Die letzte Nacht

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Raniero

Textablader
Die letzte Nacht

Der Umzug stand unmittelbar bevor.
Schon seit einigen Tagen waren die Handwerker im Haus; in demselben Haus, in welchem sie noch wohnten, das aber bereits verkauft war und das sie in Kürze verlassen würden.
Sie waren zu viert; die Mutter mit ihren beiden Kindern, der dreizehnjährigen Tochter und dem siebenjährigen Sohn sowie ihr Lebensgefährte, der seit ihrer Scheidung mit ihnen zusammenlebte.
In diesem Haus waren ihre Kinder geboren, hier hatte sie mit ihrem ehemaligen Ehemann und den Kindern lange Jahre zugebracht.
Die ersten Jahre bedeuteten eine glückliche Zeitspanne, geprägt von Aufbau- und aufbruchstimmung.
In der letzten Zeit jedoch überwogen Zwistigkeiten und Streitereien mit ihrem Ehemann, häufig aus nichtigem Anlass.
Sie hatten sich auseinandergelebt, und letztendlich war hieran ihre Ehe zerbrochen.
Ein Ende mit Schrecken, zwar, aber gleichzeitig die Beendigung eines unerträglichen Zustandes, vor allem für die beiden Kinder.
Der Ehemann hatte die Konsequenzen gezogen und das gemeinsame Domizil verlassen, noch vor der Scheidung.
Hinsichtlich des Besuchsrechtes des Mannes hatten beide Elternteile sich zum Wohle der Kinder zwar auf eine vernünftige Regelung geeinigt und versucht, das Beste daraus zu machen, doch für beide Kinder war die Trennung vom Vater ein harter Schlag, diese erste Erfahrung des Verlassenwerdens, denn genau dieses Gefühl stellte sich bei ihnen ein; sie fühlten sich vom eigenen Vater verlassen.

Vor einem Jahr war der neue Mann in ihr Leben getreten, zuerst in das Leben der Mutter, dann, als die Frau die Zeit für reif hielt, es ihren Kindern mitzuteilen, in das der gesamten Familie.
Es gab es unterschiedliche Reaktionen.
Während der Junge noch zu klein war, um urteilen zu können und nichts gegen einen neuen „Vater“ einzuwenden hatte, war die ältere Schwester nicht von dem Gedanken angetan, ihre Mutter mit einem neuen fremden Mann teilen zu müssen; sie fühlte sich stattdessen von der Mutter alleingelassen.
Doch sie war noch ein Kind und hatte sich zu fügen.


Der neue Lebensgefährte zog ein, in das Haus; sie waren nun wieder zu viert, erneut gab es Spannungen.
Diese Spannungen waren anders, in ihrer Art, als die, welche die letzten gemeinsamen Jahre mit dem Vater geprägt hatten.
Damals stritten sich Mutter und Vater; ein Kampf gleichstarker Parteien, in dem die Kinder langsam unterzugehen drohten, zwischen den Eltern, die sie gleichermaßen liebten und nicht missen wollten.
Nun jedoch gab es Spannungen zwischen der Tochter und dem „Neuen“, der sich wie ein Kuckuck in ihr Nest geschlichen hatte, in das Nest, in dem sie für einen kleinen Zeitraum, nachdem der Vater fort war, in verhaltener Ruhe leben konnten, lachen konnten.
Dieses Mal war es ein ungleicher Kampf.
Die Tochter konnte murren, schreien, toben, schwierig sein, doch eines konnte sie nicht, da sie noch Kind war; sie konnte nicht entscheiden, nicht selbstständig handeln, nicht ihren Weg bestimmen; letztendlich hatte sie sich zu fügen.
Die Mutter wiederum stand zwischen beiden Fronten, immer wieder bemüht, auszugleichen.
Der neue Lebensgefährte drängte ‚seine‘ Familie, das Haus aufzugeben und einen Ortswechsel vorzunehmen.
Er hatte in der Nachbarstadt ein Wohnobjekt ins Auge gefasst und versuchte nun, dieses seiner Partnerin schmackhaft zu machen; teils aus dem nicht uneigennützigen Zweck heraus, einen kürzeren Weg zu seiner Arbeitsstätte zu ermöglichen, teils von dem Wunsch geleitet, in dem neuen Heim, fern ab von der alten Wohnstätte, ein Zeichen zu setzen, einen neuen Lebensabschnitt für alle zu beginnen.
Die Mutter war hin und hergerissen. Ein neuer Anfang, in einer anderen Stadt.
Eine Arbeitsstelle ließe sich dort für sie gewiss finden, nach einer gewissen Übergangszeit, mit den Beziehungen, die ihr Partner zu unterschiedlichen Ebenen besaß. Der Schulwechsel für den kleinen Sohn stellte auch kein besonderes Problem dar, besuchte er doch noch die Grundschule.
Grosse Überzeugungskraft musste sie jedoch aufbieten, um ihrer Tochter den Wechsel schmackhaft zu machen. Verständlich, denn diese hatte hier ihren langjährigen Freundeskreis; auch ist ein Schulwechsel mit dreizehn Jahren, fest etabliert in der weiterführenden Schule, nicht so einfach zu bewältigen.
Es gab Tränen, auf beiden Seiten, doch zu guter letzt entschieden sich die Mutter und ihr Lebensgefährte für den Ortswechsel.

