatte, dauerte es geraume Zeit. Um so größer war dann allerdings die Ernüchterung. Die zunächst fließenden Tränen fanden kein Mitleid. Im Gegenteil! Alles in ihrer Umgebung – von der zerbeulten Blechdose bis hin zum angefaulten Apfel – lachte und amüsierte sich über sie und sprach nur noch von „der Flasche“. Lediglich ein winziger Wurm hatte Mitleid mit ihr und versuchte, sie zu trösten.

So ging es etliche Tage bei Wind und Wetter. Tagsüber war es unerträglich warm, des Nachts unverhältnismäßig kalt. Und immer wieder Regen und Regen. Der kleinen Flasche machten diese äußeren Bedingen natürlich besonders zu schaffen. Denn ihr Leben war bisher in großer Sauberkeit und unter idealen klimatischen Bedingungen abgelaufen. Daß sie damit in den Augen ihrer „Leidensgenossen“ etwas Besseres war, bekam sie ständig zu spüren. Vor allem, als die kleine Flasche krank wurde, half ihr außer dem Würmchen niemand. Zum Glück war es nur eine Grippe, von der sich die kleine Flasche bald erholte.

Inzwischen waren ein paar Wochen verstrichen. Die kleine Flasche hatte sich schon fast mit ihrem Schicksal abgefunden. Da tauchte eines Morgens ein Müllsammler auf. Die kleine Flasche sah er sofort. Und er erkannte, daß sie ihm einige Cents einbringen könnte. Er lud sie deshalb auf sein schon ziemlich volles Handwägelchen, um zu versuchen, sie auf dem nahen Markt an den Mann zu bringen. Doch das Schicksal hatte bereits entschieden. Der Müllsammler hatte kaum die ersten Häuser der Stadt erreicht, als ihm zwei ältere Frauen entgegenkamen. Ihr Aussehen zeigte, daß sie aus besseren Kreisen stammten. Als die eine die kleine Flasche erblickte, meinte sie spontan: „Oh, was für ein hübsches Fläschchen! Genau so, wie ich es schon lange suche!“ Schnell war man sich handelseinig. Und für einen Euro wechselte die kleine Flasche ihren Besitzer.

Heute ziert sie den Eingangstrakt einer Villa, dem Zuhause derer, denen auch der Supermarkt der Stadt gehört. Die kleine grünliche Glasflasche steht etwas erhöht gleich neben der Eingangstür. So kann sie gut sehen, wer alles aus und ein geht, was sich in ihrem neuen Reich tut. Und in ihrem beinahe kunstvoll geschwungenen Bauch hat auch der winzige Wurm eine Heimat gefunden!
 

ibini

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Hallo flammarion,
… von was lebt der Sonnenstrahl, der die Rose in ihrem tiefsten Rot erblühen, die Phantasie, die ein Kind dem Zauber des Paradieses erliegen oder das Wort, das im Rausch der Liebe ein Herz schneller schlagen läßt? Warum fragen, wo der Tag beginnt oder die Nacht endet, wenn ein Stern den Weg weist? Nur ein Hauch das Leben in der Unendlichkeit der Gedanken!

Mit Gruß
ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na,

das hab ich mir gedacht, daß so ne antwort kommt. dummerweise kann ich an einem wurm nichts romantisches entdecken, jedenfalls an diesem nicht. lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

… nichts Romantisches entdecken! Das liegt an dem Bild, das Du Dir geschaffen hast! Es handelt sich nämlich um keinen Wurm schlechthin, etwa von der Statur eines Regenwurms, also kein Brrrr, sondern um einen winzigen Wurm, wie mehrfach gesagt. Selbst diesen braucht man aber nicht romantisch, man kann ihn durchaus auch rational-nüchtern betrachten. Es wäre dann ein Würmeling. Der war einmal unser Familienminister. Und er lebt, wenn er noch leben würde (ich glaube jedenfalls, daß er nicht mehr auf Erden weilt), unter anderem von seiner Pension, um Deine ursprüngliche Frage zu beantworten.

Sorry, ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, das sollte ein Witz sein. Das mache ich nie wieder! Echt versprochen!!!

