Die wunderliche Geschichte von Claudia

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Klaus Zankl

Mitglied
Die wunderliche Geschichte von Claudia

Erster Teil

Ich glaube, es war im Jahre 1986. Ich war gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden und hatte an der Fachhochschule mein erstes Semester Maschinenbau absoviert und war vom Prüfungsstreß noch etwas müde. Trotzdem war ich frohgestimmt, da nun die Semesterferien begonnen hatten, die zweieinhalb Monate dauern würden. So kam es, daß ich während dieser Zeit unter anderem die eine oder andere Fahrradtour unternahm, um mich auch einmal den angenehmeren Dingen des Lebens zu widmen. Als ich dabei einmal zum Strande fuhr, kamen mir dort zwei Frauen mit ihren Rädern und flatternden, weißen Röcken entgegen, die mir nur deswegen aufgefallen waren, weil sie mich anscheinend wohlwollend musterten und dann an mir vorbeisausten. Die eine mag so etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein, die andere etwa vierzig. Da beide blonde Haare und und eine ähnlich spitze Nase hatten, durfte ich annehmen, daß es sich bei ihnen um Mutter und Tochter handelte. Ich will nun nicht prahlen, aber aufgrund meines herzförmigen Mundes, meiner rosa Wangen, meiner ebenfalls blonden und an den Spitzen lockigen Haare und der Stupsnase hatte sich schon so manches Mädchen nach mir umgeschaut, ohne das ich, zumeist aus purer Faulheit, darauf reagiert oder etwas Weiterführendes daraus gemacht hätte. Daher war ich auch in dieser Angelegenheit weder sonderlich überrascht, noch speziell interessiert. So fuhr ich einfach weiter und hatte die Begebenheit nach kurzer Zeit bereits wieder vergessen.
Gern besuchte ich während meiner freien Tage auch Kneipen und Diskotheken, um mit meinen Freunden Uwe und Thorsten einen zu zischen, zu reden, zu philosophieren, zu albern oder einfach nur dummes Zeug zu reden. Ich glaube, jedermann sollte das Recht haben, auch einmal dummes Zeug reden zu dürfen, ohne gleich als Dummkopf hingestellt zu werden, und dafür konnten meine Freunde, wie ich selbst natürlich auch, garantieren.
Als wir eines Abends dem „York", einer Diskothek, einen neuerlichen Besuch abstatteten, mußten wir zumindest körperlich tüchtig drängeln, um überhaupt noch Einlaß zu erhalten, so voll war das Lokal. Das Drängeln hatte Erfolg, nun waren wir drinnen und kämpften uns zum Tresen vor, um, obschon alkoholisch bereits angeheitert, ein paar weitere Runden zu bestellen. Das Bier schmeckte heute vielleicht! Nachdem wir unser Bier bekommen hatten, stellten wir uns damit an die Tanzfläche, um den heißen Rhythmen zu lauschen und den hübschen Mädchen beim Tanzen zuzusehen. Ich selbst tanzte nie, zum einen konnte ich es nicht, und zum anderen hätte ich mich dabei, vielleicht aus einer Neurose heraus, beobachtet gefühlt.
Ich schaute gerade ohne besonderen Grund zur linken Ecke der Tanzfläche, als ich dort zwei Mädchen sah, die auf mich zeigten und anscheinend über mich redeten. Eigentlich war es mir gleich, ob sie........momentmal! Die eine von ihnen kannte ich doch, es war dieselbe, die mir neulich am Strande entgegengekommen war! Sie hatte mich gleich wiedererkannt, obwohl sie doch so zügig an mir vorbeigefahren war! Nun machte sie mir auch noch ein hübsches Gesicht, schöne Augen und winkte kurz mit der rechten Hand. Nanu, was sollte das wohl? Wollte sie etwa von mir angesprochen werden? Allerdings hätte ich auf Anhieb nicht gewußt, was ich hätte sagen sollen, dazu noch meine Trägheit und auch die Enge in diesem Schuppen, die mich abermals dazu gezwungen hätte, mich zum Ziele durchzukämpfen, ließen mich nicht reagieren. So beschränkte ich mich einfach darauf, ihre Persönlichkeit zu betrachten und mir ihre Frohlockungen anzuschauen.
Thorsten der Idiot war inzwischen so besoffen, daß er sich am Tresen bei der Bestellung eines weiteren Bieres kaum noch artikulieren konnte und dazu von der gutaussehenden, weiblichen Bedienung geküßt zu werden verlangte. Er machte dazu mehrfach einen runden Mund und schmatzte genüßlich dabei. Die Quittung hierfür war, daß ihm jeglicher Alkohol verweigert und ihm anbei das baldige Verlassen der Diskothek nahegelegt wurde. Thorsten winkte Uwe und mich heran und lallte, wir mögen für ihn bestellen und ihm dann das Bierchen überreichen. Doch die Bedienung hatte das trotz der lauten Musik gehört und winkte gleich ab, als ich auch nur ein Wort sagen wollte. Wir wußten allerdings, daß es hier noch Nebenräumlichkeiten gab, an deren Tresen wir natürlich auch hätten bestellen können. Ein Blick zu meinen Freunden, obgleich beide blau, reichte völlig aus, um den Gedanken zu vermitteln. So tranken wir also nebenan weiter, bis sich alles so sehr drehte, daß es wirklich keinen Zweck mehr hatte, hierzubleiben, sondern nach zu Hause zu fahren und den Rausch auszuschlafen.

