Die undichte Stelle

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Charly

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Eigentlich war der Werner ein feiner Kerl. Erledigte seine Schlosserarbeiten ordentlich, war zu allen nett und freundlich, konnte geduldig zuhören. Zumindest so lange er den Überblick über seine Arbeiten behielt und nicht kurzfristig etwas anderes machen musste. Was er nicht so besonders mochte, das waren Blechnerarbeiten.
Manfred war Reparaturschlosser, wesentlich jünger als Werner und gut drauf. Meistens jedenfalls.
Auf dem Weg in die Frühstückspause nahm Manfred Gasgeruch in der Nähe von Werners Arbeitsplatz wahr.

Nicht weit von der Werkstatt entfernt stand ein Auszubildender. Er entgratete Kleinteile an einer Werkbank vor einem Fenster. Was Manfred nicht wissen konnte: unter der Aufsicht von Werner. Mit der linken Hand hielt der Lehrbub das Werkstück fest, mit der rechten Hand führte er einen elektrischen Handschleifer über die Kanten. Manfred hätte etwas sagen können, zumal sich der Schraubstock direkt daneben langweilte, tat es aber nicht.

Manfred, Werner und wer sonst noch Lust dazu hatte, saßen in den Pausen oft zusammen. Es gab immer etwas, über das man reden konnte. In der Regel schimpfte Werner über die Bild-Zeitung und deren Artikel, vergaß sich aber nicht jeden Morgen eine zu besorgen.
So auch an diesem Tag. Er sagte: \"Da kann der Mensch tagelang tot sein und keiner merkt das; der Briefkasten quillt über und keiner kümmert sich darum.\"
Manfred sah ihn fragend an. Werner zeigte auf die Zeitung: „In einem Mietshaus ist einer gestorben. Keinem der Nachbarn will etwas aufgefallen sein, und das über Wochen!“
Manfred verstand Werners Empörung nicht ganz: „Wieso sollte ihnen etwas aufgefallen sein?“
Der fuchtelte mit der Zeitung herum: „In so einer Mietskaserne läuft man sich doch zwangsweise über den Weg. Außerdem hört man aus der Wohnung Geräusche: Wasser, Radio, Fernseher … es muss doch mit der Zeit auch gestunken haben!“
Manfred sah das alles nicht so eng: „Wenn nichts zu hören war, dann haben sich die Nachbarn über die Stille gefreut. Vielleicht waren sie auch erleichtert – endlich gibt der Alte Ruhe.“
Werner schüttelte den Kopf: „Red doch kein solch verdrehtes Zeug. Sie hätten ja wenigstens mal klingeln können.“
„Schön, sie klingeln und niemand macht auf. Und dann?“
„Den Hausmeister alarmieren, die haben Schlüssel für alle Wohnungen, nachsehen was da los ist.“
Ein Kollege gab zu bedenken: „Und wenn er in Urlaub ist oder bei Verwandten? Und vergessen hat vorher den Mülleimer zu leeren? Warum sollten die Nachbarn in seinen Privatbereich eindringen, wenn sie sonst in keiner Beziehung zu ihm stehen?“
\"So seht ihr aus, so kenne ich euch: Da werden Kinder geschlagen und Hunde gequält\" sagte Werner, \"und keiner fühlt sich verantwortlich.\"
Manfred schöpfte aus der schier unendlichen Erfahrung seines noch nicht allzu langen Lebens: „Wer sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt erntet Undank. Was gehen den Einen die Sachen der Anderen an? - Was erlaubt er sich da einzumischen, wo er nicht darum gebeten wurde?“
Werner war außer sich: „Wenn jeder so denken würde! Schließlich haben alle eine gewisse Verantwortung füreinander …“
„Also gut, “ versuchte es Manfred noch einmal, „du siehst einen Mann, der gewaltsam eine Frau in ein Auto zerrt. Du gehst hin und fragst was los ist. Vielleicht hast du Glück und bekommst keine in die Fresse. Die Frau schlägt wild um sich und der Mann sagt, alles in Ordnung Leute, seine ihm Angetraute hat wieder einmal ihre demoralisierenden Anwandlungen und er will sie nur heimbringen. Was meinst du wohl wem du mehr glauben kannst, den Augen oder den Ohren?“
Werner überlegte nicht lange: „Meiner Erfahrung. Ich würde mir die Autonummer merken und die Polizei anrufen.“
Manfred sagte: „Solltest du Recht haben, kann die Frau tot sein, bevor jemand den Hörer abgehoben hat ...“
Die Pausenglocke beendete ihr Gespräch. Sie gingen an ihre Arbeit.

