Die letzte S-Bahn

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die letzte S-Bahn

Erste Haltestelle unten am Rhein
Arm in Arm haben wir hinausgeschaut
Vom Meer geträumt
Urlaub geplant
Schon die Koffer gepackt
In Gedanken
Liebten wir uns am Strand
Nur noch ein halbes Jahr
Bis dahin

Weiter am Rhein entlang
Vorbei an den Villen
Die eine war schon fast gekauft
Der Umbau fertig
Wir hatten den ganzen alten Plunder
Aufeinander getürmt und angesteckt
Du kannst mit Worten
Ganze Welten schmücken
Ich liebe dich

Nur noch eine Haltestelle
Der Weg führt durch den Wald
Unseren Wald
Vorbei an der Bank
Ein erster scheuer Kuss
Dahinter der Baum und das Herz
Und dort
Die Wiese unserer ersten Liebe
„Nur mit dir will ich sein“, sagtest du

Nichts ist für ewig
Blicke noch einmal auf unsere Wiese
Und lege mich auf die Gleise
Sie sind kalt
Ich kann die Bahn schon hören
Sie müsste auf der Höhe unserer Bank sein
Nur noch die eine Kurve
Die Gleise vibrieren schon
Lebe wohl
 
M

mako

Gast
Hallo, Otto Lenk,

wow, ein toller Text, wenn auch mit einem sehr absoluten Ende, das keine Hoffnung läßt...oder gibt es vielleicht doch noch eine Weiche?

Dein Gedicht liest sich sehr flüssig und "dramaturgisch" bauen die Strophen gut aufeinander auf. Besonders gefällt mir Deine Wahl der verschiedenen Zeitformen, führt(e) mich doch in die Irre hinsichtlich des dann folgenden Endes.

Gruß
Mako
 

Mara Krovecs

Mitglied
Das ist ein Gänsehauttext!
Mitreißend im Aufbau,
das Ende überraschend,
das Atmen ziwschen den Zeilen
laut und verzweifelt.
Unglaublich gut geschrieben.

Liebe Grüße Mara :)
 
K

Klaus Ant

Gast
Hallo Otto,

Nach dem ersten Lesen war ich beeindruckt, wollte allerdings im vierten Abschnitt nach der dritten Zeile Schluß machen. Was willst Du da noch erzählen? Den Selbstmord ein wenig romantischer gestalten; es dem Leser leichter machen?
Beim zweiten Lesen fühlte ich mich durch die Aufzählung und Steigerung der ersten drei Abschnitte an einen Werbespot erinnert, in dem ein vorgeblich reicher Mann, Fotos von seiner Frau, seinem Auto und seiner Yacht zeigt (oder so ähnlich). Ich weiß nicht ob es dabei um einen Kredit ging - jedenfalls wäre das nicht unwahrscheinlich.
Ich habe den Eindruck durch Dein Gedicht sehen wir das andere Extrem, der möglichen Reaktionen auf Konsumfrust: Mit dem Urlaub klappts nicht, mit der Villa nicht und auch nicht mit der Frau, ergo Suizid.

Danke für Deine Anregung zum Nachdenken.
Ich hoffe Deine Gefühle nicht verletzt zu haben.
Klaus

P.S.: Ich lehne Selbstmord nicht ab, weder aus christlichen noch anderen Gründen - niemand hat sich ausgesucht geboren zu werden. Ich halte ihn allerdings, zumindest bei oben beschriebenen Problemen, für die schlechteste aller Lösungen.
Wer Freude an schönen Büchern hat, dem empfehle ich in diesem Zusammenhang, aus dem Verlag Faber & Faber, Leipzig, das Buch "Hiob". Ist natürlich auch in jeder handelsüblichen Bibel zu finden, aber dieses ist ein bibliophiles Kleinod, ein Künstlerbuch, komplett gestaltet und illustriert von Axel Bertram.
 
M

Mara K.

