Die wortlose Flucht des Doktor Karlheinz S.

Klaus Zankl

Mitglied
Die wortlose Flucht des Doktor Karlheinz S.

Erster Teil

Es ist schon ein paar Jahre her, als ich morgens aufwachte und krampfhafte Schmerzen im Unterleib verspürte. Als ich kurz darauf Wasser ließ, brannte die Harnröhre so sehr, daß ich mich beim Pinkeln krümmen mußte. Was war geschehen? Offenbar hatte ich mir einen Infekt zugezogen, wahrscheinlich war die Blase entzündet, vielleicht auch die Prostata. Schnell war mir klar, daß sich besser ein Urologe der Sache annehmen sollte, damit ich meine Beschwerden möglichst rasch loswerden und sie nicht chronisch werden würden.
Schon war das Telefonbuch zur Hand; ich überblickte rasch die Einträge der Fachärzte für Urologie und suchte mir nach dem Zufallsprinzip den nächstbesten heraus. Er trug den Allerweltsnamen Doktor Karlheinz S. und hatte seine Praxis in einem nördlichen Teil meiner Heimatstadt.
So, ich schlürfte meinen Morgenkaffee, nagte noch an einem Butterbrot und wollte anschließend erst einmal in die Badewanne gehen, denn wer würde schon ungewaschen bei einem Urologen vorstellig werden wollen, bei dem man sich ja sehr wahrscheinlich freimachen sollte, damit Herr Doktor eine differenzierte Diagnose stellen konnte? Aufgeregt war ich auch schon ein bißchen, denn gerade dieses blöde Freimachen gegenüber mir unbekannten Menschen, so sehr mir sein Sinn auch einleuchtete, war freilich alles andere als mein Hobby. Außerdem habe ich in meinem Leben immer wieder einmal verschiedene Phobien erlebt, vor allem soziale Phobien - das heißt, ich neigte hier und da zum Stammeln oder Stottern - und Kanzerophobien, also Krebsängste.
Nach dem Baden, natürlich hatte ich es nicht versäumt, mir auch noch frische Wäsche anzuziehen, bestieg ich den nächsten Bus und brauchte ungefähr zwanzig Minuten, bis ich am Zielort eintraf. Die Praxis des Arztes befand sich noch zwei Ecken weiter, ich hatte keine Mühe, sie zu finden.
Zum Glück waren nur wenige Patienten zugegen, so daß gute Aussichten bestanden, auch ohne Termin bald beim Doktor vorsprechen zu können. Es gab hier nur eine einzige Sprechstundenhilfe, auch die Räumlichkeiten waren eher klein und bescheiden - eine drollige Praxis eben.
Ich suchte mit den übrigen Patienten ein kurzes und leises Gespräch, um meine Aufregung und die Phobien, die nun natürlich noch etwas zugenommen hatten, durch das Gefühl, ich sei nicht allein, zu dämpfen.
Na bitte, nach fünfzehn Minuten war es dann soweit, die Sprechstundenhilfe holte mich aus dem Warteraum ab und führte mich in das Behandlungs - und Untersuchungszimmer, in dem sich Doktor S. bereits befand. Er saß auf einem Stuhl und schaute bei meinem Eintreten kurz hoch und dann auf das Patientenblatt, das ihm inzwischen vorlag. Die Sprechstundenhilfe bat mich platzzunehmen, verließ das Zimmer und schloß die Türe hinter sich. Merkwürdig schien mir, daß niemand von mir eine Urinprobe verlangt hatte.
Doktor S. sah schon ein wenig wunderlich aus, er war wohl Mitte fünfzig, hatte einen leicht pyknischen Körperbau und große speckige Hände. Die paar Haare, die er noch hatte, waren grau; auf seiner Nase trug er eine große Hornbrille.
Herr S. fragte nun, was er für mich tun könne; er vermied jeden Blickkontakt und starrte weiter auf das Patientenblatt.
Ich beantwortete seine Frage so gut es mir möglich war, ich wies mit etwas unsicherer Stimme auf meine Beschwerden hin und schilderte meine Vermutung einer Entzündung. Der Doktor sagte nichts, blickte nicht hoch, schrieb aber ein paar Sätze. Nachdem er etwa eine Minute geschwiegen und immer noch nicht hochgeschaut hatte, überlegte ich, ob er alles verstanden und überhaupt zugehört habe. Da ich zweifelte, erzählte ich meine Geschichte noch einmal, wieder mit etwas dünner Stimme und wartete auf eine Reaktion. Er schrieb wieder einige Sätze auf. Dann bat er mich, mit in das Nebenzimmer zu kommen, in dem er mich untersuchen werde. Wir liefen hinüber.
Jetzt kam die erwartete Aufforderung: „Bitte machen Sie den Unterleib frei!"
Ich dachte nur „Öhhhh!" und ließ etwas widerwillig die Hose samt Unterhose fallen - nun war ich unten nackt!
Als Herr S. meinen Penis sah, riß er die Augen auf, als sähe er nicht eben diesen Penis, der nicht sonderlich groß oder klein war, sondern eine angewachsene Banane von Onkel Tuca. Fehlte nur noch, daß er in sie hineingebissen und von ihr gekostet hätte. Dann merkte er sein eigenes Verhalten und verkleinerte seine Augen wieder auf das vorherige Maß.
Mensch, was war das bloß für ein Arzt?
Na ja, er zog nun an meinem Penis und strich ihn mit den Händen regelrecht aus, wahrscheinlich um zu sehen, ob Eiter heraustreten würde. Jetzt sollte ich mich umdrehen, mir war gleich klar, warum: jetzt wollte er mich rektal untersuchen! Und tatsächlich, er zog sich einen Gummihandschuh über die rechte Hand und legte seinen speckigen Mittelfinger auf meinen After. Er forderte mich auf, „gegenzupressen", ich wußte nicht gleich, was er meine, nur langsam dämmerte es mir, ja genau, der After sollte sich dadurch öffnen. Ich erwiderte, ein Eindringen in meinen After sei auch so möglich, vorausgesetzt, ich würde nicht gerade dichtkneifen.
Und in der Tat, er führte nun seinen Finger ein und drückte dabei auf die Prostata. Junge, Junge, das tat aber weh! Die Prostata war also offenbar entzündet!
Nach dieser Untersuchung wollte der Doktor noch die Blase mittels Ultraschall betrachten, um zu sehen, ob sie an der Entzündung beteiligt wäre. Ich legte mich auf einen Tisch, während er mit dem Sensor des Ultraschallgerätes meine Blase abtastete und dabei auf den Monitor schaute. Er konnte nichts Auffälliges erkennen, so blieb es bei der Diagnose der Prostatitis. Ich konnte mich wieder anziehen. S. gab mir ein Fläschchen mit Tropfen; er sagte, immer noch ohne mir ins Gesicht zu schauen, ich solle morgens und abends zwanzig Tropfen davon nehmen, mir werde es bald besser gehen.
Die Untersuchung war beendet, das Medikament überreicht, ich konnte wieder nach Hause fahren und mich erst einmal ausruhen - Gott sei Dank!

