Die vier verrückten Hühner

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Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


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Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei und umgekehrt das Ei oder das Huhn war. Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, dieses Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Und alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher) sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und schmerzhaft wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich qualvoll die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte , sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie solllten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung,und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zuverschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihre Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Schweigen verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich bald eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tierolymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.

„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Herr Vorstandsvorsitzender zu ihm sagen.“
Der Mann wollte nun nicht mehr weiter suchen und verließ, ohne einen Papagei gekauft zu haben, enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.

Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.

Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.

Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.

Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“

Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben.Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei und umgekehrt das Ei oder das Huhn war. Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, dieses Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Und alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher) sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und schmerzhaft wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich qualvoll die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte , sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie solllten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihre Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich bald eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tierolymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.

„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Herr Vorstandsvorsitzender zu ihm sagen.“
Der Mann wollte nun nicht mehr weiter suchen und verließ, ohne einen Papagei gekauft zu haben, enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.

Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.

Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.

Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.

Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“

Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben.Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war? Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher) sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und schmerzhaft wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich qualvoll die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte , sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie solllten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihre Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich bald eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tierolymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.

„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Herr Vorstandsvorsitzender zu ihm sagen.“
Der Mann wollte nun nicht mehr weiter suchen und verließ, ohne einen Papagei gekauft zu haben, enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.

Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.

Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.

Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.

Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“

Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben.Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und schmerzhaft wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich qualvoll die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte , sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tierolymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Der Mann wollte nun nicht mehr weiter suchen und verließ, ohne einen Papagei gekauft zu haben, enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Der Mann wollte nun nicht mehr weiter suchen und verließ, ohne einen Papagei gekauft zu haben, enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung. Außerdem: Haben wir Hennen jemals Pläne geschmiedet ? Nein! Somit werden
wir dies auch weiterhin nicht tun.“
Aufgebracht, als habe man sie brutal aus permanenten Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit.
Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


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Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."
Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, dabei ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legten, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft wurde schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."
Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverholen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."
Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



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Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


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Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Platz. Dabei fiel Klementina, Jasmina und Freilanda sofort auf, dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverholene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall(auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhohlene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhohlene Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


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Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb begänne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl eher angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbsverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb beginne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 

Artist

Mitglied
Die vier verrückten Hühner

In dieser Gegend ist das Leben kurz,
die Tage aber ewig.

Georgi Gospodinov


Heute unser Angebot: Zehn Eier im Karton 1€!


Es war einmal zu einer Zeit, und eine genauso schöne Zeit wie die heutige war's, da rätselten die Menschen, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. Oder war zuerst das Ei und dann das Huhn? Doch zu keiner Zeit gelang es ihnen, das Geheimnis aus seinem Dunkel herauszuholen, so entschieden sie: Zuerst war der Preis. Und der Preis gebar, assistiert von Menschen in weißen Laborkitteln, das Turbo-Hybridhuhn. Dem Turbo-Hybridhuhn (missgeborener Schmerzensvogel) hatten die Laborkittel das Sättigungszentrum im Hirn gekappt. Es fraß und fraß, Tag und Nacht. Sein Körper wurde bald so schwer, dass ihm ständig die Beine wegknickten. Es wurde niemals satt und legte schnell viele, viele Eier.

"Ich bin zornig und ungeduldig, mein Körper ist müde und schmerzt", klagte Freilanda ganz leise in sich hinein. "Ich will endlich aus all dem raus“, rief sie dann aber so laut, dass die Hühner in ihrer Nähe entsetzt auseinanderstieben. Erna und Klementina, ihre Freundinnen, eilten sofort hinzu. "Hab’ Geduld“, beruhigten sie Freilanda, „es wird bald geschehen, davon sind wir überzeugt."