Zweiter Teil

Die Ferien waren nun vergangen, leider viel zu schnell, ich konnte kaum sagen, wo die Zeit geblieben war. Die Vorlesungen hatten wieder begonnen, und so ich fand mich pünktlich in der Hochschule ein, um den Lernstoff nicht zu verpassen. Immerhin waren die Klausuren meist sehr schwierig, und so wußte ich längst, daß sie nur zu lösen waren, wenn man sein Studium diszipliniert absolvierte.
In der ersten Vorlesungspause stand ich in der Mensa, um Kaffee zu trinken und eine zu rauchen. Das Rauchen war an diesem Orte nicht gerngesehen, aber es kümmerte mich nicht, zu groß war der Schmacht nach Nikotin. Etwas gelangweilt sog ich den Rauch ein, als einige offenbar frisch immatrikulierte Studentinnen die Mensa betraten und sich in meiner Nähe an einen Tisch setzten. Eine von ihnen sah mich mit großen, lieben Augen an, ich schaute verdutzt zurück. Mensch, was für ein neuerlicher Zufall! Schon wieder sah ich mich demselben Weibe gegenüber, das ich am Strande und im „York" gesehen hatte! Klar, daß ich nun Gesprächsthema bei den Mädchen war, natürlich hörten sie gespannt die Geschichte von ihr und mir und unseren stets zufälligen Begegnungen. Mal schauten die Studentinnen zu mir herüber, mal hörten sie ihrer Freundin weiter zu. So gingen die Köpfe hin und her, bis die Geschichte zuende erzählt war.
Bloß was sollte ich jetzt tun? Sollte ich sie jetzt ansprechen? Vor all den anderen Mädchen? Außerdem schwirrten mir mathematische Formeln durch den Kopf, deren Sinn ich noch gar nicht ganz verstanden hatte und über die ich grübelte. Nein, jetzt war schon wieder nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, auch gelüstete es mich zur Zeit nicht, händchenhaltend und meinetwegen bei Vollmond am Deiche oder sonstwo spazierenzugehen. Ich wollte momentan von der Frauenwelt eigentlich gar nichts wissen, dies sollte keine Entscheidung für immer sein, aber momentan.......
Es liegt auf der Hand, daß ich das blonde Mädchen mit der spitzen Nase im Laufe des Semesters noch mehrere Male gesehen hatte; nie wurde sie müde, mich freundlich und fordernd anzuschauen; ich reagierte nie. Da ich mit ihr noch kein einziges Wort gewechselt hatte, kannte ich dementsprechend nicht einmal ihren Namen. Ich nannte sie daher im stillen „Claudia", weil ich subjektiv den Eindruck hatte, dieser Name passe gut zu ihr.
Auch dieses Semester war irgendwann vorüber, die Klausuren standen wieder einmal bevor, für die ich zu Hause fleißig gelernt hatte. Insgesamt sollten es acht Stück sein, die zu lösen waren. Mit einigen tat ich mich recht schwer, sie wurden dementsprechend auch nur mit einer knappen Vier bewertet, andere fielen mir sehr viel leichter und es wurde eine Zwei daraus. Eine Arbeit ging in die Hose, Fünf, nämlich im Fache Mathematik. Aber noch war nicht aller Tage Abend und ich wußte, daß ich diese verlorene Klausur im nächsten Semester hoffentlich erfolgreich wiederholen könne.
