Die stillen Seufzer

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Raniero

Textablader
Die stillen Seufzer

Venezia, du herrliche Lagunenstadt am Rande der nördlichen Adria, wenn es dich nicht gäbe, man müsste dich erfinden...
So oder ähnlich erklingen sie, die Jubelrufe über diese einmalige auf Stelzen errichtete Stadt, autofrei, von Wasser durchflutet, und, schenkt man den düsteren Prognosen Glauben, in absehbarer Zeit zum Sterben verurteilt, wenn nicht ein Wunder geschieht...

Mit melancholischen Augen blickte der Rolf Rogenberg, der deutsche Tourist, auf die weltberühmte, unzählige Male fotografierte Seufzerbrücke, die Ponte dei Sospiri, und nicht einer, sondern gleich mehrere Seufzer entrangen seiner gequälten Brust.
Seit ein paar Tagen schon hielt er sich in Venedig auf, mit seiner Familie, Frau und vier Töchtern im Alter von dreizehn bis neunzehn Jahren, seinen fünf Grazien, wie er sie nannte, und wenn er an die Spesen und Ausgaben in dieser kurzen Zeit dachte, wurde ihm fast schlecht.
Soeben waren sie von einem Schiffsausflug in die Lagune nach Burano, der weit vorgelagerten Insel mit seinem malerischen Örtchen gleichen Namens zurückgekehrt, und kaum an Land, hatten Frau und Töchter das Weite gesucht, um sich erneut auf die unzähligen Mode- und sonstigen Geschäfte in den engen Gassen zwischen Piazza San Marco und Rialtobrücke zu stürzen, und ihn einfach an der Anlegestelle San Zacaria am Riva Degli Schiavoni, am Ufer der Sklaven, allein gelassen.
Rolf fühlte sich auch irgendwie als Sklave, als Sklave seiner eigenen Familie, den man im Augenblick nicht benötigte, für den Kaufrausch; es reichte, dass er seiner Frau das Scheckbuch überlassen und seine Töchter ordentlich mit Bargeld versorgt hatte, bei den einzelnen Käufen wäre er jedoch nur das fünftes Rad am Wagen gewesen.
„Wir treffen uns in später im Florian, in drei Stunden“, hatte seine Frau ihm noch zugerufen, als sie sich auf den Weg machte, „halt uns einen schönen Platz frei!“
Als wenn das so einfach wäre, dachte Rolf mit einem Anflug von Verzweiflung.
Nicht, dass es im Cafe Florian keine freien Plätze mehr gegeben hätte, im Gegenteil, auch um diese Uhrzeit und mit dieser Personenzahl, brauchte er das nicht zu befürchten, doch als er nur daran dachte - er sah sie schon vor sich, mit ihren fünf überdimensionalen Eisbechern und/oder Tortenstücken - was ein solcher Besuch mit seinen fünf Damen in diesem berühmten Lokal kosten würde, sträubten sich ihm die Haare vor Grausen.
Als ihm darüber hinaus die zu erwartenden Spesen seiner Grazien bei ihren ‚Raubzügen‘ durch Venedigs überteuerte Läden und das immer dünner werdende Scheckbuch in den Händen seiner besseren Hälfte in den Sinn kamen, wurde ihm dieser derartig getrübt, dass er eine konkrete Vorstellung davon bekam, wie sich wohl einst Casanova auf dem Weg über die Ponte dei Sospiri gefühlt haben musste, wenn auch aus anderen Gründen.
‚Hätte ich doch nicht so viele Töchter‘, entfuhr ihm ein weiterer Seufzer, wobei er sich unbewusst an die Brusttasche fasste, in der normalerweise das Scheckbuch steckte, ‚eine hätte auch gereicht, und statt der anderen drei Mädchen vernünftige Söhne, die keine Gedanken an Mode, Kleidung, und solche unnützen Dinge verschwendeten, das Leben wäre doch leichter zu ertragen, vor allem, in einer Stadt wie Venedig.
Mit denen säße ich jetzt in einem gepflegten kleinen Lokal, hier an der Mole, wir würden den Herrgott einen lieben Mann nennen und uns bei einem Glas Wein der Betrachtung der schönen Dinge des Lebens hingeben, ohne eine exorbitant hohe Rechnung vom Kellner befürchten zu müssen‘.
Doch er hatte nun einmal seine vier Töchter und keinen einzigen Sohn; auf der anderen Seite stellte er sich die Frage nach einem Tausch nur rein rhetorisch, denn insgeheim liebte er natürlich, wie viele Väter, diese Töchter fast abgöttisch, und er hätte nicht eine einzige von ihnen gegen männlichen Nachwuchs hergeben mögen.
Wehmütig warf er einen letzten Blick auf die Seufzerbrücke, als plötzlich eine Hand aus einen Fenster der Brücke wahrnahm, die ihm zuwinkte.
Ungläubig starrte er auf diese Hand. War das möglich, dass er gemeint war, oder handelte es sich um eine Sinnestäuschung? Was sollte das bedeuten? Ein Omen gar, eines von der negativen Sorte?
Nachdenklich wandte Rolf sich ab und schlenderte langsam die Mole entlang.


