Die schlimme Galle

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HFleiss

Gast
Die schlimme Galle

Ein Dreibettzimmer. Der Blick fiel auf das Bett in der Mitte, neben dem ein Ständer mit halbleerer Flasche Flüssignahrung blinkte. Eine grauhaarige Frau lag ausgestreckt wie eine Tote im Bett, sie lächelte an die Zimmerdecke. Das Bett am Fenster war sauber zugedeckt, eine zusammengelegte hellblaue Hänkeldecke am Fußende. Auf dem Nachttisch lag ein zusammengerollter Groschenroman.

Hertha Bleibtreu, der Neuankömmling, Schilddrüse, räumte den schmalen Schrank ein. Sie setzte sich auf das Bett an der Tür.

Das Fenster nahm die ganze Schmalseite des Zimmers ein, es ging hinaus auf ein Parkgelände, das man von hier oben im achten Stock nur ahnen konnte. Der Horizont ein schmaler dunkler Strich über Berlin, Hertha erkannte den Fernsehturm und das japanische Handelszentrum.

Die Tür ging auf. Die Bewohnerin des Fensterbetts verzog das Gesicht zu einem Grußlächeln. Eine Frau in Herthas Alter, um die Fünfzig, reichlich bepackt unter dem Morgenmantel, mit blondgelockter, unordentlicher Frisur. Stumm schritt sie auf ihr Bett zu, Hertha schien es, als presse sie in gerechtem Zorn, hier eine Neue vorzufinden, die Lippen aufeinander.

Sie stellten sich vor. Die Fensterbettinhaberin hieß Frau Müller-Wegwarth, Gisela. Galle, Operation in zwei Tagen.

„Schlimme Galle. Ganz, ganz schlimm! Nicht auszuhalten, sind Sie froh, dass Sie die nicht haben, Frau Bleibtreu. Hier tut es weh, rechts. So ein Drücken, unmenschlich. Wie mit dem Messer, als ob jemand drin rumwühlt.“

„Schilddrüse“, sagte Hertha. „Überfunktion, drei Adenome. Momentan keine Beschwerden.“ Sie war schon an der Tür.

Auf dem Gang war Betrieb. Eine Schwester kam ihr entgegen. „Frau Bleibtreu, erst mal im Zimmer bleiben, die Ärztin kommt gleich.“

Hertha ging zurück und setzte sich auf ihr Bett. Die Fensterbettinhaberin schmökerte in dem Groschenroman, nicht ohne ein paarmal zu der Neuen hinzublicken.

„Was hat denn die Frau, dass sie künstlich ernährt wird?“, fragte Hertha. Sie wies auf die Frau im Mittelbett.

Frau Müller-Wegwarth warf das Heft auf den Nachttisch. „Zu faul zum Schlucken. Was die hat, weiß der Himmel. Schweigt ja wie ein Grab. Und die Ärzte flüstern auch nur ewig, man kann kaum was verstehen. Und Sie, wann ist Ihre Operation?“

„Sagt mir die Ärztin gleich.“

„Ach so. Ja die Ärztin! Na, ich kann Ihnen sagen! Die hat mir eine Spritze gegeben, ich habe heute noch den blauen Fleck.“ Sie krempelte den Ärmel des Bademantels hoch. „Nun sehen Sie sich das an, ganz blau der Arm. Aber Schwester Lydia kann spritzen. Sie, die hat mir mal eine gegeben, die habe ich gar nicht gemerkt. Ich vertrag Spritzen nicht, mir wird immer gleich schlecht. Ich kann so schlecht Blut sehen. Soll ja bloß Assistenzärztin sein. Wollen Sie fernsehen? Ich seh so gerne die Gerichtsverhandlungen, Sie auch?“

Der Fernseher hing oben an der Wand, gegenüber den Betten. Hertha hatte ihn noch gar nicht bemerkt, Fernseher im Krankenzimmer kannte sie nicht. Frau Müller-Wegwarth stand auf und schaltete den Fernseher ein. „Ich mach mal den Ton lauter, damit man was versteht.“

Hertha legte sich aufs Bett. Eine Weile war sie mit der Gerichtsverhandlung beschäftigt. Sie merkte, dass sie am Einschlafen war.