Mit Gruß
ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ei,

was sollte ein witz sein? die sache mit dem minister oder deine geschichte? und mach ruhig witze, deine scheinen mir harmlos und liebenswert. nee, ich kann mich mit dem wurm nicht anfreunden, weil du ihm zu wenige adjektive gegeben hast, ebenso der kleinen flasche. mir fehlt schlichtweg das salz an der suppe bei deiner geschichte. schlecht ist sie nicht! lg
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

… natürlich sollte der Minister der Witz sein! Bei meiner Geschichte dachte ich eigentlich eher an witzig. Ein bißchen wenigstens. Mit dem Würmchen in der Flasche als abschließenden Gag. Ohne viel Worte. Aber die Geschmäcker sind halt verschieden. Zum Glück! Im vorliegenden Fall liegt es vermutlich an Deiner grundsätzlichen Einstellung zu dem Würmchen. Oder zu Würmern generell? Interessant Dein Hinweis auf fehlende Adjektive. Vor allem im Hinblick auf die Flasche. Könntest Du an einem klitzekleinen Beispiel erläutern, was Du bzw. wie Du das meinst? Ich lerne gerne dazu, kann mir allerdings im Moment kein rechtes Bild machen. Witzeln werde ich also weiterhin. Ist mir auch lieber so! Schließlich kann ich nicht den ganzen Tag verkleidet durch die Gegend rennen.

Mit Gruß
ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

es reicht mir nicht, daß von einem winzigen wurm die rede ist. was veranlaßt ihn, zu helfen? seine vorgeschichte fehlt mir oder wenigstens ein einblick in seine person.
aber du hast recht, mir ist erst durch deine geschichte klar geworden, daß ich ziemlich heftig was gegen würmer habe. (kicher) ganz lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

… es war einmal ein sieben-, achtjähriges Mädchen. Die Kleine hatte ein Buch, das sie heiß und innig liebte. Es war ein typisches Kinderbuch mit dickeren Seiten als üblich und verschiedenen kurzen Geschichten. Das Besondere an dem Buch war, klappte man es in der Mitte auf, dann sprang einem ein dreidimensionales Bild entgegen. Eine relativ gruslige Darstellung von Geistern und dergleichen. Obwohl das Bild dem Kind Angst machte, guckte es gerade dieses fast automatisch immer wieder an. Es schlug dazu aber nicht das fragliche Objekt direkt auf. Nein, es nahm das Buch, schaute es von der dem Rücken gegenüberliegenden Seite an, klappte es ganz vorsichtig auf, bis die Kleine das bewußte Bild erkennen konnte. In diesem Moment schlug es das Buch wieder zu, wobei dem Mädchen das Entsetzen im Gesicht geschrieben stand. Das hielt es aber nicht ab, immer und immer wieder auf die beschriebene Weise nach dem gefürchteten bzw. gehaßten, gleichzeitig jedoch geliebten Bild zu schielen – wie schon gesagt, es war ihr Lieblingsbuch!

Ich meine nun, daß sich Deine Reaktion in der des Mädchens (Dir zunächst unbewußt) im gewissen Sinne widerspiegelt. Es ging von Anfang an gar nicht so sehr um den Winzling, es war wohl mehr die Vorstellung eines Wurmes an sich, die in Dir etwas Negatives ausgelöst hat. Deshalb auch das Brrr in Deinen ersten Zeilen. Denn dieser Ausdruck des Schauderns paßt zu einem so winzigen Tierchen doch eigentlich gar nicht so recht, oder? Deinen Hinweis auf die fehlenden Adjektive bei Flasche und Würmchen konnte ich mir wirklich nicht erklären. Dein Beispiel hierfür betraf allerdings nicht wie erhofft die Flasche, sondern das Würmchen. Warum Du dann überhaupt auf meine „Flasche“ reagierst hast? Ja, ich glaube (und ich wiederhole mich etwas), es dürfte im Prinzip ähnlich wie bei dem kleinen Mädchen und ihrem Lieblingsbuch sein! Oder bist du anderer Ansicht?

Was ich mit all dem sagen will? Ich hätte schreiben können, was ich wollte, in Deinem Bewußtsein wäre gewiß vorrangig das Würmchen gewesen. Obgleich es nur – ich bin mir sicher, das siehst Du nicht anders – ein auflockerndes Nebenelement ist. Ich hätte es in Gold kleiden können, Dir hätte an dem Tierchen vermutlich etwas mißfallen. Das Brrr wäre immer im Raum gestanden! Deine letzten Worte bestätigen es ja, meinst Du nicht auch? Das ist nun weder schlimm noch tragisch, nur gewissermaßen ein rotes Tuch, wie es bei allen Menschen mehr oder weniger bewußt in irgendwelcher Form zu finden ist. Es kann dies ein einziges Wort sein, vielleicht sogar allein eine Geste.