Zweiter Teil

Einige Tage waren vergangen, und natürlich hatte ich die Tropfen genommen, schließlich wollte ich wieder gesund werden. Der Beipackzettel versprach „krampflösende Eigenschaften", aber ich überlegte mir, ob ein Präparat, das ursächlich gegen Bakterien gewirkt hätte, nicht sinnvoller gewesen wäre, als ein Mittel zu verwenden, welches allenthalben die Symptone lindert. Wie auch immer: die Tropfen hatten nicht die geringste Wirkung, weder ursächlich noch symptomatisch, die Schmerzen wollten nicht weichen, es blieb bei dem Brennen und Drücken. Na, hatte ich wirklich nur eine Prostatitis? Warum wirkten dann die Tropfen nicht in der einen oder anderen Weise? Hatte ich nicht doch einen Tumor, den der Arzt vielleicht übersehen hatte? Mir war gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Steckte ich gar schon voller Metastasen? War ich überhaupt noch zu retten? Oder war alles verloren? Tja, ich mußte wohl oder übel noch einmal zu Doktor S. fahren, um mit ihm darüber zu sprechen. Ich steckte vielleicht in der Klemme!
Folgerichtig badete ich wieder, setzte mich in den Bus und suchte noch einmal die Praxis S. auf. Alles verhielt sich so, wie beim ersten Mal. Ich wartete wieder etwa fünfzehn Minuten, unterhielt mich wieder mit einigen Patienten, um mir Mut anzuquasseln und wurde dann zu Herrn Doktor geführt, der wieder nur kurz hochschaute und danach auf das Patientenblatt starrte. Beim Hinsetzen fühlte ich einen gehörigen Schwindel, und meine Hände waren klatschnaß.
Herr Doktor fragte erwartungsgemäß, was er für mich tun könne.
Ich erklärte meine Lage, wie es mir unter diesen Umständen möglich war, etwas hastig, etwas aufgeregt, vielleicht nicht ganz deutlich.
S. schaute nicht, sagte nichts, keine Urinprobe, aber er schrieb wieder. Erneut kam in mir der Eindruck auf, er verstehe nichts, höre nicht einmal hin. Also wiederholte ich alles. Schweigen. Also: zum dritten Mal erläuterte ich, wie gesagt, so gut ich konnte.
Der Doktor sprang auf, sagte, ich solle mitkommen. Ah, jetzt würde er mich nochmal untersuchen! Klasse!
Allerdings lief er nicht in das nebenstehende Behandlungszimmer, sondern ins Vorzimmer zu seiner Sprechstundenhilfe. Dort legte er mein Patientenblatt auf den Tresen. Ich war inzwischen gefolgt, wie er es wollte. Zu meiner großen Überraschung gab er mir seine fette rechte Hand, schüttelte sie und rannte wortlos in den Behandlungsraum zurück; seine Türe schloß er rasch. Nanu, der Arzt war vor mir geflohen! Die Sprechstundenhilfe schaute mich blöd an, ich schaute blöd zurück. Glaubte man mir denn nicht? Oder hatte man mich einfach nur mißverstanden?
Es hatten sich in mir tiefe Zweifel gebildet - war ich oder war ich nicht?
Es nützte alles nichts, ich fuhr erst einmal nach Hause und mußte mich setzen, zu viel Eigenartiges hatte ich heute erlebt und längst nicht verdaut!
Dritter Teil