Freilanda und ihre Freundinnen waren Hennen. An einem wütenden Tag hatten sie ihr Unmöglichstes getan, hatten das Eigene herbeigerufen - sich gegenseitig getauft, ihre Namen zum melodischen Gleichklang vereint.
Die drei lebten eingezwängt in der alles gleichmachen Enge eines mit vielen tausend Hennen vollgestopften Hühnerstalls, auf dessen Dach nachts ein Logo in sanftem Grün verkündete: HÜHNERHOF HENNENGLÜCK. Darunter die Hennen, in tiefer Bedrückung, gelenkt von den Direktiven profitstrebiger Kalkulation. Den Stall durften sie nie verlassen. Für sie gab es kein Draussen. Sie alle lebten dort ohne ihre Brüder. Weil Hähne nie Eier legen, hatten die Menschen nicht gezögert, sie aus der Schar der Lebenden zu entfernen. Sie waren aussortiert, geschräddert oder vergast und auf den Müll geworfen worden. Den Lebenslauf der Hennen strich dann der Stallbesitzer auf eine kurze, schnell verhechelnde Episode zusammen. Gefangen in der Tretmühle scheppernder Rastlosigkeit, wurde ihr Leben vom unerbittlichen Zwang bestimmt, täglich Eier zu legen. Saumseligkeiten wurden nicht geduldet. Produzieren, produzieren lautete die Devise.
Am Tag scheint draußen die Sonne und sie geht abends unter, damit es Nacht werden kann. Im Innern des Stalls sollte es nie dunkel werden. Hier drehte sich die Erde in einem anderen Takt. Die Nächte und die Zeit verschwanden hinter einer Wand aus Helligkeit. Bedrängt vom alles und jedes optimierenden Zwang zur Effektivität, setzte der Stallbesitzer die Hennen dauernd scheinendem künstlichen Licht aus, simmulierte nie vergehende Tage. Erbarmungslos nutzte er den Drang der Hennen, bei Licht Nahrung aufzunehmen und entlockte ihnen bis zu ihrem baldigen Ausgeschöpftsein so viele Eier, wie seine Auftraggeber, die eierverarbeitende Industrie, die Discounter und Supermärkte, von ihm verlangten.
Die offerierten dann der Welt ohne Unterlass ihre mit Tierleid bestückten Warenkörbe. Und sie taten alles, damit die Verbraucher (dieser zynische, allesfressende Klang : Verbraucher)sich unbedachten Essgewohnheiten hingaben, zu weltvergessenen Einkaufsmelancholikern wurden, die im Überbedarf versanken. Dergestalt verwandelt sich täglich in den Verkaufsräumen jenes ferne neutestamentarisch-barmherzige Jesuswunder von der Speisung der Fünftausend in das abgründige Geschehen marktkonformer Massenabspeisung der Millionen.
Erna, Klementina und Freilanda waren vom Zufall zusammengeführt worden. Schon im eihaften Zustand waren sie ganz nah beieinander und verständigten sich nach kurzer Zeit durch freundliche Klopfzeichen. Sie waren zwar von unterschiedlichem Charakter, empfanden aber dennoch eine innige Freundschaft für einander. Es herrschte ein Einvernehmen zwischen ihnen, als gehorchten sie jenem physikalischen Gesetz, das besagt: Gegensätzliche Pole ziehen sich an.
Doch das alles umschließende Band ihrer Gemeinschaft war schon bald der Überdruss am täglichen Geschehen im Hühnerstall und das bittere Wissen darum, dass der Stallbesitzer sie und die anderen Hennen zu einem Leben voller Schmerz und Angst bestimmt hatte, in dessen Hintergrund der frühe Tod durch Erschöpfung oder durch baldiges Schlachten lauerte.
Auch sahen sie, dass mitten in der Enge, elende Leere und Abwesenheit herrschte. Keine der Hennen hatte Küken im Gefolge, oder schützend unter ihren Fittichen verborgen. Die Schöpfergötter in den weißen Laborkitteln hatten die Hennen zu genetisch enterbten Halbhühnern umgeformt, sie hatten ihnen die Fähigkeit genommen zu glucken, sich, wie ihre Ahnen aus eigener Kraft zu vermehren. Küken waren Ware, die aus den Werkhallen der Zuchtfabriken in die Ställe der Eiereinsammler ausgestoßen wurden. Küken, argwöhnten Erna, Freilanda und Klementina, waren auf verborgene Weise hervorgebrachte Kunstprodukte, bei denen die Laborkittel die Jahrtausende alten Kreisläufe eigenständiger Vermehrung der Hühner gebremst hatten. Sie hatten die Hennen unfähig gemacht sich ohne den Willen des Menschen fortzupflanzen. Den Laborkitteln war damit gelungen, wozu die Manager der Zuchtwerkstätten sie beauftragt hatten: Die Konstruktion einer jederzeit ein-und abschaltbaren biologischen Geldvermehrungsmaschine.
Dies alles erschien den dreien unheilvoll und weit weg vom Leben – so tot wie in einer Fischkonserve, demütigend und qualvoll wie ein endloser Spießrutenlauf. Und durch ihren Geist schabte sich schmerzhaft die niederdrückende Erkenntnis, dass man sie nicht als empfindsame Lebewesen, als Natur, die sich selbst genügt achtete. Ihnen war bewusst, dass man sie dazu bestimmt hatte, sich als eierproduzierende Biostrukturen zur rasanten Marktbefriedigung durchs Leben zu schleppen.
„Wir erleben eine Zeit ohne Güte, eine finstere, eine Mörderzeit“, klagten sie gemeinsam.
Ungehindert krochen die täglich durchlebten Schrecken in sie hinein. Eine tiefe Müdigkeit am Leben legte sich auf ihren Geist. Der Wunsch, sich hinzulegen, zu sterben, im Trost spendenden Jenseits zu wandeln, wurde in ihnen immer lauter. Bald durchmaßen sie in ihren Gedanken nur noch dunkles Terrain. Leidensverdrossen rückten sie näher und näher an den Tod heran.
Aus den Untiefen ihres Nervensystems aber, drang Widerstand zu ihnen empor. Ihre geschundenen Leiber dachten weiter als ihre Köpfe, sie wehrten sich mit allen Fasern gegen die Nähe des Todes, rumorten und riefen die drei immer wieder zitternd ins Leben zurück. Und siehe da: Alsbald löste sich ihre Schwermut, fiel von ihnen ab. Sanft, wie auf Taubenfüßen, drang der ungeheure Gedanke in ihre Köpfe ein, nur noch ihre uralte Bestimmung, die Freiheit der Hühner leben zu wollen. Die Sehnsucht nach einer Existenz jenseits des Stalls sprach jetzt täglich mit ihnen. Und es drängelte der Fluchtinstinkt: Sie sollten sich endlich durch Handeln ihrem entwürdigten Dasein entziehen. Der Wunsch, auszubrechen, schnellstens aus dem Stall herauszukommen, beanspruchte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Voller Hoffnung entschieden sie sich für eine zeitnahe Flucht.
Selbstverständlich galt für die drei, den Stall nicht ohne ihre Stallgefährtinnen zu verlassen. Die Überzeugung, dass jenseits des Stalls nicht nur für sie, sondern auch für ihre Schwestern, ein besseres und längeres Leben möglich wäre, gehörte für sie zum Unverrückbaren. Deshalb entschlossen sie sich eine Hühnerstallgeneralversammlung einzuberufen, um ihre Einsichten auch den anderen Hühnern im Stall mitzuteilen.
Sie spürten ihre Herzen pochen, als sie den anderen von ihrer Erkenntnis erzählten, dass sie alle dem baldigen Untergang ausgesetzt wären, wenn sie nicht gemeinsam täten, was sie alle rettet. Sie sagten ihnen, dass sie alle endlich ungehorsam sein müßten, damit sie, die vielen Niemande, viele Jemande würden. Es ginge nicht alleine darum, dem frühen Tod zu entkommen, sondern auch die ihnen alle gemäße Freiheit zu leben. „Und“, fügten sie, nun von der Lust an der Rede getragen, fragend hinzu: „ist es den Bremer Stadtmusikanten seinerzeit nicht etwa ähnlich ergangen wie uns, bevor sie zu der Einsicht gelangten, dass sie etwas besseres als den Tod allemal fänden? Machten sie sich danach nicht etwa sofort auf den Weg, um endlich das ihnen gemäße Dasein zu suchen und zu finden? Warum sollte uns dies nicht auch gelingen?“
Abweisendes Schweigen und eine Wand aus Unverständnis blockierten den Redefluss der drei. Die tägliche Rastlosigkeit und die immer nahen Bedrohungen hatten den Geist der Hennen verschlossen. Sie konnten oder wollten den Zustand, in dem sie lebten, nicht weiter und erst recht nicht zu Ende denken. Ein solches Denken sei nicht huhngerecht und widerspreche jeglicher Hühnertradition duldender Hínnahme, brach es nach einer Weile dann doch lautstark aus der Hühnerversammlung hervor. Begleitet vom gedankenleeren Kopfnicken der Umherstehenden, bezeichneten einige den Auftritt der drei als Anmaßung, und dass sie die Atmosphäre der gemeinsamen Schmerzverleugnung zerstören würden, in die nicht nur sie, sondern ganze Hybrid-Hennen- Generationen unter vielen Anstrengungen ihr Gemüt gehüllt hatten. Was hätten sie ihnen denn zu bieten, außer den vagen Annahmen von einem anderen Leben, von dem noch nicht einmal feststand, dass es auch ein besseres wäre, als ihr jetziges. Im Übrigen müsste doch auch ihnen bekannt sein, dass jenseits des Stalls nichts mehr existiere, dass draußen nur noch riesige schwarze Löcher seien, in denen jeder, der sich dort hin begebe, unwiederbringlich verschwinde. Folglich nannten sie die Gewissheiten der drei, vom besseren Leben jenseits des Stalls, ein Traumgebilde ohne Bedeutung.
Aufgebracht, als habe man sie aus permanentem Schlafwandeln gerissen, ließ das Hühnerkollektiv Erna, Freilanda und Klementina wissen, dass sie sich von ihrem Reden vor den Kopf gestoßen fühlten. Sie forderten die drei auf, sie künftig mit ihren Mutmaßungen zu verschonen und für immer über das, was außerhalb des Stalls sein könnte, zu schweigen.
Mithin blieb erst einmal alles, wie es immer war. Trotzdem war alles anders. Die Stunden und Tage der drei waren nun nicht mehr wie vordem von Furcht beherrscht, dafür aber mit Skepepsis gegen die Stallgemeinschaft durchsetzt. Doch schien es ihnen erst einmal nicht ratsam, sich endgültig von der Menge abzusondern. Obwohl sie kaum mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Schwestern sahen, wollten sie sich den Weg zur Stallgemeinschaft hin nicht endgültig versperren. Manchmal aber erweckte die tägliche, für sie ach so bittere Routine, in ihnen eine Widerborstigkeit, die sie gegen den korrumpierten Gleichmut der anderen nicht minder aufbegehren ließ, als gegen ihr eigenes bedrückendes und totbringendes Dasein im Stall.
Sie lebten von nun an in ihren Vorstellungen intensiver als je zuvor, ein anderes Leben. Ihr machtvoller Traum von der Freiheit der Hühner verschaffte ihnen eine von Zuversicht geprägte Bedachtsamkeit, die selbst noch den immer wieder aufkommenden Verdruss mit der Stallgmeinschaft von ihrem Inneren fern hielt. Sie schlossen jetzt immer öfter die Augen und füllten gemeinsam ihre Vorstellungen mit den Bildern eines anderen Lebens.



II

Mit den Worten: „Ich möchte mit euch eine Gemeinschaft bilden,“ trat, einige Zeit nach ihrer bitteren Niederlage vor der Hühnerstallgeneralversammlung, Jasmina, ( eine
Selbsttäuferin wie sie, die sich recht gut in ihre Namensmelodie fügte), an die drei heran. Jasmina gehörte mit ihren sieben Monaten zu den ganz Alten im Stall. Sie ließ Erna, Klementina und Freilanda wissen, dass sie kurz davor stünde, vom Stallbesitzer getötet zu werden, weil, ihrem Alter gemäß, sich ihr Körper immer öfter weigere , Eier zu legen. “Das Eierlegen funktioniert bei mir nicht mehr so, wie vom Stallbesitzer gefordert. Mein Körper sehnt sich nach Langsamkeit . Bald wird sich die Zahl der von mir gelegten Eier dramatisch verringern. Da hat sich der Gedanke zu fliehen, vor einiger Zeit in meinem Kopf festgesetzt. Obwohl ich immer wieder versucht habe, meinen Geist in ruhigere Bahnen zu lenken, stichelte dieser Gedanke in mir wie ein spitzer Gegenstand, der durch meine Gehirnwindungen wandert. Doch schon vorher hatte ich viele Male über die Zustände im Stall nachgedacht. Nicht selten erlebte ich danach Tage voller Wut, an denen ich die von mir gelegten Eier zertrümmern wollte, anstatt sie der alles Lebendige missachtenden Maßlosigkeit des Stallbesitzer zu überlassen. Manchmal hätte ich mir aber auch eine beruhigende Anrede oder eine empathievolle Berührung von einem Menschen gewünscht, der mir damit gezeigt hätte, dass ich kein blosser Konverter bin, der für ihn Futter in Eier verwandelt. Und doch, ihr glaubt es kaum, eine Zeitlang hatte ich Mitleid auch mit der Menschenkommune. Weil an vielen Menschen wissentlich ebensolche Grausamkeit begangen wird, wie wir sie täglich zu spüren bekommen. Freilich erkannte ich, dass die Menschen, ähnlich uns Hennen, den Verhältnissen ihren Lauf ließen. Es sind Menschen, die die Menschen am Menschlichsein hindern. Schon recht früh teilte mir mein Überlebensinstinkt mit, dass ich mich seit meiner Geburt, inmitten einer Geisteskrankheit befinde, die Lieblosigkeit, Würdelosigkeit und geschäftsmäßige Rücksichtslosigkeit erzeugt und zugleich von ihnen genährt wird. Die Empörung über diese Zustände hatte bei mir bisher nur in aller Stille stattgefunden. Sie war regelrecht in mich hineingekrochen und hatte bis zum Tag der Hühnerstallgeneralversammlung noch keinen Weg aus meinem Inneren gefunden, obwohl ich mir immer wieder heftig gewünscht habe, dem fatalen Zustand aus Freiheitsentzug, ständiger körperlicher Überforderung und der immerwährenden Bedrohung durch einen vorzeitigen Tod zu entkommen. Euer Auftreten vor der Hühnerstallgeneralversammlung mit der rebellischen Aufforderung, sich endlich auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu besinnen und gemeinsam ein besseres Leben zu suchen, war für mich der entscheidende Anstoss, nun etwas zu unternehmen. Auch wenn die anderen euch anfeinden und es weiterhin vorziehen, die verruchte Realität im Stall zu verklären und sich ihr unterwerfen wollen, wünsche ich mir, gemeinsam mit euch einen Weg zu finden, um dieser Hölle zu entfliehen.“