Als Rolf Rogenberg etwas vor dem vereinbarten Zeitpunkt auf der Piazza San Marco eintraf und auf das Cafe Florian zusteuerte, nahm er zu seinem Erstaunen von weitem wahr, dass seine Familie bereits vor ihm eingetroffen und einen Tisch im Cafe besetzt hatte.
„Donnerwetter“, entfuhr es ihm, „wie kann das nur möglich sein? Gab es in den Geschäften nichts Passendes, für meine Lieben? Das wäre ja einmal eine gute Nachricht“.
Wie zur Bestätigung fasste er sich erneut an die Stelle, wo ansonsten das Scheckbuch saß.
Als er jedoch näher kam, traf ihn fast der Schlag.
Mit namenlosem Entsetzen stellte er fest, dass seine Familie nicht, wie es von weitem aussah und auch durchaus üblich war, an einem Tisch saß, sondern derer gleich fünf einzelne zusammengestellt hatte.
Auf diesem Ensemble von Tischen türmten sich diverse Pakete und Päckchen, schön bunt anzusehen, aus allen möglichen Geschäften von Venedigs Innenstadt.
Findigerweise hatten die einkaufswütigen Damen es fertiggebracht, ihre Einkäufe so zu stapeln, dass noch ein Eckchen frei war, auf jedem Tisch, für die dazugehörige Eisbombe und das unentbehrliche Tortenstück, bei seiner besseren Hälfte darüber hinaus reichte es sogar noch für einen Sektkübel.
Rolf fühlte sich einer Ohnmacht nah; am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und den Rückzug angetreten, in Richtung Seufzerbrücke, um diese zu überqueren und dahin zu gelangen, wo einst Casanova gelandet war.
Er fand, das sei allemal besser für ihn, als der kommenden Spesensumme seiner Damen ins Auge blicken zu müssen, und hatte ihm nicht vorhin auch diese unbekannte Hand gedeutet, genau dieses zu tun?.
Doch es war zu spät, sie hatten ihn schon erspäht.
„Papa, Papa, schau mal, was ich hier habe“, schallte es unisono aus vier Mädchenkehlen über den halben Markusplatz.
Der Vater verspürte absolut keine Lust, all das zu begutachten, was seine Töchter ihm zeigen wollten.
„Rolf, Liebster“, flötete seine bessere Hälfte, „deine Frau hat sich was gegönnt, zur Feier des Tages und in diesem Ambiente, „was sagst du dazu?“
Rolf sagte gar nichts dazu, er konnte auch nichts sagen, er war mehr als sprachlos.
Mit zitternden Knien nahm er Platz, am fünften Tisch, dem Tisch seiner Frau; eine winzige Fläche war darauf noch frei, für ein winziges Mineralwasser, obgleich er lieber einen absolut nicht winzigen Grappa vorgezogen hätte.
Sofort steuerte einer der zahlreichen befrackten Kellner auf ihn zu.
Mit kraftloser Stimme bestellte er ein ‚ganz kleines aqua minerale, aqua minerale picolissima!‘
Der Ober blickte ihn verständnislos an.
„Sonst nichts?“ fragte er in fast akzentfreiem deutsch zurück.
Rolf wäre am liebsten unter einen der Tische gesunken, oder am besten unter alle fünf, vor Scham.
„Vielleicht wollen Sie sich noch mit Ihrer Frau Gemahlin beraten“, sagte der Kellner, zwinkerte ihm ein Auge zu und machte auf dem Absatz kehrt.
„Rolf, mein lieber Schatz, heute ist ein Glückstag für uns“, strahlte seine Frau.
Dieses Gefühl wollte sich bei Rolf jedoch nicht einstellen.
„Weißt du, dass heute ein ganz besonderer Tag ist, Schatz?“ schwärmte seine bessere Hälfte weiter.
Er wusste es nicht und wollte es auch nicht unbedingt wissen.
„Genau heute, mein Lieber, vor fünfundzwanzig Jahren haben wir uns kennen gelernt, ist das nicht toll?“
‚Auch das noch‘, dachte Rolf verzweifelt und fand es gar nicht toll, ‚deshalb die vielen Päckchen, das Eis und der Sekt‘.
Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
„Da staunst du, nicht wahr?“ fuhr sein Weib unbekümmert fort, während die Töchter damit beschäftigt waren, ihre Päckchen zu öffnen und die zahlreichen Kleidungsstücke ans Licht zu befördern, für eine ungewöhnliche Aktion; eine Modenschau auf dem Sankt Marcus Platz.