In der folgenden Zeit hatte sich bei mir nichts geändert, ich nahm immer noch die Tropfen, obwohl es nichts nutzte, ich beschäftigte mich immer noch mit meinen Tumorphantasien, zweifelte, hatte Angst. Nein, so konnte es nicht weitergehen! Jetzt wollte ich zum dritten Mal zu S. fahren und gehörig auf den Putz klopfen! Also: Baden, Fahren, Warten, Vorstelligwerden. Welch ein Streß für mich!
Als ich ihn wieder vor mir sah, erzählte ich ihm nach bekanntem Muster meine alte Geschichte.
„Ach ja!", schrie er, „ach ja!"
Er stand auf, sagte, ich solle mitkommen. Er legte wieder das Patientenblatt seiner Sprechstundenhilfe auf den Tresen, wollte meine Hand schütteln, die ich wegzog, rannte wortlos in sein Behandlungszimmer und schloß die Türe.
Die Sprechstundenhilfe warf mir geheimnisvolle Blicke zu, als dächte sie, da stehe der Simulant, den Doktor S. längst als solchen enttarnt habe, aber wie gut, daß er, der Simulant, nicht wisse, daß sie längst Kenntnis davon hätte.

Ich fuhr zurück.

Nur einen Tag später besuchte ich einen anderen Urologen; zwar hatte ich mich inzwischen etwas beruhigt, aber natürlich war in mir das Gefühl des Mißtrauens gegenüber der Ärzteschaft immer noch sehr lebendig. Ich fragte ihn, ob er die bereits gestellte Diagnose der Prostatitis bestätigen und er ein anderes Medikament zur Verfügung stellen könne als das letzte, denn es habe nicht gewirkt. Auch stellte ich die Frage nach einem möglichen Tumor, diesmal in einer etwas klareren Aussprache. Die nachfolgende Untersuchung war sehr viel professioneller als vorher, der Arzt sprach mit mir, war freundlich, er erläuterte, sah mich dabei an und konnte einen Tumor definitiv ausschließen. Welch Erleichterung für mich! Am Ende gab er mir nicht etwa auch Tropfen mit, sondern eine Schachtel mit einem Antibiotikum. Er sagte, die akute Prostatitis müsse gleich mit einem solchen Medikament behandelt werden, damit sie nicht chronisch werde.
Nach zehn Tagen der Einnahme war es dann soweit: ich hatte keine Schmerzen mehr!

Nach all diesen grotesken Eindrücken, mein Friseur hätte mich medizinisch wahrscheinlich besser beraten können, kam mir in den Sinn, die Ärztekammer anzuschreiben und sie zu fragen, ob S. überhaupt ein zugelassener Mediziner sei und er eine Doktorarbeit abgelegt habe, da ich sehr an seiner Qualifikation zweifle. Schließlich konnte sich jeder ein Schild vor die Türe hängen und mit Titeln glänzen!
Nach wenigen Tagen antwortete sie sogar und teilte mir lapidar und höhnisch mit: „Gerne setzen wir Sie davon in Kenntnis, daß Herr Doktor S. promoviert ist und die Approbation als Arzt besitzt."
Die Kammer deckte S. also und wollte außerdem mit Fremdwörtern glänzen, von denen sie wähnte, ich kenne sie nicht! Auch stellte mir niemand Fragen, bei denen ich meine Zweifel hätte ausführlich begründen und somit glaubhaft darstellen können!

Alles in allem ist die Unfähigkeit fast der kompletten Ärzteschaft durchaus bekannt und nichts Neues. Aber die hier beschriebenen Gegebenheiten erreichen eine neue Dimension und läuten somit eine weitere Runde des nichtwahrgenommenen oder abgestrittenen Versagens ein, vielleicht könnte man sogar von einem Verbrechen am Patienten sprechen! Und geht es darum, den Kollegen vor Rügen, Strafprozessen und Regreßansprüchen zu schützen, halten sie alle zusammen bis zum Meineid!

Was S. betrifft, so „praktizierte" er noch einige Jahre weiter und verabschiedete sich dann in die, wie er wahrscheinlich bis heute meint, wohlverdiente Pension. Na gut, wenn er jetzt nur noch Erdbeeren züchtet, kann er zumindest im beruflichen Sinne keinen Schaden mehr anrichten!

Ende
 



 
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