Am Morgen dieses Tages hatte die Mutter, wie stets, für ihre Kinder und den Lebensgefährten das Frühstück zubereitet; ein wenig provisorisch, da in dem zweigeschossigen Haus bereits seit einigen Tagen die Handwerker in den unteren Räumen tätig waren.
Das gesamte Gebäude sollte eine Schönheitsrenovierung erhalten, bevor es an den neuen Eigentümer überging.
Nach dem Frühstück verließ die Mutter gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Lebensgefährten das Haus. Hier trennten sich ihre Wege. Sie brachte ihren Sohn zur Schule, mit dem Auto, und setzte ihren Weg fort zu ihrer Arbeitsstelle. Ihr Lebensgefährte fuhr mit seinem Fahrzeug in die Nachbarstadt, zu seinem Büro. Die Tochter blieb im Haus zurück, allein; ihr Unterricht begann später.
Die Handwerker führten ihre Arbeiten fort.

Am Nachmittag wurde die Frau an ihrer Arbeitsstelle aufgesucht.
Zwei Beamte der Kriminalpolizei überbrachten eine furchtbare Nachricht.
Ihre Tochter war ermordet aufgefunden worden, zu Hause, im Badezimmer, getötet mit mehreren Messerstichen, aufgefunden worden vom eigenen Bruder.
Der Junge war von der Schule nach hause zurückgekehrt und hatte die Leiche seiner Schwester vorgefunden; laut schreiend war er durch das ganze Haus auf die Straße gelaufen.
Die Handwerker hatten gemeinsam mit einigen Nachbarn die Polizei verständigt.
Vor dem Gebäude traf die gebrochene Mutter auf den weinenden Vater ihrer Kinder.
Er war ebenfalls von der Polizei verständigt worden, ein Nachbar hatte die Telefonnummer seiner Arbeitsstelle genannt.
Die Eltern fielen sich verzweifelt in die Arme; es gab keine Vorwürfe, nur Trauer und Fassungslosigkeit. Den Jungen hatte man zwischenzeitlich in die Obhut der Großmutter, der Mutter des Vaters, gegeben. Die Mutter übernahm es selbst, ihrem Lebensgefährten, der kurz darauf eintraf, die furchtbare Nachricht zu überbringen.
Alle drei, die Mutter, ihr Lebensgefährte und der leibliche Vater standen unter großem Schock und wurden noch vor Ort ärztlich betreut.
Die im Hause tätigen Handwerker wurden an Ort und Stelle einem Verhör unterzogen. Es handelte sich um fünf Mitarbeiter ein und desselben Unternehmens; eines Spezialbetriebes für Hausrenovierungen.
Sie sagten übereinstimmend aus, nichts von dem schrecklichen Drama, das sich oben im Hause abgespielt hatte, bemerkt zu haben.
Allerdings konnte keiner von ihnen ausschließen, da sie zeitweise im Keller und zeitweise im Erdgeschoss des Gebäudes beschäftigt waren und die Haus- sowie auch die Terrassentür während der gesamten Arbeiten geöffnet waren, dass fremde Personen ins Haus hätten eindringen können.
Die Befragung wurde auf die Nachbarschaft ausgedehnt; auch hierbei gab es keine Erkenntnisse, die zu einer verwertbaren Spur führten.
Das gesamte Haus wurde versiegelt, für weitere polizeiliche Ermittlungen, und die Renovierungsarbeiten vorerst unterbrochen.
Die Nachforschungen konzentrierten sich erneut auf die Handwerker; die vernehmenden Beamten konnte einfach nicht glauben, dass keiner von diesen etwas bemerkt haben wollte.