„Glaubst du an die Sterne, Schatz?“ wollte seine Frau inzwischen wissen.
Rolf antwortete nicht; er glaubte mittlerweile an gar nichts mehr, und im Moment gab es nichts auf dieser Welt, was ihn aufrichten konnte, nicht einmal die Sterne, die fernen.
„Ich habe in meinem Horoskop gelesen, dass heute mein Glückstag sei. Na, ja, dachte ich, in gewissem Sinn ist das ja auch der Fall, weil ich dich genau heute vor zwanzig Jahren kennen gelernt haben, allerdings, all die Jahre mit dir waren nicht immer eitel Sonnenschein“.
„Mit dir auch nicht“, vermochte Rolf trotz seines mutlosen Zustandes noch hervorzubringen.
Seine Frau ging nicht darauf ein.
„Aber da habe ich noch nicht gewusst, dass heute tatsächlich ein Glückstag sein wird, für uns beide“.
„Für uns beide?“ knurrte ihr Mann, „das kann ich nicht gerade behaupten“.
Die Frau ließ sich nicht beirren.
„Doch Rolf, glaube mir. Als wir vorhin von dem Ausflug zurück kamen, haben wir uns am Markus Platz getrennt, die Kinder und ich; sie wollten einmal ohne Mama bummeln gehen. Daraufhin habe ich entschlossen, allein, du warst ja nicht da, den Dogenpalast zu besuchen einschließlich der Seufzerbrücke, und was soll ich dir sagen, gerade, als ich die Seufzerbrücke passierte und aus dem Fenster schaute, da sah ich dich von weitem. Ich habe dir noch zu gewunken, da ist es auch schon passiert“.
„Passiert? Was ist passiert?“ fragte Rolf alarmiert.
„In demselben Moment ging eine Sirene an, so laut, dass man sie im ganzen Gebäude hören konnte. Ich habe mich vielleicht erschrocken!“
„Was für eine Sirene?“
„Das habe ich mich auch gefragt, aber da stürzten sie schon auf mich zu“.
„Was? Wie bitte? Wer stürzte auf dich zu? Und warum? Wollten sie dich ins Gefängnis werfen, zu Casanova?“
Trotz aller Verdrießlichkeit hatte Rolf noch nicht ganz den Humor verloren, oder was er dafür hielt.
„Hör zu, du Blödmann“, konterte seine Frau, „das ist nicht zum Lachen. Ich habe eine Angst bekommen, vor allem, wie sie dann alle auf mich eingeredet haben, die Männer vom Sicherheitsdienst. Ich verstehe doch kein Italienisch. Gott sei Dank war dann einer dabei, der ein wenig deutsch sprach. Der hat mir dann alles erklärt“.
Roberts Interesse an der Geschichte steigerte sich, aber nicht in erster Linie, weil er sich Sorgen um das, was seiner Frau widerfahren war, machte; er befürchtete etwas anderes.
Er vermutete, dass sie die Seufzerbrücke widerrechtlich, alle Verbotsschilder ignorierend, betreten hatte und die Sirene dadurch ausgelöst worden war. Bestimmt
Hatte sie eine dicke Strafe zahlen müssen. Es war zum Kotzen!
„Machs kurz, wie viel hast du gezahlt?“ fragte er barsch.
„Bezahlt? Wofür bezahlt? Wovon redest du?“
„Man löst nicht umsonst eine Sirene aus, auch nicht oder gerade nicht in Italien“
„Aber Rolf! Ich berichte dir, dass ich fast einen Herzschlag bekommen habe, und du redest von Geld, du fieser Kerl!“ zeigte sie sich beleidigt.
„Entschuldige!“ ruderte Rolf zerknirscht zurück.
„Ich erzähle dir jetzt gar nichts mehr“.
„Entschuldige bitte, Schatz, erzähl bitte weiter“.
„Na, gut, eigentlich hast du es ja gar nicht verdient. Also, der freundliche Italiener erklärte mir, dass man vor einiger Zeit ein elektronisches Zählwerk eingebaut habe, das jeden Besucher der Seufzerbrücke erfasst. Und die Sirene heute, die hat geläutet für den einmillionsten Besucher. Rolf, ich war dieser einmillionste Besucher, stell dir das mal vor!“
Die Augen ihres Mannes begannen zu leuchten.
„Und was bedeutet das, Schatz?“
„Der gesamte Aufenthalt in Venedig umsonst, für die ganze Familie, und ein paar Präsente obendrein. Das hat mir der Bürgermeister bestätigt“.