Erna, Freilanda und Klementina hatten Jasmina während ihrer Ausführungen gespannt zugehört. Ihre Freude darüber, dass nun eine kluge und erfahrene Henne wie Jasmina mit ihnen war, lockte eine für Hühner ungewöhnliche Geste aus ihnen hervor. Obwohl Turbo-Hennen schlechte Umamerinnen sind, stürmten die drei auf Jasmina zu: eine nach der anderen umarmte sie beglückt und hieß sie in ihrer klandestinen Runde herzlich willkommen.

Schon bald darauf schlug Jasmina vor, sich ohne die anderen aus der quälenden Situation zu befreien. Dafür bedürfe es aber eines klar und kühn durchdachten Plans. Auch wenn es schwierig würde, sich einen Weg durch den Stall zu bahnen, solle man sich, so oft wie nötig, hinter dem mit einer Plane abgedeckten Traktor am äußeren Ende des Stalls zur Beratung zurückziehen. Sie hielte diesen heimlichen Ort für ideal. Dort könne sie niemand stören oder gar vorzeitig von ihrem Plan erfahren.

Unter unendlichen Anstrengungen gingen sie nun täglich ihren Weg zum Treffen hinter dem Traktor. Vorbei an dahinsiechenden, im Todeskampf pendelnden oder schon toten Hennen, und immer wieder traktiert von panischen Schnabelhieben, kämpften sie sich zwischen die dicht aneinander gedrängten Hühnermassen hindurch.
Schon nach wenigen Zusammenkünften erschien es ihnen aber als unmöglich, aus eigener Kraft ihr entsetzliches Dasein hinter sich zu lassen. Sie hatten ihr Hirn zeitweilig bis zur Hirntaubheit strapaziert, ohne einen Weg ins Freie zu finden. Der Stall erschien ihnen nun umso mehr als perfektes Gefängnis, als hermetisches Nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen gab, in dem jederzeit Schreckliches mit ihnen geschehen konnte.
Hernach beherrschte sie zwar Niedergeschlagenheit und es geschah eine Zeit lang nichts, doch in ihren Köpfen ging es alsbald noch turbulenter zu als zuvor. Bis Klementina dazu riet, endlich gemeinsam zur Besinnung zu kommen, weil es doch sinnvoller wäre, sich weiterhin hinter dem Traktor zu treffen und zu beraten, als im Alltäglichen mit seiner aufgeregten Resignation zu verkümmern. „Also gut,“ antworteten, nach einigem Hin und Her, Freilanda, Erna und Jasmina, „da wir eh schon fast alles verloren haben, kann eine weitere Zusammenkunft für uns nicht von Schaden sein.“

Bald trafen sich die vier erneut an ihrem heimlichen Ort. Klementina, Jasmina und Freilanda sahen erstaunt , dass über Ernas Gesicht ein ausgelassen grimassierender Schalk tänzelte und dass sie ganz aufgekratzt vor sich hinscharrte. „Ich weiß nun, wie wir hier herauskommen könnten,“ schoss es den dreien entgegen: „Der Stallbesitzer muß uns hier herausbringen!“

Ernas Freundinnen blickten zuerst sich und dann gemeinsam sie verwundert an. „Wie soll das denn geschehen? Der will doch an den Eiern, die er uns täglich stiehlt, verdienen.“

„Aber das ist diesmal unser Glück, die süchtige Abhängigkeit der Menschen vom Geld,“ erwiderte Erna unbeirrt.
„Wir müssen das überall unter den Menschen verbreitete heftige Verlangen nach Geld für uns zum Vorteil ummünzen.“ Mit wissender Bestimmtheit fügte sie hinzu: „Dann können wir endlich diesen Unglücksstall hinter uns lassen. Wie dies geschehen kann, weiß ich auch schon. Es wird zwar eine Weile dauern und es wird harte Arbeit für uns bedeuten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ausführung meines Plans der einzig richtige Weg ist, um uns aus unserer tödlichen Gefangenschaft zu befreien.“

Solche, von Begeisterung bestimmten Töne, kannten Klementina, Jasmina und Freilanda von der eher bedächtigen, zuweilen recht lapidaren, ja, geradezu ins Stummsein verliebten Erna, bisher gar nicht. Neugierig forderten sie ihre Freundin auf, ihren Plan offenzulegen.

"Also,wir sollten uns der Welt des schrecklich Automatisierten und Immergleichen, in der alle Hennen hier im Stall (auch wir) leben, dadurch entziehen, indem wir uns durch etwas Einmaliges von den anderen Hühnern unterscheiden. Dabei habe ich an einige Kunststücke gedacht, die wir uns beibringen und als Gruppenartistik, wie etwa Formations- und Synchronfliegen, vorführen könnten. Denn die Menschen lieben die Sensation. Dem Raren und Einmaligen, das sie in ihren täglichen Routinen nicht bedrängt, verleihen sie den Status des Verehrungswürdigen, solange es sie nicht langweilt. Und trennen würde man uns dann wohl auch nicht, weil unsere Vorführungen nur im Quartett ihren Reiz entfalten würden.“
Ernas Freundinnen wurden unruhig, traten von einem Fuß auf den anderen. „Warum sollte uns der Stallbesitzer aufgrund dieser Kunststücke aus dem Stall herauslassen?“ wollten sie
von ihr wissen. „Wir können doch, wie alle Hühner, nur wenige Meter fliegen. Außerdem hat er uns die Flügel stutzen lassen, uns dadurch beinah komplett flugunfähig gemacht.“
„Das mit dem Fliegen ließe sich schnell lösen. Ausnahmsweise könnten wir dann auch einmal für uns eine Erfindung des Menschen nutzen: Denkt einfach nur daran, wie sich Dädalos und sein Sohn Ikarus aus dem Labyrinth befreit haben, dann wisst ihr, womit wir fliegen werden. Und der Grund, warum uns der Stallbesitzer aus dem Stall herauslassen wird, liegt doch auf der Hand: Er wird uns dann mit den für Hühner ungewöhnlichen Fähigkeiten berühmt machen wollen, um uns gegen eine hohe Gage bei allerlei Veranstaltungen auftreten zu lassen. Vielleicht wird er auch versuchen, uns für einen Halsabschneiderpreis zu verkaufen, an wen auch immer. Er würde in beiden Fällen einen viel,viel höheren Gewinn erzielen, als er mit den von uns gelegten Eiern jemals einstreichen könnte. Gewiss, wir benutzen damit wohl eher einen Umweg in die Freiheit, doch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies der richtige Weg in ein besseres und längeres Leben ist.“
Nach Ernas begeistert vorgetragener Erklärungen, war der Rest des Quartetts erst einmal sprachlos. Sie wunderten sich und waren zugleich beglückt über Ernas rabenschlauen Fluchtplan. Es dauerte einige Sekunden, bis sich bei ihnen alles gesetzt hatte. Schon bald prickelten Glückshormone durch ihre Körper. Alle vier blickten sich begeistert an. Sie jubelten wie Kinder, wagten ein Tänzchen, ließen ihre Körper kreisen. Schnell entstand aus dem bedächtigen Bodenscharren gewöhnlicher Hühner ein Samba mit weit ausladenden Gesäßschwüngen.