Die Wintersemesterferien waren viel kürzer, als die des Sommers, nur vier Wochen, aber in ihnen konnte ich ein weiteres Hobby pflegen, nämlich das des Spielens in Spielhallen. Nicht, das ich viel Geld gehabt hätte, natürlich nicht, aber ich beschränkte mich dabei ohnedies auf das Spielen an Videoautomaten. Die vielen Geldautomaten, die es hier natürlich auch gab, reizten mich überhaupt nicht, denn ich hatte früher das eine oder andere Geldstück in sie hineingeworfen, aber nie auch nur einen Pfennig zurückerhalten. Daher war mir längst klar, das große Glück war mit diesen Groschengräbern nicht zu machen, also mied ich sie.
Auch für diese Leidenschaft des Videospielens hatte ich einen Kumpel namens Olaf. Er war seit Jahren arbeitslos und wartete stets ungeduldig auf meine Semesterferien, weil es ihm einfach mehr Spaß machte, mit mir zusammenzuspielen, als alleine. So kam es, daß ich ihn während dieser Zeit bereits morgens mit frischen Brötchen aufsuchte, um mit ihm zunächst in Ruhe zu frühstücken und dann mit den Rädern zur Spielhalle zu fahren, und dies fast jeden Tag meiner freien Zeit.
Wir trugen regelrechte Wettbewerbe aus, den einen Automaten beherrschte er wegen seiner langen Übung mit großer Virtuosität, den anderen ich, und so war mal ich erfolgreicher, und mal er.
Ich kann also wirklich nicht sagen, daß ich mich in meinen Ferien gelangweilt hätte, morgens war ich mit Olaf unterwegs, und abends mit Thorsten und Uwe.
Als ich eines Mittags nun die Spielhalle verlassen hatte, um mir bei Karstadt einige Schachcomputer und deren Preise anzuschauen, na, wer stand da wohl wieder zufällig am Rande der Einkaufsstraße, klar, Claudia mit ihren Freundinnen. Natürlich sah und erkannte sie mich gleich mit ihren großen, blauen Augen und winkte mir wieder zu. Also, na ja, also so langsam wurde mir Claudia nicht unheimlich, das nicht, aber doch ein wenig lästig. Ich hatte keine Zeit, ich wollte doch zu Karstadt, also aus dem Wege. Ich ignorierte sie daher wieder und setzte meine Strecke fort.
Die Schachcomputer bei Karstadt fand ich gleich, ich durfte sogar eine Probepartie spielen, die ich gewann. Aber die Preise waren wirklich teuer bis unerschwinglich, viele hundert Mark für Geräte, die mir noch dazu zu klein waren. Ideal wäre das klassische Turniermaß von fünfzig mal fünfzig Zentimetern gewesen, aber solch große Schachcomputer gab es hier nicht und so verließ ich das Geschäft bald wieder.
Und schon war es abermals Zeit für Thorsten und Uwe, wir wollten wieder das „York" besuchen und einen zischen. Als wir mit unseren Rädern vorfuhren, verließen gerade zwei junge Frauen das Gebäude und kamen uns entgegen. Wer die eine von beiden war, ist längst klar, es war Claudia, die mich heute allerdings sehr vorwurfsvoll anschaute und mir nicht etwa wieder schöne Augen machte. In diesem Zustand lief sie an mir vorbei; ich wußte natürlich, warum sie das tat, immerhin hatte ich sie ja nie angesprochen. Aber egal, weg da, ich wollte einen zischen, und Uwe und Thorsten warteten bereits auf mich vor dem Eingang.