Ich hoffe jedenfalls, Du nimmst mir meine Offenheit nicht übel. Diesmal ohne Witze, dafür mit besonders herzlichem Gruß

ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nee,

da haste nich ganz recht. wenn du das würmchen besser eingeführt hättest und auch die flasche noch menschlicher gestaltet hättest, hätte mir die geschichte besser gefallen. sie wirkt ungelenk. als ich dir das erste mal schrieb, fand ich die richtigen worte nicht, und nun habe ich den salat. ganz lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

… was heißt „Salat“? Nun gut, wir sind unterschiedlicher Meinung. Denn für mich wäre jedes weitere Wort zu Flasche oder Würmchen eines zuviel. Das ist aber doch völlig okay – solange man sich deshalb nicht die Köpfe einschlägt! Ich empfinde jedenfalls unseren „Hickhack“ weit interessanter als den vielfach üblichen Austausch von „Allgemeinplätzen“.

Mit Gruß
ibini
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

und mich ärgert, daß scheinbar kein anderer eine meinung zu deiner eigentlich sehr netten geschichte hat. wenn sie mir nämlich nicht gefallen würde, hätt ich gar nicht den mund aufgemacht oder glatt herausgesagt, daß sie mir nicht gefällt. ich wollte, daß sie noch netter wird, verstehste.
ganz lieb grüßt
 

ibini

Mitglied
Hallo flammarion,

… ich finde es ja riesig nett von Dir, daß Du Dich für mich ärgerst! Aber ich glaube, eher macht es Sinn, ein Würmchen mit Hut und Krawatte am Halsband über den Kudamm zu führen. Onkel und Tante kreuzen immer dann auf, wenn man sie am wenigsten brauchen kann! Ähnlich dürfte es mit dem Leser sein. Es gibt ihn, irgendwo da draußen – zwischen oben und unten, links und rechts, dunkel und hell. Wolfgang Neuss hätte wahrscheinlich mit der ihm eigenen „Unerbittlichen Logik“ resümiert: „Es/lebe/der/Wollhändler!/Gäbe es keine Wollhändler/gäbe es keine Schafe./Gäbe es keine Schafe/hätte ich kein Publikum./Also/muß es/Wollhändler/geben.“ Warum sollte ich Dich nicht verstehen? Und gegen „besser“ habe ich absolut nichts! Denn was oder wer ist schon unfehlbar? Vielleicht der eigene Schatten, den es zu überspringen gilt. Wie meinte allerdings der schon Zitierte? „Ihr solltet mir immer einen leichten Größenwahn zubilligen, damit ich keine Minderwertigkeitskomplexe habe.“ Ich hoffe, jetzt verstehen wir uns!

Mit Gruß
ibini
 
E

enniaG

Gast
Unscheinbare Dinge..

Hi, liebe Ibini,
da ich heute das erste Mal diese Rubrik durchschweifte, da mir selbst eine Geschichte "reifte",
erblickte ich in diesem Raum auch diese, deine Zeilen und kam nicht umhin mal in ihr zu verweilen.

Ja, auch "Unscheinbares", wie so eine Flasche, findet im Leben SEINEN PLATZ.

Deine Geschichte gibt viel Fantasie wieder, denn es ist gar nicht so einfach über GEGENSTÄNDE zu schreiben.

Liebe Grüße

enniaG
 

ibini

Mitglied
Hallo ennia,

… ist heute im Zoo Fasten angesagt? Würde vielleicht dem einen oder anderen der Bewohner auch nicht unbedingt schaden, oder? Na ja, Du hast jedenfalls gewissermaßen „Kurzgeschichten-Forum-Premiere-zum-Anschauen“. Schön, daß Du da bei mir haltgemacht hast. Leider kann ich Dir keinen Kaffee anbieten, aber just vor Dir hat der Gerichtsvollzieher mit dem letzten Körnchen unter dem Arm das Weite gesucht. Und gefunden!

Es stimmt, selbst Unscheinbares hat im Leben seinen Platz. Was wäre der schönste Schuh ohne Senkel, das edelste Hemd ohne Knopf oder dieser Knopf ohne Loch? Vom Wort ohne Inhalt oder Gedanken ohne Sinn ganz zu schweigen. Und letztlich hat auch jedes Lebewesen seine Daseinsberechtigung, seine Aufgabe, ob wir das nun im Moment erkennen, wahrhaben wollen oder nicht. Ist es einfacher, über (simple) Gegenstände zu schreiben oder über das pulsierende Leben, die Natur? Das mag eine Frage der Phantasie sein. Wichtig ist freilich, daß es gelingt, sich mit dem jeweiligen Objekt zu identifizieren. Bilde Dir ein, Du wärst ein Stuhl, und Du wirst (bildlich gesehen) im Inneren bereits virtuell zu stöhnen beginnen, wenn ein Drei-Zentner-Mann nur in Deine Nähe kommt. Viel Erfolg.

Mit Gruß
ibini
 



 
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