Als die vier ihre Tollerei beendet hatten, machte Freilanda sie darauf aufmerksam, dass es am besten wäre, so schnell es ginge, mit dem Flugtraining zu beginnen.

Sofort sammelten sie von den überall im Stall herumliegenden Hühnerfedern die notwendige Menge ein, fügten sie mit ihren kopierten Schnäbeln in kniffliger Kleinarbeit zu Flügeln zusammen und befestigten sie an ihren noch vorhandenen Flügelstümpfen. Die künstlichen Flügel umhüllten sie sanft wie Engelsschwingen, die sie überirdisch erscheinen ließen. Übermütig vollführten sie allerlei manirierte Gesten, von denen sie annahmen, dass diese Engeln zugehörig waren. Während sie sich zu einer frommen Prozession ordneten, erzählten sie sich noch munter einige Himmelswitzchen, schritten mit parodistisch gestimmter Gravität voran, um danach voller Begeisterung mit dem schwierigen, aber hoffnungsbesetzten Training zu beginnen.
Anfangs kam es hierbei zu beängstigenden Abstürzen und schmerzhaften Karambolagen, sie hielten dann kurz inne, seufzten schwer und entschieden sich für den sofortigen Wiederbeginn der Probe. Manchmal jedoch bereiteten ihnen die Stürze solche Schmerzen, dass sie sich stöhnend am Boden wälzten, oder vor Pein laut lamentierend hin- und herhumpelten. Einmal stürzten sie so arg, dass Freilanda danach minutenlang jammernd auf einem Bein hüpfte.
Während der Wochen intensiven Probens, nahmen sie nur wenig Nahrung zu sich. Ihre Körper wurden leicht. Schon bald flogen sie mit solcher Sicherheit und Selbstverständlichkeit, dass sie nicht einmal mehr die Künstlichkeit ihrer Flügel bemerkten. Gleichzeitig wähnten sie sich wunderbar in Form und hielten ihr Programm für so interessant und ausgereift, dass Freilanda, Erna und Klementine es schnellstens dem Stallbesitzer vorführen wollten.
„Halt, halt, bevor wir unser Programm vorführen, wäre da noch eine Schwierigkeit zu überwinden, die uns zum Verhängnis werden könnte,“ bremste die erfahrene Jasmina den aufgedrehten Eifer der anderen. „Wer,“ so gab sie zu bedenken, „garantiert uns, dass der Stallbesitzer unsere Vorführung nicht für eine Art ansteckenden Hühnerwahns hält, dessen Ausbreitung er sicherlich dadurch verhindern will, dass er uns augenblicklich schlachten lässt? Wir sollten dafür unbedingt eine Lösung finden.“

„Ist doch einfach,“ preschte Klementina vor, „dann werde ich ihm halt erklären, dass unsere Vorführung eine Artistennummer ist und keine Hühnerkrankheit.“

Die anderen drei waren verblüfft.

„Aber der versteht uns doch gar nicht,“ gab Erna zu bedenken.

„Nun,“ entgegnete Klementina nicht ohne Süffisanz, „was Papageien und Beos können, können wir Hühner schon längst. Ich spreche nämlich außer Hühnerisch auch noch Deutsch.
Wurde wahrscheinlich von meiner Labor-Mutter an mich vererbt. Wie dies aber wirklich zustande kam, weiß ich nicht. Jedenfalls stieß mein Hirn eines Tages die deutsche Sprache aus. Wird wohl eine genetische Verirrung sein . Durch die verschiedenen Kreuzungen auf dem Weg zum Hitech-Huhn, hat sich vermutlich so eine Art frankensteinsche Unschärfe in mein Erbgut eingeschlichen. Vielleicht ist das Ganze aber eher eine neuronale Fehlschaltung meines Gehirns. Kurz gesagt: Zu unserem Glück ist da bei mir etwas verunglückt.“

Das fügt sich ja ausgezeichnet. "Dann kann unsere Aktion ja endlich starten,“ entschied Erna.
„Ich bin schon ganz aufgeregt.“

Nach kurzer Zeit war es dann soweit. Der Stallbesitzer, ein Mensch von unglaublicher Zeitgemäßheit, der seinen Körper zur Giacomettihaft leptosomen Gestalt gejoggt und gehungert hatte, zeigte sich, wie gewohnt, in Gummistiefeln, trug aber, als Gegensatz zu den Blaumännern seiner Arbeiter, einen Anzug aus teurem Stoff. Hinzu kam ein weißes Hemd mit Krawatte, und auf seiner Nase saß eine feine randlose Brille, die aus seiner Physiognomie jede Erinnerung an seine bäuerliche Herkunft und den letzten Rest an Grobheit entfernen sollte. Selbstverständlich war sie zuforderst ein Objekt der Selbsttäuschung aber auch der Täuschung, eine Art Selbstherstellung, die ihm als die bessere Wirklichkeit galt. Und tatsächlich zauberte die Brille auf sein Gesicht die von ihm gewünschte Anmutung aus Feinsinnigkeit und konzentrierter Intelligenz, die sein reales Gesicht in den Hintergrund drängte. Dergestalt konnte man sich ihn kaum mehr in einem Hühnerstall vorstellen. Eher sah man ihn hinter einem Schreibtisch per Telefon und Computer in kalkulierender Ordnung seinen Betrieb lenken.
Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina sahen jetzt endlich die Möglichkeit gekommen, den Anfang für ihre Befreiung zu setzen. Sie hüpften auf das Dach des Traktors, nahmen von dort aus Anlauf, fingen währenddessen an, mit ihren künstlichen Flügeln zu schlagen. Mit geübter Eleganz stiegen sie wie von selbst empor und begannen ihre Darbietungen vorzuführen.
Als erstes präsentierten sie einen Formationsflug, bei dem sie sich, Geschossen gleich, in die Tiefe stürzten. Kurz vor dem Aufprall am Boden stoppten sie ihren Sturz, indem sie eine elegante Kurve beschrieben, um mit emporstrebender Flinkheit wieder in die Höhe zu steigen. Dort wirbelten sie so leicht und luftgetragen durcheinander, dass man hätte glauben können, sie seien keine erdenschweren Lebewesen, sondern Konfetti, das jemand übermütig emporgeworfen hatte. Dann plötzlich stieben sie auseinander, drehten Salti, rotierten synchron um die eigene Achse, wirbelten wieder aufeinander zu, flogen übereinander, nebeneinander und drehten sich schließlich karusselartig gemeinsam im Kreis. Zum Schluss zeigten sie noch etwas ganz Besonderes, den Kolibriflug. Hierbei erreichten sie mit ihren künstlichen Flügeln ein derart geschwindes Schwirren, dass es ihnen nicht nur möglich war, rückwärts und seitwärts zu fliegen, sondern sogar in der Luft auf der Stelle zu verharren. Alles wirkte mühelos und anmutig, wie Schmetterlingsschaukeln. Leicht hätte man bei dem traumleichten Luftschwimmen der vier ihren erbitterten Kampf mit der Schwerkraft übersehen können.

Der Stallbesitzer erstarrte zusehends. Obwohl er den vieren zunächst staunend und mit einer gewissen Begeisterung zugeschaut hatte, legte sich eine eisige Maske über sein Gesicht. Nachdem die Darbietung beendet war, rief er sofort einen der Arbeiter bellend mit den Fragen herbei, warum man den vieren nicht die Flügel gestutzt und warum man ihm deren verrücktes Verhalten nicht schon vorher gemeldet habe und ob hier im Stall neuerdings so etwas wie der BSE-Wahnsinn ausgebrochen sei, wie damals bei den Kühen in England? Der Arbeiter schaute den Stallbesitzer erst einmal geduckt an, wollte dann aber aus der Defensive heraus, und setzte an, sich zu rechtfertigen. Bevor er dem Stallbesitzer antworten konnte, flog Klementina vom Traktor herunter, meldete sich zu Wort, und erklärte dem Stallbesitzer in ruhig fließendem und akzentfreiem Hochdeutsch, das von sanft dahinrollenden großen und kleinen „Rs“ bewohnt wurde, dass die Flügel von ihnen konstruiert worden seien, und es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um die wohl originellste Hühnerakrobatik handele, die es je gab.