Zuerst fiel Rolfs Blick fiel auf die turmhoch gestapelten Pakete und Päckchen mit den paar Präsenten, dann fiel er selbst, von seinem Stuhl.
Ein solches Wechselbad an Gefühlen war ja nicht auszuhalten.
Sofort griffen die Töchter zu ihren Handys, um Hilfe herbeizurufen, den Pronto Soccorso.
Während er auf einer der fünf Tragen lag, die fünf eilige Sanitäter herangeschafft hatten, flüsterte ihm seine Jüngste ins Ohr:
„Keine Sorge, Papa, das Krankenhaus ist auch umsonst“.

Als man ihn forttransportierte, vernahm er schwach, wie die Musikkapelle des Florian zu seinem Lieblingslied ansetzte; ‚Money, Money‘ von den ABBAS.
 

Gorgonski

Mitglied
Schöne

Schöne Geschichte, die man vielleicht einen Tick kürzer hätte abhalten können.
Man fühlt mit Rolf mit und ist am Ende erleichtert, daß sein Scheckbuch nicht belastet wird.

Faselfehler: Wehmütig warf er einen letzten Blick auf die Seufzerbrücke, als (er) plötzlich eine Hand aus einen Fenster der Brücke wahrnahm

Grüsse, Rocco
 

Raniero

Textablader
Hallo Rocco,

vielen Dank für die Anregungen.
Du hast Recht, ein wenig kürzer könnte die Story schon sein.
Ich werde daran arbeiten.

Gruß Raniero
 

petrasmiles

Mitglied
Mhm

Vielleicht ist dieser Humor eine Männersache?
Ich meine, so wirklich einer, von der Frauen nichts verstehen?
Ich finde den Text langweilig, weil nur auf dem einen Thema von stereotypen Charakteren herumgeritten wird.
Wenn er es sich nicht leisten kann, dann soll er zu Hause bleiben - könnte man lapidar sagen. Aber es scheint so, dass zumindest ein Mann sich mit der leidenden Figur identifizieren konnte, also muss etwas 'dran sein, was ich nur nicht verstehe.
Ich kenne keine Frau, die Mann glücklich machen kann, indem Mann ihr sein Scheckbuch gibt, und erst Recht keine, die mutwillig das Familienvermögen verprasst als gäbe es kein Morgen. Und darum kann ich es auch nicht komisch finden.
Es muss an mir liegen.
Flüssig geschrieben ist der Text, wenn auch manche Formulierungen etwas steif sind und manche 'Exkurse' verzichtbar.

Liebe Grüße
Petra
 

Raniero

Textablader
Hallo Petra,
hallo flammarion.

Flammarion, Du sprichst mir aus der Seele!
Natürlich bediene ich mit dieser Strory ein Klischee, aber welche Satire tut das nicht in irgendeiner Weise.
In der Tat gibt es solche Männer wie Rolf Rogenburg heute eher selten, da frau ihnen (inzwischen)die Scheckbücher weggenommen hat.:)

Petra,
man sollte alles nicht zu ernst nehmen, sonst könnten wir ja gleich das Buch von Eva Herrmann zur Hand nehmen.


Gruß Raniero
 



 
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