Die grausame Nachricht war noch am selben Tag durch die Stadt geeilt, wie ein Lauffeuer. Im Mittelpunkt des allgemeinen Mitleides der erschütterten Mitbürger stand die Mutter des ermordeten Mädchens. Diese hatte zuerst ihren Sohn bei der Großmutter aufgesucht und versucht, ihm Trost zu spenden, sodann suchte sie selbst mit ihrem Lebensgefährten Zuflucht bei ihrer eigenen Mutter. Der Junge, so hatten sie sich mit dem Vater ihrer Kinder ohne Groll und Vorwürfe geeinigt, sollte vorerst bei der Großmutter bleiben.

Es wurde eine lange, sehr lange Nacht für sie und ihren Lebensgefährten.
An Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder fragten beide nach dem Warum.
Der neue Lebensgefährte versprach ihr bei allem, was ihm heilig war, dass sie ihn finden würden, denjenigen, der ihnen dieses angetan hatte. Eng umschlungen fielen sie in den Morgenstunden in einen kurzen Schlaf.

Am nächsten Morgen stand es in den Tageszeitungen, mit allen bekannten Einzelheiten.
Man las, dass die Kriminalpolizei die Suche ausdehnte, in ihren Nachforschungen, auf das Umfeld der Familie und den Freundeskreis der Tochter.
Weiterhin konzentrierten sich die Ermittlungen auch auf die Handwerker.
Der Lebensgefährte verabschiedete sich von der Mutter, für kurze Zeit. Er musste kurz zu seiner Arbeitsstelle, die er am Vortage bei Bekanntwerden des schrecklichen Ereignisses in Eile verlassen hatte.
Beide fanden dieses irgendwie profan, aber auf der anderen Seite, so sagten sie sich, musste das Leben ja irgendwie weiter gehen.
Nach seiner Rückkehr wollten sie gemeinsam mit dem leiblichen Vater die notwendigen Formalitäten für die Beerdigung treffen.


In den Mittagsstunden erhielt die Mutter eine zweite furchtbare Nachricht.
Die Polizei hatte es nicht einfach gehabt, unter ihrer Beamten jemand zu finden, der diese weitere Nachricht überbringen sollte. Man teilte der fassungslosen und gebrochenen Frau mit, dass ihr Lebensgefährte aufgefunden worden war, in einem Waldstück, unweit seiner Arbeitsstelle. Er hatte sich erhängt. Spaziergänger hatten ihn gefunden, am Vormittag. Einen Abschiedsbrief gab es nicht.
Der Lebensgefährte sollte an diesem Vormittag zu einem Vernehmungstermin bei der Kriminalpolizei erscheinen; es gab Widersprüche in seiner ersten Aussage hinsichtlich seines Alibis.
Weiterhin gab es die Aussage mehrerer Handwerker, die ihn gesehen hatten, wie er das Haus verlassen hatte, in verstörtem Zustand, Stunden, nachdem er mit seiner Lebensgefährtin und deren Sohn gemeinsam das erste Mal am Morgen aus dem Hause gegangen war.
Die Mutter brach schreiend zusammen.

Es ist des öfteren davon die Rede, dass Menschen auf Erden durch die Hölle gehen.
Innerhalb einer sehr kurzen Zeit zweimal durch die Hölle gegangen zu sein, liegt außer der menschlichen Vorstellungskraft.
Wie mag die Erinnerung dieser Frau sein, an diese furchtbaren Geschehnisse, und wie die Erinnerung an die letzte Nacht, die sie mit ihrem Lebensgefährten verbrachte?
 



 
Oben Unten