Die Verblüffung des Stallbesitzers, als er Klementina sprechen hörte, war nahe der Panik. Klememntina sah, dass sich Fassungslosigkeit auf sein Gesicht setzte. Er glotzte sie an, als sei sie ein böser Dämon, der ihm seinen Verstand rauben wollte. Sein routinierter Geschäftssinn ließ ihn jedoch schnell wieder zu sich kommen, die Contenance wiederfinden und die Situation beherrschen. Augenblicklich machte sich ein taxierendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Seine Bewegungen verloren nun alles Abwehrende und Eckige, wurden runder. Sein Körper strahlte jetzt kommerzielles Wohlbehagen aus. Durch sein Hirn zeitrafferten offenbar monetäre Fantasien, die seine Augen funkeln ließen, als seien sie frisch geprägte Euro-Münzen. Augenblicklich wies er den Angestellten an, Erna, Freilanda, Klementina und Jasmina einzufangen und in sein Büro zu bringen, und er solle behutsam mit ihnen umgehen.
Die vier zwinkerten sich zu, ließen sich ohne Gegenwehr einfangen.
Im Büro des Stallbesitzers stand eine große, komfortable Voliere, in die sie eingesperrt wurden. Nun war die Voliere bei Weitem nicht das von ihnen ersehnte Ziel, doch empfanden sie Zufriedenheit, dass sie sich nun endlich auf ihrem Weg in die Freiheit befanden.
Während sie sich nach der anstrengenden Vorführung in einen wohligen Erschöpfungszustand fallen ließen, setzte sich der Stallbesitzer an seinen Schreibtisch. Dort schrieb er im
Fieber kalkulierender Vernunft zunächst eine Reihe hastiger E-Mails. Danach führte er einige, mit Geschäftsvokabular gespickte Telefonate, war eine zeitlang ziemlich hibbelig, beendete dann aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Aktivitäten.
Klementina, die während seiner Telefonate mitgehört hatte, erklärte Erna, Jasmina und Freilanda, dass er sie, nach einigem Hin und Her, letztendlich bei einem Talentwettbewerb
angemeldet habe, der im Fernsehen gezeigt werden soll.

Ihnen konnte es nur recht sein, dass die Geschichte sich weiterhin so entwickelte, wie Erna es vorhergesehen hatte. Sie setzten sich glücklich nebeneinander auf ihre Schlafstange und schliefen, bedeckt von seidenweicher Dunkelheit und wohltuender Stille, so ruhig und tief, wie sie in ihrem Leben noch nie geschlafen hatten.

Am nächsten Tag schien die Sonne. Der Himmel war blau und weißwolkig. Die vier wurden von einem der Arbeiter zu einer mit hohem Hühnerdraht umzäunten großen Grünfläche gebracht. Das Gehege glich einem Bollwerk gegen Fuchs, Marder und Habicht. Es bot ihnen genügend Auslauf und ausreichend Freiraum. Hier gab es außer Gras auch wilde Kräuter, Klee und jungen Löwenzahn, junge zarte Brennesseln und nicht zu vergessen: Regenwürmer - insgesamt eine Futtervielfalt, wie sie sich ein Huhn nur wünschen konnte, und die sie glücklich machte. Zum ersten Mal sahen sie Vögel, die auf
Bäumen, in Sträuchern und auf Hochspannungsleitungen hockten. Einmal näherte sich sogar ein Fuchs mit aufgestellter Lunte der Umzäunung. Bald darauf strich ein Hund um das Gehege. Hasen hoppelten vorbei. Ringsrum stand alles in voller Blüte. Bienen summten, unbekannte Düfte schwebten durch die Luft, und der Himmel zeigte ihnen seine Unendlichkeit. Alles um sie herum erschien ihnen aufregend und schön, wenn auch auf eine ihnen unbekannte Art, die in ihnen einen Schauder von Glück und sanfter Ängstlichkeit hervor rief.

Im Gehege stand ein kleiner Stall mit Stroh, in dem sie den gewünschten Schutz fanden. Dorthin konnte sich jede von ihnen zurückziehen, wenn ihr die anderen zu anstrengend wurden. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihnen möglich, Nester zu bauen. Zum erstenmal spürten sie den Wind, ließen manchmal sogar den Regen auf ihr Gefieder tropfen und erfreuten sich so oft es ging an den Sonnenstrahlen. Hier konnten sie Sandbaden, und sie erlebten nun täglich staunend den zeitlichen Unterschied von Tag und Nacht. In manchen Nächten legte sich ihnen der Mondschein zu Füßen. Nichts war so, wie sie es kannten. Plötzlich schien ihr Leben einen anderen Rhythmus aufzunehmen. Der Stallbesitzer kannte sich, zum Erstaunen der vier, mit den Bedürfnissen von Hühnern recht gut aus.

Bis zum Beginn des Wettbewerbs war es noch einige Wochen hin. In dieser Zeit hielten sie sich mit täglichem Training fit. Erna, Jasmina und Freilanda lernten bei Klementina Deutsch, sie hatten Spass und fühlten sich prächtig. Die Zeit verging schnell. So dauerte es für sie nicht mehr lange, bis der Arbeiter kam, um sie aufzufordern, sich für den nächsten Tag bereit zu halten, weil dann der Talentwettbewerb beginne. Aufgeregt setzten sich die vier am Abend auf ihre Schlafstange und wunderten sich als sie am Morgen aufwachten, dass sie überhaupt geschlafen hatten.

Am Vormittag erschien der Arbeiter wieder am Gehege dieses Mal begleitet vom Stallbesitzer, einem blasiert dreinschauender Bankmanager (Die vier hielten es da eher mit Arno Schmidt: Friede den Hütten, Krieg den Finanzpalästen). Seine Erscheinung wirkte seltsam blass, entsetzlich langweilig und verschwommen. Doch seine elegante Kleidung sendete an seine Umgebung deutliche Distinktions- und Seriositäts-Signale. Menschen, denen die Praktiken von Bankmanagern geläufig waren, wären sich aber sicher, dass hinter der Seriostätstarnung räuberische Gelüste lauerten. Ihnen würde sofort die diabolische Aura Elend bringender Geschäfte sichtbar, welche die Gestalt des Bankmanagers umkränzte.
Der Arbeiter steckte die vier in einen tragbaren Käfig. Dann verfrachtete er sie in einen schon bereitstehenden Transporter. Der Stallbesitzer schaute ihm dabei zu. Auf Abgrenzung bedacht, stand er, einiges vom Transporter entfernt, dicht neben seiner schwarzen Highendlimousine und betrachtete die vier mit solch kindlich erwartungsvollem Entzücken, als sei er davon überzeugt, dass mit ihnen Tischleindeckdich und der Goldesel zu einer idealen Fusion gefunden hätten, um Synergien zu heben. Danach verschwand er im Inneren seines Wagens und befahl seinem Chauffeur, dem Tansporter bis zum Ort des Wettbewerbs zu folgen.
Angekommen in der Veranstaltungshalle, erregte das Erscheinen der vier beim Bühnenpersonal und den Teilnehmern einiges Aufsehen. Hühner mit künstlichen Flügeln hatten sie hier beim Wettbewerb noch nie gesehen. Hier sah man nur exentrisch gekleidete und grell geschminkte Sängerinnen und Sänger, Akrobaten, Illusionisten, Jongleure, Tänzer und Witze-Erzähler, die sich Comedian nannten. Sofort war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Manche schauten sie abweisend an; andere waren eher amüsiert, wieder andere begegneten ihnen mit freundlichem Interesse. Jemand freute sich und zeigte ihnen ein gutes Lachen.
Einer der Comedians, der soeben seinen Auftritt beendet hatte, nannte sie flatterndes Fallobst, und sprach sie flapsig mit „dumme Gackerautomaten“ an, die hier fehl am Platz seien. Zu den anderen gewandt, meinte er, dass es für die vier wohl angebrachter sei, in ihrem Hühnerstall Eier zu legen, als hier die Bühne voll zu scheißen. Dabei lachte er heftig über seinen aufgegockelten Klamauk.
Das wollten die vier selbstverständlich nicht unbeantwortet lassen. Jasmina rief ihm zu, dass er sich den cartesianischen Kalauer mit den Gackerautomaten hätte schenken können. Die Vermessenheit, mit der Descartes alle Tiere zu Automaten ohne Schmerzempfinden entwürdigt habe, sei längst als verhängnisvolle Bosheit erkannt. Obendrein nannte Freilanda den Comedian einen nichtsnutzigen Langweiliger, der seinem Publikum zurechtgeschminkte Humorleichen präsentiere und es mit hirnentkernten Witzchen narkotisiere.
Der Comedian wollte erst einmal nicht glauben, was er da gehört hatte. Hühner, die Deutsch sprechen, gar Philosophen zitieren ? Dazu diese Schlagfertigkeit. Wortlos öffneten sich seine Lippen, die Kinnlade fiel ruckartig, der Mund stand offen und blieb es, als sei er festgenagelt.