Manfred roch wieder Gas, als er an Werners Arbeitsplatz vorbeikam. Das konnte von den Schweißern, die hier auch arbeiteten, genauso kommen, als auch von einem der zahlreichen Gasheizern. Manfred wollte sich gleich darum kümmern.
Das Pausengespräch hatte seine Wirkung nicht ganz verfehlt.
Der Azubi stand immer noch da und hatte viel zu tun, als Manfred wieder einmal in die Werkstatt ging.
Es war ja nicht so, dass man total abstumpfte, in unserer egoistischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil, je mehr das Volk auf die Füße getreten bekam und in die Enge getrieben wurde, desto mehr raffte es sich zusammen. Wer keine Probleme hatte, brauchte keine zu lösen; wer keine Feinde hatte, brauchte nicht zu kämpfen, so einfach war das.
Diesmal blieb Manfred stehen. Er sagte: „Hör mal, Kollege, warum spannst du die Dinger nicht in den Schraubstock? Das, was du da machst, das ist viel zu gefährlich.“
Der Lehrbub erwiderte: „So geht das aber viel schneller.“
„Wer sagt das?“
„Werner.“
„Glaub mir, mit beiden Händen lässt es sich viel besser schaffen. Ein kleiner Ausrutscher, schon hast du keine Kontrolle mehr über die Maschine und unter Umständen einen Finger weniger.“
Manfred ging in die Werkstatt.
Werner hatte dem Gespräch aus sicherer Entfernung zugesehen. Hören konnte er durch den allgemeinen Betriebslärm nichts.
Er ging zu dem Jungen, fragte was Manfred von ihm gewollt hätte und bekam seine Antwort.
Wutentbrannt stürmte Werner in die Werkstatt und schrie los: „Was fällt dir eigentlich ein meine Anweisungen in Frage zu stellen?“
Manfred schaute zu ihm auf: „Wovon redest du?“
Werner bekam einen roten Kopf: „Willst du behaupten, so wie ich all die Jahre geschafft habe, das wäre falsch?“ Werner war gut drauf: „Und? Ist mir in all der Zeit was passiert, du Schlaumeier? Nichts ist passiert, weil ich weiß wie man arbeitet!“
Manfred sagte: „Du hast halt jahrelang viel Glück gehabt. Aber sag, woran soll ich mich jetzt halten, an das was ich sehe oder an das was ich höre? Oder vielleicht an meine Erfahrung?“
„Und Überhaupt, “ brüllte Werner, als hätte er in ein Wespennest gegriffen, „es ist meine Verantwortung und so lange der Azubi bei mir schafft, so lange verantworte ich wie die Arbeit gemacht wird. Dich geht das überhaupt nichts an!“
Manfred versuchte ruhig zu bleiben: „Siehst du, Werner, darum kümmert sich keiner um den anderen!\"
Entweder wollte Werner nicht darauf eingehen, oder aber er verstand nicht worum es ging. Mit erhobenem Zeigefinger ging er auf Manfred zu: „ Schaff du erst einmal so viel wie ich und bring die Leistung, dann kannst du das Maul aufmachen, aber nicht vorher, verstehst du? Nicht vorher!“
\"Ehrlich gesagt, ich habe mir bisher nicht allzu viel Gedanken gemacht über Einmischerei und so. Aber wenn du mich so fragst: Es ist mir scheißegal wie der Junge arbeitet und auch warum er so arbeitet. Andererseits wiederum, erinnere dich an unser Gespräch in der Werkstatt. - Hier hast du deine Antwort: Darum kümmert sich keiner um den anderen. Siehst du wie viel Ärger ich mir eingehandelt habe, nur weil ich etwas gesagt habe? Warum sollte ich nächstes Mal noch etwas sagen, Werner, das geht mich doch nichts an - oder?“
Manfred ließ den tobenden Werner einfach stehen.

Als er später mit seiner Arbeit fertig und auf Feierabendkurs war, sah er Werner mit einem Handschleifer Bleche bearbeiten. Über die Mittagspause ist er ihm, anders als sonst, aus dem Weg gegangen. Die Funken stoben in die Halle. Manfred überlegte einen Moment, ob er wegen dem Gasgeruch was sagen sollte, sah aber Werners feindseligen Blick und ließ es.
Auf halbem Weg kehrte er um. Er konnte es nicht so auf sich beruhen lassen, das war einfach zu gefährlich.
„Hör mal Werner, ich habe vorhin hier in der Halle Gas gerochen, vielleicht solltest du doch nicht …“
Werner rastete aus: „Willst du mich verarschen? Denkst du ich weiß nicht mehr was ich tue?“
„Fängt langsam an Spaß zu machen, dieses sich Einmischen, Werner, hol erst einmal tief Luft und ich hole in der Zeit das Leckspray. Wenn ich nichts finde ist es ja gut.“
„Du kannst die Leute einfach nicht in Ruhe lassen!“
„Sich einmischen heißt – wie du in der Pause schon ganz richtig erkannt hast - Unrecht erkennen, das heißt aber auch Fehler zu benennen …“
„Jetzt reicht es aber! Wir gehen zum Alten!“
„Nachher, jetzt muss ich erst einmal die lecke Stelle finden.“
Werner fluchte vor sich hin und ließ die Funken tanzen. Als ob er beweisen wollte, da passiert nichts. Kann gar nichts passieren. All die Jahre ist nichts passiert. Jetzt auch nicht.
Manfred hatte den Türgriff zur Werkstatt noch nicht in der Hand, als ein lauter Knall die Umgebung erbeben ließ. Sofort lief er zurück in die Mittelhalle.
Kreidebleich stand Werner da, umzingelt von Arbeitskollegen, den Mund weit offen; in den Händen hielt er immer noch den Schleifer. Eine Blechkiste, unter der ein Schweißer eine angeschlossene Wärmspitze liegen hatte, stand nicht mehr dort wo sie einmal war. Auch nicht in der näheren Umgebung.
In dem Hohlraum des umgedrehten Blechkastens hatte sich Gas angesammelt und durch die Funken entzündet. Der Druck der Explosion hat sie über Werner hinweg in den Gang geschleudert.
Manfred konnte es sich nicht verkneifen: „Oh, Werner, du hast die undichte Stelle gefunden ...“
 



 
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