„Ich bin Sachbearbeiterin beim Sozialamt“, sagte Frau Müller-Wegwarth, „ich muss mich vielleicht mit Typen herumschlagen. Mein Mann kriegt graue Haare von meinen Erzählungen. Typen, sage ich Ihnen. Wenn Sie wüssten.“

„Was?“

„Na, ich kann Ihnen sagen, was da hinrennt! Arbeitsscheue, Knackis, Homos. Na, und die Ausländer! Hecken wie die Karnickel. Kommen hierher und halten die Hand auf.“

„Ist doch ihr Recht.“

Frau Müller-Wegwarth schwieg. „Aber hierherkommen“, sagte sie in die Stille,
„und dann nur nehmen, finden Sie das in Ordnung?“

Hertha verschränkte die Arme unter dem Kopf. „Ja“, sagte sie. Es hatte trotzig geklungen.

Frau Müller-Wegwarth war baff. Sie drehte ihre Fülle dem Fenster entgegen.

Die Ärztin war jung, eine Afrikanerin, hochgewachsen, sehr schlank. Dr. Okamba, eine schöne Frau. Sie reichte Hertha die Hand, eine kühle, schmale und kräftige Hand. Sie sprach Deutsch mit kleinem Akzent. Die Operation war in vier Tagen angesetzt.

„Sie haben zwei Augen voll Angst, Frau Bleibtreu. Müssen Sie keine Angst haben. Alles perfekt, alles wird gut.“ Ihre Zähne blitzten beim Lächeln.

„Auch so eine. Meine ist aber eine andere, eine Deutsche.“ Die Ärztin war schon draußen. Die Müller-Wegwarth stand an der Tür, die Klinke in der Hand. „Die Schwarze, Ihre, soll mit dem Chefarzt und dem - na, beinahe hätte ich was gesagt -, stellen Sie sich vor, Frau Bleibtreu, und einem aus dem Fuhrpark was haben. Aus dem Fuhrpark!“

„Mir ist es egal, wer hier mit wem was hat. Ich will nur operiert werden.“

Frau Müller-Wegwarth schoss einen strengen Blick auf Hertha. Die Tür fiel ins Schloss.

Die Frau im Mittelbett regte sich. „Mit der legen Sie sich lieber nicht an, Frau Bleibtreu“,
nuschelte sie, sie hatte den Schlauch im Mund, „die hat hier irgendeine Sonderstellung. Aber ich weiß nicht, warum. Dieser verdammte Fernseher nervt. Können Sie ihn ausschalten?“

„Dann bestimmt sie auch darüber, ob nachts das Fenster offensteht.“ Hertha seufzte schwer. „Ich schlafe nämlich immer nur mit offenem Fenster.“

„Was meinen Sie! Die traktiert sogar die Ärztin. Ich hab mich auch schon beschwert wegen dem Fenster. Nachts ist hier reinste Bunkeratmosphäre, und jetzt, wo wir drei Frauen sind, erst recht. Aber was glauben Sie, die kuschen vor ihr, alle. Nur die Nachtschwester, vor der hat sie Respekt. Aber sie hat sich schon über sie beschwert, die Gute.“

Die Grauhaarige schlief wieder ein. Im Zimmer war es so still, dass man das Krähengekrächz im Park hörte. In der Nähe musste sich eine Autobahn befinden, Autos zischten über Beton.

Abends lief der Fernseher von neuem, Hertha und die Grauhaarige schliefen. Stimmen und Geräusche aus dem Fernseher ließen sie immer wieder aufschrecken.

Nachts erwachte Hertha mit Kopfschmerzen. Sie wühlte im Waschbeutel, irgendwo musste ein Briefchen Aspirin sein. Sie fand es nicht, die kleine Lampe über dem Bett anzuknipsen wagte sie nicht. Im Zimmer stand drückend warme Luft, menschliche Ausdünstungen und Seifengeruch mischten sich.

Frau Müller-Wegwarth im Bett am Fenster schnarchte. Über ihrer Bettdecke hatte sie die hellblaue Häkeldecke drapiert. Hertha stand auf und schlich sich am Müller-Wegwarth-Bett vorbei ans Fenster. Sie versuchte es zu öffnen, es klemmte. Es gab ein verräterisches Ruckgeräusch, als sie es endlich aufbekam. Sie atmete tief ein. Kühle, klare Nachtluft. Sie spürte den Kopfschmerz weichen.