Bald darauf wurden die vier vom Moderator aufgerufen. Gemessenen Schrittes, wie Abgesandte aus einer mythischen Tierwelt, betraten sie die Bühne. Sofort gingen sie nach vorne an die Rampe, wo die Mikrofone standen, um sie für eine kurze Begrüßung zu nutzen. Sie sprachen das Publikum mit Damen und Herren an und wünschten gute Unterhaltung mit dem einmaligen Programm, das sie ihnen jetzt darbieten würden. Das erstaunte Raunen, das daraufhin im Publikum entstand, wurde schnell von intensivem Beifall abgelöst. Erstaunt über die Höhe der Veranstaltungshalle setzten sie voller Respekt zum Steigflug an, begannen mit einer Einführungsrunde, um dann dem begeisterten Publikum ihre wunderbare Choreographie mit den kunstvollen Flugdarbietungen vorzuführen.
Nach ihrem Auftritt begaben sie sich erschöpft hinter die Bühne, um sich in ihrem Käfig auszuruhen. Das Publikum jubelte ununterbrochen und verlangte von ihnen eine Zugabe. Als sie nochmals die Bühne betraten, zeigten sie jedoch nicht, wie vom Publikum erwartet, eine weitere Flugnummer, sondern sangen ostentativ ein Lied, in dem das Echo ihrer Leiden im Hühnerstall nachhallte, das von den getöteten Kinder-Hähnen und den geplagten und misshandelten Hennen überall auf der Welt kündete. Es waren nur einfache Zeilen mit einer einfachen Melodie, die jedoch all die Tragik trugen, die ein Hühnerleben in den Legebatterien bestimmte.
Sie freuten sich, dass ihnen all die Menschen trotzdem zujubeltn. Mit Stolz zogen sie sich in ihren Käfig
zurück, denn ihnen wurde mit einem Mal klar, dass sie die Siegerinnen des Wettbewerbs sein würden.

Draußen im Foyer zeigte sich der Stallbesitzer, ein wendiger Fondmanager und Emporkömmling, der Presse. Begleitet vom hektischen Rhythmus der Blitzlichter, beantwortete er die Fragen des drängelnden Journalistentrupps. Er pflanzte ihnen mit sonorer Stimme jenes Bild von sich und den vieren ein, das sie von ihm haben wollten. Er stellte sich, die Bedeutung der eigenen Person unterstreichend, als den genialen Trainer und Entdecker der vier vor, der ihr Talent schon früh erkannt und sie akribisch und mühevoll - da Hühner ja bekanntermaßen keine Schnell-Lerner seien - bis zu der hier dargebotenen akrobatischen Showreife trainiert habe. Und weil ihm ein pfleglicher, schonender und würdevoller Umgang mit allen Nutztieren immer schon Passion gewesen sei, habe er selbstverständlich auch das Protestlied für die vier schreiben und komponieren lassen.
Er log habituell mit entschuldbaren Beimischungen, aber immer auf ein lohnendes Ziel ausgerichtet. Über ihm schwebte, auf einer Kanonenkugel reitend als Protektor des kalkulierten Anschein und der profitablen Unwahrheiten, der Geist Münchhausens. Die wollen jetzt von mir alles, nur nicht meine wahre Existenz, die Wahrheit ist uncharmant und hilft mir jetzt nicht weiter, vielleicht würde sie von manchen sogar als Unwahrheit begriffen, sagte er sich. Flink ließ er seine Zunge splittern, gestikulierte, strahlte gutaussehend und zeigte den enthemmten Charme des leidenschaftlichen Verkäufers.
So war es ihm ein Leichtes, die Journalisten in einen propagandistischen Begeisterungssog für sich und die vier zu ziehen. Seine bedenkenlos brillierende Beredsamkeit ließ
selbst noch dort, wo Leere war, verbale Masse entstehen. Er glänzte gewissermaßen über dem Nichts. Das alles war durchsetzt mit einer Unbestimmtheit, die allen, die ihm zugehört hatten, noch ausreichend Raum zum späteren Fabulieren bot.
Die schon bald darauf erscheinenden Zeitungs-Artikel übernahmen seine Unwahrheiten, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, dass das Leben ohnehin ein Gaucklerstück, eine einzige Täuschung sei, das nur umgewandelt in die Realität des Geldes und der wirtschaftlichen Macht zu ertragen war.

Natürlich hatte man überall in Deutschland die Fernsehübertragung des Wettbewerbs gesehen.
Für Erna, Klementine, Freilanda und Jasmina begann nun eine neue Zeit. Sie zogen von Auftritt zu Auftritt, besuchten viele Städte und wurden von Tag zu Tag bekannter. Mit jedem Mal wurden die Hallen, in denen sie auftraten, größer. Ihre Gagen, die der Stallbesitzer kassierte, stiegen mit fast jedem Auftritt. Man hofierte sie wie Primadonnen. Der Stallbesitzer ließ sie jetzt nicht mehr wie anfangs, im rostbefallenen Transporter von einem Arbeiter zu ihren Auftritten fahren. Nun fuhr ein livrierter Chauffeur sie, in einer zum avancierten Hühnerstall umgebauten, glamourös gepimpten Limousine, zu ihren Auftritten. Weil der Stallbesitzer sie weltberühmt machen wollte, legte er von nun an großen Wert darauf, dass die vier extravagant wie weibliche Popstars auftraten. Die Paparazzi von Yellowpress und Dumm-TV sollten ihnen exakt jenen wabernden Boulevardruhm verschaffen, der seinen Plänen entgegen kam, die vier zu einem Label, zu einer unverwechselbaren Marke zu machen. Gleichzeitig ließ er auf die Karosserie der Limousine ein bunt glitzerndes Logo anbringen mit der Aufschrift: Der Stallbesitzer präsentiert: DIE VIER VERRÜCKTEN HÜHNER

Bei einem Auftritt in Bremen überkam die vier der tieffromme Wunsch, vor dem Gerhard Marcks Denkmal der Bremer Stadtmusikanten niederzuknien. Für sie stand fest, die vier Märchentiere wandelten im Tier-Olymp mit einem festen Platz in der Ewigkeit.
Dem Stallbesitzer war das recht, konnte er doch bei dieser Gelegenheit gleich auch noch eine bizarre PR-Show aufziehen. Umringt von Fernsehkameras und Fotoreportern, steckten die vier am Sockel des Denkmals brennende Kerzchen auf, baten auf Hühnerisch die, von ihnen zu Schutzpatronen ernannten, Stadtmusikanten, sie zu beschützen und ihnen beizustehen, damit sie schon bald ihr Leben in Freiheit verbringen könnten. Da sie wussten, dass Tierheilige und Kirchenheilige manchmal schwerhörig waren und sich überhaubt gerne vielfach Bitten ließen, wiederholten sie ihre bitte so oft, bis sie den leiernden Rhytmus einer Rosenkranzmeditation angenommen hatte: Wir bitten euch erhöret uns.

Die Fotoaufnahmen waren schon bald in allen Illustrieten und Boulevardblätternzu sehen. Die Fernsehaufnahmen wanderten per You Tube um die Welt. Eine enorme Zahl von Klicks machte die vier im handumdrehen zu Internet-Ikonen. Und schon überschwemmte der Stallbesitzer millionenschwer den Markt mit Merchandising-Produkten, auf denen die vier, vor dem Stadtmusikanten-Denkmal kniend, abgebildet waren.


III

An einem sonnigen Novembertag, die vier befanden sich inmitten der Mauser, kam der Stallbesitzer, ein feister Impressario und Chef eines Unterhaltungskonzerns, jubelnd an ihr Gehege. Er stolzierte im täglichen Suff schwankend über den Rasen. Über seinen Hosenbund schwappten unförmige Speckrollen und massige Fettpolster: Ein Körper wie ein Container, in dem ohne Mühe eine weitere Person Platz gefunden hätte. Sein Gesicht erschien überdehnt, als sei es von jemandem brutal an den Backen auseinandergezogen worden. Der Alkohol hatte es zerfließen lassen, es sah aus, als habe ihm ein boshafter Chirurg eines der zerquollenen Selbstporträts von des Malers Horst Janssen implantiert.

Ein Geschenk der Götter, wir haben es geschafft“, rief er triumphierend, „wir sind endlich dort angekommem, wo wir hingehören. Monte Carlo hat uns eingeladen. Das ist er endlich, der Durchbruch für uns. Wir gehören nun zum Artisten-Adel“. Mit den Geheimnissen kapitalistischer Preisbildung innigst vertraut, blinkten seine Augen vorausahnend und intensiv, wie die Kontrollichter eines Geldautomaten. Dann beugten sich hunderfünfzig Kilo über die vier. Um zu hören, was der Stallbesitzer ihnen mitteilen wollte, neigten sie erst einmal ihre Köpfe zur Seite: Der Kleidung des Stallbesitzer entströmte ein aufdringlicher Parfümgeruch und aus seinem Mund wehte eine ihnen unangenehme Alkoholfahne.