Dritter Teil

Im folgenden Semester konnte ich Claudia in der Schule nirgendwo mehr sehen. Möglich war, daß sie nur ein halbes Jahr studiert und sich dann beruflich anders orientiert hatte. Vielleicht aber hatte sie auch einfach keine Lust mehr, weiterzustudieren. In diesem Zusammenhang waren mir schon viele Studenten begegnet, die keinen Antrieb mehr dazu verspürten, sich mühsam bis zum Diplom vorzuquälen. Ich persönlich war aber noch einigermaßen motiviert.
Die Hochschule selbst bestand aus zwei Gebäuden, dem Hauptgebäude und dem Südgebäude. Dementsprechend mußten die Kommilitonen und ich ständig pendeln, um alle Vorlesungen hören zu können. Zwischen den Gebäuden gab es zwei oder drei Bänke, die in den Pausen ständig besetzt waren und danach nur noch von wenigen Besuchern, die sich hier auch gelegentlich blicken ließen, in Anspruch genommen wurden. Diese Bänke hatten eigentlich keine besondere Bewandtnis, wenn nicht eines Tages Claudia, die mir wegen ihrer bisherigen Abwesenheit nicht mehr allzu lebhaft in Erinnerung war, auf einer dieser Bänke gesessen hätte, als ich dort im Zuge einer Freistunde ein wenig spazierenging. Wie lange sie dort schon gesessen hatte, konnte ich nicht sagen, ich gewann rasch den Eindruck, daß sie bereits morgens gekommen sei, um mich hier nach dem Motto, irgendwann müsse ich ihr ja begegnen, läge ich nicht krank im Bett, abzupassen. Sie schaute mich ausdruckslos an, ich schaute ausdruckslos zurück. Sie unternahm nichts, ich unternahm auch nichts.

Ich lief weiter.

Einige Wochen später dann hatte ich doch wieder Lust, einige Damenbekanntschaften zu machen, ich glaube, ich wäre nun auch für Claudia bereit gewesen, doch konnte ich sie nirgendo mehr sehen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt, so aufmerksam ich meine Umgebung auch betrachtete.
Aber im „York" sah ich einmal ein süßes Mäuschen, das etwas scheu an der Tanzfläche stand, welches etwa mein Alter zu haben schien und bei der nicht erkennbar gewesen wäre, daß sie einen Freund habe. Ich glaubte auch, sie schon einige Male in meiner Straße gesehen zu haben; offenbar wohnten wir ganz in der Nähe. Nun drehte sie sich um und merkte, daß ich sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte. Fragend sah sie mich an; ich schaute weg, als interessiere ich mich nicht für sie.
Ich faßte einen Plan: Ich wollte solange warten, bis sie nach Hause ginge. Dann würde ich ihr unauffällig folgen, um zu sehen, wo sie wohne. Hätte ich das herausbekommen, wollte ich mir alle Namen von ihrem Klingelbrett abschreiben, um die Nachbarn unter einem Vorwand anzurufen und zu fragen, wie das hübsche, junge Mädchen mit den braunen Augen und den schönen, schwarzen Haaren heiße, sofern sie mir den Vorwand geglaubt und dementsprechend Auskunft erteilt hätten. Würde sich dabei durch irgendeinen Umstand, den es noch zu definieren galt, herausstellen, daß ich mit der Familie der Schönen selbst spreche, hätte ich nach ihr gefragt, mich ihr telefonisch ein wenig vorgestellt und sie anschließend zu einem Treffen in einem Cafe eingeladen. Auch auf die Möglichkeit, daß sie ganz alleine wohne, ging mir durch den Kopf. Ob die Rechnung insgesamt so aufgehen werde, war mir nicht klar, aber einen Versuch war es mir auf jeden Fall wert.
Und tatsächlich, es verging keine halbe Stunde, bis sie den letzten Schluck ihres Saftes ausgetrunken hatte, ihre Rechnung bezahlte und das Lokal verließ. Ich folgte ihr. Hätte sie sich nun ein Taxi genommen, wäre wohl mein Plan zunichte gemacht worden, denn ich hätte mich wohl kaum mit der Begründung, ich führe in dieselbe Richtung, in dasselbe Taxi setzen können. Aber nein, sie nahm keines, vielleicht war ihr das Geld zu schade, sie ging nach Hause und ich ihr unauffällig hinterher. Sie verschwand schon nach wenigen Minuten in der Hausnummer neunundsechzig meiner Straße, tatsächlich, wir waren fast Nachbarn. Ich wartete noch ein paar Minuten, bis ich das Gefühl hatte, die Luft sei rein und niemand erahne mein Vorhaben oder störe sich daran. Bald stand ich vor ihrer Haustüre, sah auf das Klingelbrett und notierte mir alle Namen.
Ja ja, ich konnte ein richtiger Spitzbube sein, wenn ich nur wollte und auch in der richtigen Stimmung dazu war!