Gast
Lieber Otto Lenk,

der Text berührt mich sehr, alles geträumt, Luftschlösser gebaut... und dann ?
Es ist ein Gedicht, welches die Herbstmelancholie unterstreicht, traurig macht und nachdenklich.
Dieser Selbstmord, nun ... ein bitteres Ende.
Danke und ein lieber Gruß von Mara K.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich danke euch.......
Lieber Klaus,
Selbstmord ist immer die schlechteste aller Lösungen....und doch!
Was immer du beim lesen empfunden hast, es gibt keinen Grund sich zu entschuldigen. Es sind deine Empfindungen.
lG Otto
 

Jongleur

Mitglied
Letzte S-Bahn

"Du kannst mit Worten ganze Welten schmücken" - dieser Satz hat mich am meisten fasziniert, ihn habe ich auch zum Leitfaden durch das Gedicht genommen. Weshalb mir weniger das angeprangerte "mein Haus, mein Auto, mein Pferd" in den Sinn kam. Sondern eine Liebe, die auf Dauer gehofft, dann aber nicht für die Ewigkeit gewesen ist. Dies führt nach meiner Auslegung zur Verzweiflungstat des Menschen am Schluss des Gedichts. (Wie schrecklich, wie oft auch bei uns [auf der anderen Rheinseite?], eine Strecke unterbrochen ist und eine bestimmte Formulierung auf einen Menschen auf den Gleisen weist, einen versuchten oder vollendeten Freitod.)

Im Strophenaufbau fällt auf, dass die Steigerung sich nicht fortsetzt, sondern noch einmal zurückfällt. Eine Liebe zuerst, die von Urlaub, Strand, Freiheit in Zweisamkeit träumt. Dann baut man der Liebe ein Haus. Mir hätte ein "Haus" am Rhein statt der Villa mehr zugesagt. Jetzt - könnte eine Strophe über Kinder auf dem Spielplatz oder im Wald folgen, in der das Paar von einer gemeinsamen Zukunft, von Familie spricht. Aber das Gedicht geht zurück zu den Anfängen, zu erstem Kuss, erster körperlicher Begegnung.

In der letzten Strophe stoße ich mich an der Vermeidung des Pronomens "ich". "Ich" sehe noch einmal zu unserer Wiese ...

Die Liebe ist zerbrochen, sie/er ist gegangen, schließe ich aus dem zum Lebensabschied gesagten "lebe wohl". Weshalb dieser Selbstmord nicht so sehr ein Abschied von der Welt, als in erster Linie der Abschied von dem Partner ist, ohne den/die der/die andere nicht weiterleben will.

Mir geht es wie den anderen, gern lese ich dies verzweifelte Ende nicht, wünschte mir, ein Blick könnte im letzten Moment auf etwas ... Lebenswertes fallen, eine Umkehr ermöglichen.

Grüße vom Jongleur
 

Kinghorst

Mitglied
Eine nicht erwiderte Liebe ist immer ein Grund, sich hinterm nächsten Zug zu werfen. Davor wär ´s zu gefährlich. Mich stören solche übertriebenen und deshalb künstlich und nicht echt wirkenden Schlüsse. Sie machen aus Kunst Kitsch.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Kinghorst,

ich werde am Grab an deine Worte denken...

Hallo Jongleur,

werde zu einem anderen Zeitpunkt antworten. Ich danke dir schon mal für deine Mühe.

lG Otto
 
E

Edgar Güttge

Gast
Was sein muss, muss sein

Hallo Otto,

da dein Text in der S-Bahn abspielt, kann sich der Protagonist natürlich hinterher nicht in den Rhein werfen.
Ich habe nichts gegen Selbstmord. Suizid gehört zu meinen Hobbies. Was sein muss, muss sein.
Ein Pluspunkt ist, dass es die letzte S-Bahn ist, da häufen sich dann hinterher nicht mehr die Verspätungen (zu den Verspätungen der Bahn wegen Selbstmorden siehe Marcus Hammerschmitt - Das geflügelte Rad). Aufgeräumt werden muss hinterher trotzdem. Notfalls auch die ganze Nacht.
Ansonsten ein gelungener Text. Sehr gute Versstruktur, guter Aufbau.
In diesem Sinne alles Gute

Gruß
Edgar
 
H

Holger

Gast
Hallo Otto,
Ich mag ProsaLyrik sehr.
Und ich kann auch gut mit Deinem Text umgehen.
Ich stimme dem Jongleur zu und will das nicht weiter
auswalzen, wozu auch.
Noch größere Klasse würde der Text entfalten,
wenn er über die Schilderung und Bebilderung der
Situation hinaus gehen würde.
Mit den Bildern würde ich auch gern unter diese
Oberfläche schauen. Dieses Horchen an den Gleisen
ist zwar in der Beschreibung gut eingefangen,
mir aber doch zu wenig motiviert.
Ich seh dich nicht leiden, jedenfalls nicht lyrisch.
Den rest wünsche ich keinem.

Beste Grüße
Holger

PS. Solche wie Du sind das also, weswegen es immer
Verspätung gibt. ;)
 



 
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