„Im Januar werden wir beim Zirkusfestival in Monte Carlo vor dem Fürstenpaar auftreten“, ließ er sie wissen. Das alles käme deshalb etwas überhastet, weil ein Hochseil-Artist, der beim Gang zu seinem Auto über die eigenen Füße gestolpert sei, und sich dabei so nachhaltig verletzt habe, dass er bis zum Beginn des Festivals nicht mehr genesen könne. Deshalb sollten sie nun an seiner Stelle beim Zirkusfestival auftreten.
Ihre Vorführung wurde zum Triumph. Die internationale Presse jubelte ob der Leichtigkeit und Kunstfertigkeit ihrer Flugakrobatik. Sie schrieben aber nur, was andernorts längst bekannt war.
Am Ende waren sie auch hier, wie so oft, angewidert von jenem Konglomerat aus Tierdressur und Selbstdressur der Akrobaten, das den enthusiasmierten Zirkusbesuchern in der Manege dargeboten wurde. Menschen und Tiere waren zu hochgefahrene Bio-Maschinen umgemodelt. Besonders weh tat es ihnen zu sehen, dass Bären, Löwen und auch Tiger, sich wie fauchende Raubtier-Larven gebärdeten, hinter denen sich aber entwilderte und erniedrigte Gehorsamstiere verbargen. Und sie sahen die unverhüllte Traurigkeit der Elefanten, denen man beigebracht hatte, in qualvoller Verleugnung ihrer schwergewichtigen Körpermassen dem Zirkuspublikum schmerzhafte „Handstände“ mitsamt entwürdigenden und lächerlichen Niedlichkeitsverrenkungen vorzuführen.
Hier in Monte Carlo begriffen die vier mit einem Mal, dass sie festhingen auf ihrem Umweg in die Freiheit.
Aus Monte Carlo zurückgekehrt, erhöhte der Stallbesitzer die Zahl ihrer Auftritte beträchtlich. Ein schwieriger Tag ging für sie in den anderen schwierigen über. Unversehens fanden sich die vier vom Stallbesitzer in einen rasenden Kreislauf voller Plackerei gestoßen, in dem die Zeit quälend langsam und ergebnislos verstrich.
Die rücksichtslose Tour de Force von Auftritten zermürbte sie. Bald drang in ihre Körper eine ihnen bislang unbekannte metallische Schwere. Nach einiger Zeit waren sie so erschöpft, dass alles in ihnen nach einer intensiven Erholungsphase schrie. Als sie den Stallbesitzer auf ihren körperlichen Zustand aufmerksam machten, reagierte dieser, ob ihres Wunsches nach einer längeren Pause, ignorant und hochmütig. Er forderte sie ungerührt auf, sich tunlichst an ihre Pflicht zu halten und weiterhin dann aufzutreten, wenn er es von ihnen verlange.
Die vier fielen erst einmal in eine kurze Schockstarre, wurden aber schnell wieder regsam. Sie entschlossen sich, auf ihrer Forderung zu bestehen, weigerten sich aufzutreten, setzten sich auf ihre Schlafstange und begannen einen Streik. Sie sagten sich: das Richtige zu tun, heißt für uns jetzt nichts zu tun, Als sie auch nach mehreren Tagen keinerlei Anstalten machten, ihren Streik zu beenden, kam der Stallbesitzer wütend an ihr Gehege und versuchte, sie schimpfend abzukapiteln.
Als die vier sich von seinem rumpelnden Auftreten unbeeindruckt zeigten, sich erneut weigerten aufzutreten, erfasste den Stallbesitzer eine merkwürdige Unruhe. Geplagt
von Verarmungsfantasien beschuldigte er sie, ihn mit ihrer Aufrittsverweigerung in den Ruin treiben zu wollen. In der Einbildung, sein späteres Leben im Voraus erblicken zu
können, stand er vor ihnen wie ein verschüchterter Hartz IV- Empfänger. Dann flossen bei ihm die Tränen. Es übermannte ihn die Vorstellung eines zukünftigen Armendaseins. Von Selbsmitleid überwältigt, weinte er so heftig, dass ihn selbst noch die eigenen Tränen zu Tränen rührten.
Die vier ließen sich auf keinerlei Nachgiebigkeit ein. Die Phrasen, die eloquente Argumentation und die Tränen des Stallbesitzers machten auf sie einen irrealen Eindruck. Sie ahnten, dass sie die Betrachter einer zu ihren Ungunsten ausgerichteten Inszenierung waren, einer Inszenierung, die vor allem dem Zweck der Geldvermehrung diente. Zwar bedauerten sie den Stallbesitzer ob seiner manischen Geldbesessenheit, die ihn zum würdelosen Nimmersatt machte. Sie waren sich aber einig darüber, dass er ihnen eigentlich den Buckel runterrutschen könne.
Als der Stallbesitzer nach kurzer Zeit erneut an ihrem Gehege erschien, um sich bei ihnen über den momentanen Stand der Dinge zu informieren, erzählte Jasmina ihm, damit er begriff, wie sie eigentlich das Verhältnis zu ihm sahen, eine Geschichte. Die Geschichte handelte von einem Mann, der in eine Tierhandlung ging, um dort einen Papagei zu erstehen. Dem Papagei wollte er zu seiner und seiner Familie Unterhaltung und als Überraschung für seine Freunde allerlei dreiste Vokabeln beibringen. Beim Betreten der Tierhandlung entdeckte der Mann als Ersten einen prächtigen Ara, der ihm so sehr gefiel, dass er sich bei dem Tierhändler sofort nach dem Preis erkundigte. Als dieser zwanzigtausend Euro für den Vogel verlangte, erschien dem Mann der Preis sehr hoch, und wollte vom Händler wissen, was denn den hohen Preis rechtfertige.
„Dieser Papagei spricht außer Deutsch auch Englisch, Französisch und Portugiesisch“, antwortete ihm der Tierhändler.
Doch der Mannn schaute sich schon nach einem anderen Papagei um, der vielleicht nicht so prächtig aussah, nicht polyglot, aber preisgünstiger war. Schon fragte er den Händler, wieviel der Graupapagei gleich nebenan koste?
„Der kostet vierzigtausend Euro“, antwortete der Händler. „Der spricht nämlich neben Deutsch, Englisch und Französisch auch noch Spanisch, Russisch und Chinesisch.“
Der Mann war ob der Fähigkeiten der Papageien sehr überrascht. Die Pracht des Federkleides scheint hier kein Kriterium der Preisbildung zu sein, da bestimmen wohl hauptsächlich Sprachvermögen, oder mir unbekannte Eigenschaften die Preise, ging es ihm durch den Kopf. Doch wollte er die Tierhandlung nicht ohne einen der bunten Vögel verlassen, deshalb sagte er sich: „vielleicht finde ich hier doch noch einen Papagei, der mir gefällt, der für mich erschwinglich ist und dem ich auch noch einige freche Sprüche beibringen kann“. Also fragte er den Händler, nun schon leicht eingeschüchtert, wieviel denn der Papagei koste, dessen Käfig getrennt von den anderen hoch oben unter der Decke hing.
An Stelle des Händlers antwortete der Papagei: „Ich koste eine Million Euro.“
„Eine Million Euro?“ wiederholte der Mann zunächst fassungslos. Fragte dann aber den Händler spöttisch: „Und wieviele Sprachen spricht er ? “
„Außer fressen, in den Käfig scheißen und halbwegs Deutsch sprechen, kann er nichts Besonderes. „Aber,“ fügte der Händler in bewunderndem Tonfall und mit untertänigem
Aufblicken hinzu, „er hat den anderen Papageien beigebracht, dass sie Chef zu ihm sagen.“
Daraufhin verließ der Mann enttäuscht und irritiert die Tierhandlung.