„Was machen Sie denn da am Fenster!“ Die Müller-Wegwarth hatte sich im Bett aufgerichtet. Hertha schreckte zusammen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Müller-Wegwarth wach und sie bei verbotenem Tun erwischen.

„Machen Sie das Fenster zu! Ich will keine Lungenentzündung kriegen! Da hört sich doch alles auf. Neu hier und das Fenster aufreißen! Nur keine Rücksichtnahme!“

Hertha stotterte etwas. „Huhuhu!“ Die Müller-Wegwarth kreischte. Dann begann sie zu wimmern und hielt sich die rechte Seite. „Da geht man ins Krankenhaus, um gesund zu werden! Meine arme Galle!“ Sie wimmerte lauter.

Die Nachtschwester stand in der Tür. Auf weichen Sohlen schritt sie durchs Zimmer, vorbei an den Betten. Mit undurchdringlichem Gesicht schloss sie das Fenster.

„Ihre Decke, Frau Müller-Wegwarth.“ Sie drückte ihr die heruntergeglittene Häkeldecke
in die Hand. „Gute Nacht, die Damen.“

Hertha lag wach. Ihr erster Tag im Krankenhaus. Der Kopfschmerz bohrte in den Schläfen. Die Müller-Wegwarth als Kollegin im selben Zimmer, und sie würde kündigen, Arbeitslosigkeit hin oder her. Und noch mindestens zwei Wochen Müller-Wegwarth. Hertha lauschte: Die Müller-Wegwarth schnarchte gleichmäßig. Auf der Autobahn zischten noch immer die Autos. Die Krähen schwiegen.
 

maerchenhexe

Mitglied
hallo Hanna,

habe gerade deine "schlimme Galle" gelesen. Der Text gefällt mir, und die teilweise Überzeichnung der Charaktere lässt ihn sehr lebendig erscheinen. Aber über einen Satz stolpere ich: ...Die Schwarze, Ihre, soll...und d e m, stellen Sie sich vor, und e i n e m... Ich nehme an mit dem und einem ist jedesmal der aus dem Fuhrpark gemeint. Vielleicht könntest du den zum besseren Verständnis umstellen. z.B. "Die Schwarze, Ihre, Frau Bleibtreu, soll was mit dem Chefarzt und einem aus dem Fuhrpark haben. Gleichzeitg!

lg
maerchenhexe
 

strolch

Mitglied
die ganze frau ist eine schlimme galle und ihre einstellung zu den menschen, den sie ja eigentlich helfen soll - toll - wer mit der zu tun hat. - die frau ist wirklich ein kündigungsgrund. - normal ist sie am falschen platz.

aber wenn keiner mal den mut hat, gegen so einen drachen anzugehen, dann fühlen sich diese leute noch im recht. - eigentlich werden solche leute von den guschern (schreibt man das so?) aufgebaut.

lg brigitte

ja was maerchenhexe anspricht, stimmt - hatte ich auch probleme beim lesen.
 

Haarkranz

Mitglied
Hallo Hanna,

Entsetzlich das Krankenzimmer, die Frau am Fenster ist schön bös erfunden. Leider stimmt erfunden nicht, Krokodile dieser Art sind nicht selten. Verzeiht Krokodile, meinte nicht euch.
Was mich stört ist: Hertha legte sich aufs Bett.........sie merkte dass sie am einschlafen war.
am einschlafen war!? Unschöne Formulierung. Da fällt dir sicher Eleganteres ein.
Freu mich auf weitere Geschichten. Haarkranz
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Haarkranz, die Gute ist eine persona vivenda, leider nicht erfunden. Manchmal muss man seine Begegnungen einfach aufschreiben, damit eine Geschichte entsteht. Was machen wir denn mit "am Einschlafen sein"? Müde ist mir nicht müde genug, einduseln ist die nicht die Sprachebene, wie findest du "Langsam merkte sie, dass sie wegsackte?" Nein, auch nicht gut. "Schon halb eingeschlafen" ist zwar die richtige Sprachebene, aber mir ist das zu harmlos für dieses Vor-sich-Duseln im Krankenzimmer. Weißt du was Besseres? Habe nirgendwo was anderes gefunden, was genau passte.

Liebe Grüße
Hanna
 



 
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