Die weisse Nacht

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animus

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Die weisse Nacht


Es ist schon einige Wochen her, dass ich Iris besucht habe. Ich stand an der Tür und klopfte leise an. Ihre Klingel war schon immer kaputt, genauso wie das Licht im Treppenhaus.
Kein lautes Zurufen, „immer herein“, kam mir entgegen wie sonst. Nichts rührte sich. Ich drückte gegen die Tür und sie ging langsam auf.

Die ungewöhnliche Dunkelheit des Flures und dieser Nacht verwandelte sich ins Weiß. Das Zimmer lag im hellen Licht der vielen Teelichter. Iris musste ein paar Hundert über das Zimmer und der Diele verteilt haben. An manchen Stellen bildeten sie sternförmige Muster und sie warfen fantasievolle Schatten an die Wände. In den Wandspiegeln, die hinter Iris die ganze Wand abdeckten, flackerte es wie ein Schwarm großer Leuchtkäfer.
Iris, vom Licht der Kerzen umgeben, saß aufrecht in ihrem schwarzen Lederstuhl. Sie bewegte sich nicht, sondern sie schaute konzentriert auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen, und vergoss Tränen. Ihr völlig durchnässtes Haar hing ihr ins Gesicht und das leichte Zucken ihres Kopfes verriet, dass sie in sich schluchzte ohne ein Laut von sich zu geben.
Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen alten unbequemen Stuhl kaum fünf Meter von ihr entfernt und schaute sie an. Nicht in ihr Gesicht, sondern auf ihre Hände, die sie immer noch in ihren Schoß presste und anstarrte.
Langsam drehte ich mir eine Zigarette, schaute dabei hin und wieder Iris an. Sie rührte sich nicht.
Ich schnippte die Tabakbrösel in ihre Richtung und zündete mir die Zigarette an, ohne sie aus den Augen zu lassen. Nach einiger Zeit blies ich den Rauch in ihre Richtung. Der Rauch erreichte sie nicht, er verschwand auf halbem Wege, genauso wie sie meine Gedanken nicht erreichten
oder ihre Gedanken mich nicht erreichten.

„Wie schwer bist du denn, Iris?“ fragte ich sie. „Fünfundvierzig Kilo wiege ich zurzeit. Warum?“, antwortete sie langsam, ohne mich anzuschauen.
„Es wird einige Stunden dauern, bis du es hinter dir hast,“ sagte ich zu ihr und zeigte mit der Zigarette in Richtung ihres Schoßes.
„Was hast du dir dabei gedacht? Du wirst es wieder nicht durchstehen.
Der wievielter Versuch ist es jetzt eigentlich? Ich bleibe nicht die ganze Nacht hier sitzen. In ca. zwei Stunden gehe ich. Zu dieser Zeit wirst du noch halbwegs bei klarem Verstand sein. Du wirst aufstehen und Hilfe holen.
War doch bei deinem letzten Versuch genauso. Also, was soll das Theater?“
Iris sagte kein Wort, sie schaute nicht hoch, sondern presste ihre Hände fester in ihren Schoß.
Die Tränen liefen ihr das Gesicht hinunter und verschwanden in ihrem Kleid. Ihr weißes Kleid strahlte dermaßen hell, dass es mich schon fast blendete. Wäre nicht der rote Fleck in ihrem Schoß, würde sie einen strahlend weißen, unschuldigen Engel leibhaftig verkörpern können.

„Ich werde später deine Mutter anrufen und ihr sagen, sie möchte nach dir schauen. Hast du mir noch etwas zu sagen?“, fragte ich sie und blies ihr nächste Rauchwolke entgegen. Ihre Stummheit beunruhigte mich.
Ich kannte Iris als eine sehr gesprächige junge Frau, die immer das letzte Wort haben musste, die gerne lachte und leidenschaftliche Diskussionen führte.
Ein strahlend weißes Kleid hatte sie an. Es passte sehr gut zu ihr. Ihre kleine Füße zierten
weiße elegante Schuhe. Etwas kam mir fremd an ihr vor. Ich überlegte, was es sein könnte, was sie heute anders erscheinen lässt, als sonst. Es war ihr Haar. Es war rot gefärbt und darin steckte eine weiße Rose. Rot. Es war ihre Lieblingsfarbe. Sie trug immer etwas Rotes. Heute war es das eigene Haar.
Iris presste, ich konnte die Anspannung ihren Armen ansehen, ihre Hände kräftiger in ihren rot gefärbten Schoß. Die dunkelroten Rinnsale, die aus ihren Handgelenken flossen, färbten das weiße Kleid in fantasievollen Mustern. Etwas vom zähflüssigen Rot tropfte auf den Boden zwischen ihren Beinen und bildete eine kleine Lache unter ihr. Eine Farbkomposition von Weiß und Rot. Unschuld und Liebe.

Nach zwei Stunden, von denen wir uns anderthalb Stunden nur schweigend gegenüber gesessen haben, nahm ich meine Sachen und schloss die Tür hinter mir, ohne ein Wort zu sagen.
Mir fiel wieder die ungewöhnliche Dunkelheit dieser Nacht auf. Eine tief dunkle Nacht, die ein weiß erleuchtetes Zimmer in sich barg und in dem ein rothaariges Mädchen auf einen neuen Tag wartete.
Ich blieb für einen Augenblick vor dem Haus stehen und schaute zum Fenster hin, hinter dem das Weiß mit dem Rot sich vermischte. In irgendeinem Haus ging das Bellen eines Hundes ins Heulen über.

Eine Woche später stand ich auf dem Hauptfriedhof und beobachtete von Weitem eine kleine Gruppe von Menschen. Ich hörte dem schmalzigen Gerede des Pfarrers und dem lauten Weinen einer Frau zu, die gerade am Grab stand und ein paar Blumen runter warf.
Iris Mutter.
Als die Zeremonie zu Ende war und alle Trauergäste sich zum Leichenschmaus begaben, ging ich zum offenen Grab und warf eine weiße Rose runter. Der weiße Sarg im dunklen Loch des Grabes machte einen bedrückenden Eindruck auf mich. Er erinnerte mich an die dunkle Nacht und das weiße Zimmer. Ich setzte mich auf den Hügel der frisch ausgehobenen Erde und schaute hinunter zur Iris.
„Ich habe in der Nacht deine Mutter angerufen“, sprach ich zu Iris. „Sie sagte mir: „Diese kleine Hure kann mir gestohlen bleiben. Ich habe keine Tochter mehr. Sage ihr, dass ich meinem Mann blind vertraue, sie soll keine Gerüchte in die Welt setzten.“
Noch eine Weile blieb ich am Grab sitzen und bröckelte schwarze Erdklumpen auf den weißen Sarg. Die Geräusche erinnerten mich an mein leises Klopfen vor eine Woche an Iris Tür. Eine Tür, die nie wieder aufgehen wird.
„Ich habe unsere Mutter nie lieb gehabt“, schrieb ich mit dem Finger in die schwarze Erde und ging.




[©animus]
 



 
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