Der Machtinstinkt des Stallbesitzers witterte an der Geschichte sofort das Grundsätzliche, etwas war darin enthalten, das seine Position in Gefahr bringen konnte, war er überzeugt. Er beschimpfte die vier hemmungslos als Faulpelze und Anarchisten und sagte ihnen, dass er die Geschichte nicht nur als metaphorisches Aufbegehren begreife, sondern darin eine offene Rebellion sehe. Mit Geschichten dieser Art würden sie seine Autorität und die natürliche Rangordnung unterminieren, die zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier nun einmal existiere. Er redete sich in Rage, er tobte , ja, er raste, als wolle er wahnsinnig werden. Und dann drohte er ihnen unverhohlen, sie schlachten zu lassen.
Die vier beachteten seinen Tobsuchtsanfall nicht, versuchten auch nicht, ihn zu beschwichtigen, ließen das Gepräch mit ihm, bevor es richtig begonnen hatte, einfach erlahmen und setzten gelassen, beinahe stoisch, ohne jede Furcht getötet zu werden, ihren Streik fort. Sie strahlten eine geradezu erhabene Ruhe aus - wußten sie doch, dass sie für den Stallbesitzer nur als lebende Hennen „gute Hennen“ waren. Zwischen den Fronten herrschte nun bis auf Weiteres Schweigen.
Nach einigen Tagen kam der Stallbesitzer adipös schnaufend und mit entschuldigender Miene an ihren Käfig. Er versuchte den passenden Gesichtsausdruck für seine nun vorhandene
Kompromissbereitschaft zu finden. Zunächst kratzte er sich verlegen am Kopf. Dann räusperte er sich. Er habe begriffen, „dass sie sich nicht ständig an andere abgeben, nicht unbegrenzt über sich verfügen lassen wollten“, sagte er dann. Er appellierte mit nachgiebiger Stimme an ein gegenseitiges Einvernehmen, weshalb er ihrer Forderung nach einer gehörigen Erholungsphase zwischen den Auftritten nachzukommen gedenke und einige der von ihm vorgesehenen Veranstaltungen aus seinem Terminkalender gestrichen habe.

Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis beendeten die vier ihren Streik. Mit frischer Kraft und hellwachem Fluchtinstink traten sie wieder auf. Doch schnell verflogen, von ihnen kaum bemerkt, die Monate. Gelenkt vom Wohlgefallen am Applaus und den ruhmreichen Zerstreuungen ihrer Auftritte, schmolz ihre Zeit zu Leben unaufhörlich.
Je länger ihr Ruhm dauerte, desto weiter entfernten sie sich von ihrem Traum, die Freiheit der Hühner zu leben.

Manchmal geschah es sogar, dass Nostalgie aus den Tiefen ihres Gemüts in ihre Gedanken drang. Die Erinnerung an vergangene Auftritte und Geschehnisse setzte sich dort
mit unnachgiebiger Bestimmtheit fest. Dann erzählten sie sich von den glücklichen Momenten, den skurilen, oft nichtsnutzig absurden Ereignissen, die sie gemeinsam während ihrer Auftritte erlebt hatten.
Es war Klementina, die die anderen darauf aufmerksam machte, dass all diese, sich ihnen aufdrängenden Erinnerungen doch eigentlich keine Bedeutung für sie hätten. Sie sollten sich endlich wieder drauf besinnen, dass ihr Wunsch und ihre Aufgabe vielmehr seien, Ernas Geschichte auf das von ihr beschworene, und von ihnen herbeigesehnte Ende hinzuführen.
Außerdem laste das Showdasein inzwischen wie ein kompaktes Gebilde auf ihr. Ihr Körper habe ihr immer wieder „Aufhören“ signalisiert, und vollziehe die gemeinsamen Flugnummern nur noch mit viel Widerstreben. „Wir sollten das Wasser des Lethe trinken, unser Gedächnis reinigen, alles Vergangene aus unseren Körpern und Gedanken löschen, keine Hornhaut aus zwanghaft gelebten Geschichten entstehen lassen. Wir sollten endlich das tun, was wirklich für uns zählt: ohne weitere Verzögerung das uns gemäße Leben einfangen, endlich ein normales Hühnerdasein leben und nicht dieses hastige, von ständigen Showauftritten und sinnleerem Ruhm gesteuerte surreale Ersatzleben, forderte sie ihre Freundinnen auf.
Vor allem sei sie davon überzeugt, dass in ihren Körperzellen noch Gene aktiv seien, die bei gewöhnlichen Hybridhennen von den Genetikern der Zuchtfabriken längst abgeschaltet worden waren. Denn nicht von ungefähr habe sie seit ihrer Zeit als Junghenne nachts immer wieder den gleichen Traum von einem echten Hühnerhof mit einem prächtigen Hahn geträumt, der jeden Morgen mit lautem Krähen pflichtgemäß seinen Hühnerharem wecke, der, wie es einem Hahn zusteht, seine Hennen zur Ordnung rief, Streitereien schlichte, die unter den Hennen entstanden, der sie vor Raubvögeln warne und für sie im Freien geeignete Stellen zum Nester bauen erkundete. Sie persönlich wolle nicht weiter im fiebrigen Zustand unerfüllter Sehnsüchte leben. Es wäre für sie nun endlich an der Zeit, Eier zu bebrüten und für viele gelbe Küken als Nachwuchs zu sorgen.
Kaum hatte Klementina ihren eindringlichen Appell zu Ende gebracht, bestätigten Erna, Jasmina und Freilanda ihr ausdrücklich, dass es ihnen genauso erginge wie ihr. Auch wenn sie mit Vergessen nicht alles ungeschehen machen könnten, müsse dennoch recht bald etwas geschehen. „Wir haben viel Zeit an die Menschen verschenkt. Weiter zu warten wäre Wahnsinn. Alleine schon, weil keine von uns zu sagen vermöchte, worauf wir noch warten sollten. Wir müssen endlich gehen, sonst kommen wir vielleicht zu allem zu spät.“
Noch am selben Tag berieten sie über einen Plan zur gemeinsamen Flucht. Dabei waren sie sich schnell einig: Nur mithilfe einer List, einer Lüge, einer Täuschung, würde ihnen die Flucht gelingen. Und sie wußten auch recht bald, wie dies geschehen sollte. Vorher aber wollten sie noch einmal die Menschen, die ihnen zuschauten, mit ihrem Lied vehementer denn je auf die schamlosen und qualvollen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen ihre Schwestern in den Ställen der Massentierhaltung zu leiden hatten. Mit aller Kraft wollten sie gegen die emotionale Erstarrung und die Lust der Menschen an der Gedankenlosigkeit ansingen. Der den Tieren gegenüber sich als mächtige dünkende Mensch sollte sich endlich darauf besinnen, dass es für ihn an der Zeit wäre, auch die Würde der Hühner zu achten, dass die Würde aller Tiere als ebenso unantastbar zu begreifen sei, wie die der Menschen. Sicherlich, auch Tiere äßen Tiere, und manche Tiere würden Tiere bestehlen. Sie nähmen aber keinem von ihnen die Freiheit, sich durch Flucht dem Tod zu entziehen. Und den Eierdieben unter den Tieren fehle vor allem die radikale Systematik des Menschen zur tabula rasa. Da bliebe für die Bestohlenen immer noch genug, ihre uralte Bestimmung zu leben. Bei ihrem nächsten Auftritt legten die vier ihr Protest- und Trauerlied direkt an den Anfang ihrer Darbietung. Danach erklärten sie dem Publikum, dass nun eine Premiere mit noch sensationellerer Flugartistik als bislang bevorstünde. Dazu sei es aber zu ihrer vierer Sicherheit notwendig, sämtliche Türen der Veranstaltungshalle zu öffnen, die ins Freie führen.
Sie wussten, dass der Stallbesitzer sie nicht an ihrer Flucht hindern würde. Der saß während ihrer Vorführungen immer in der jeweiligen Hauskantine, wo er sich selbstvergötternd heftig mit Champagner zuprostete. Auch wenn die vier ihm schon mehrfach ihr intelligent selbstbewusstes Verhalten gezeigt hatten, war ihm dies aus seinem Gedächnis gerutscht, war aufgeschluckt vom Alkohol, alltäglicher Geschäftigkeit und verleugnender Wahrnehmung. So wußte er eigentlich fast nichts über sie, doch noch weniger über sich selber. Deshalb handelte er in der selbstgewissen Überzeugung, der alles kontrollierende Zerberus zu sein, dem niemand entkam, dumme Hühner schon gar nicht.
Also baten die vier das Hallenpersonal, während ihrer Darbietung die Türen zu öffnen. Leider hätten sie vergessen, die Herrschaften von der Saalordnung rechtzeitig zu informieren. Bei der hohen Geschwindigkeit, die sie mit dieser speziellen Nummer erreichen würden, benötigten sie jetzt unbedingt eine Sicherheitszone, in die sie, wenn es notwendig würde, fliegen könnten, um nicht gegen eine der Hallenwände zu prallen und sich dabei tödlich zu
verletzen. Das leuchtete dem Personal selbstverständlich ein und es öffnete sämtliche Türen und Notausgänge.

Erna, Klementine, Jolanda und Jasmina nahmen einen langen Anlauf, drehten einige Freudenpirouetten und flogen dann raketenschnell durch einen der Ausgänge ins Freie.
Während die Zuschauer auf ihre Rückkehr warteten, flogen die vier in den abendlichen Himmel und wurden hier nie wieder gesehen.



Copyright: Udo Vogt
 



 
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