Vierter Teil

Schon am nächsten Tage nahm ich das Telefonbuch zur Hand und hielt Ausschau nach dem ersten von mir notierten Namen. Es war der Name „Nielsen"; er wurde im Telefonbuch mehrfach aufgeführt, aber nur einmal unter der Hausnummer neunundsechzig mit dem Vornamen „Emma". Bei diesem Namen sprach eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß es sich dabei um eine ältere Frau handele, die die Nachbarin war und welche meinen Plan nur noch besser ausführbar erscheinen ließ, da ich annahm, daß sie mir aufgrund ihres Alters nicht so viele kritische Fragen stellen werde.
Ich wählte ihre Nummer und erreichte sie tatsächlich. Ich nannte für alle Fälle den Falschnamen „Renz", denn wenn alle Stricke gerissen wären, ich die Schöne letztendlich also nicht für mich hätte gewinnen können, so wäre es nach meiner Vorstellung bloß dienlich gewesen, wenn keiner meine wahre Identität gekannt hätte. Für den völligen Erfolgsfall hätte ich meinen Namen mit der Begründung, man habe mich am Telefon bloß nicht richtig verstanden, korrigiert.
Ich erläuterte Frau Nielsen, eine junge, hübsche Frau mit schwarzen Haaren habe gestern Abend auf dem Wege nach Hause ihr Portemonnaie verloren, und sie sei in der Hausnummer neunundsechzig verschwunden. Daher erbitte ich ihren Namen, um es ihr zurückgeben zu können.
Frau Nielsen freute sich über meine „Ehrlichkeit" und sagte, es könne sich dabei nur um Martina Lorenz handeln, die im selben Stockwerk wohne wie sie selbst, ich solle ihr am besten noch heute die Brieftasche zurückgeben. Ich versprach es gleich, verabschiedete mich und legte auf.
Ich nahm noch einmal zur Kontrolle meine Namensliste hervor, und tatsächlich, der Name Lorenz war von mir notiert worden; die dazugehörige Telefonnummer fand ich schnell und wählte sie. Jetzt kam es drauf an!
Der Stimme nach zu urteilen meldete sich hier eine Dame in den Mittfünfzigern, aber ich mochte mich täuschen. Ich nannte einfach meinen Falschnamen und bat, die Tochter Martina sprechen zu dürfen. Die Tochter wurde gerufen, und sie meldete sich gleich darauf am Telefon mit ihrem vollen Namen. Ein Schmunzeln lief über mein Gesicht; alles hatte bisher so geklappt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Würde ich nun mein Ziel erreichen? Könnte ich sie für mich gewinnen?
Wiederum nannte ich meinen Falschnamen und sagte kurz darauf, ich wisse, daß sie, Martina, mehr oder weniger meine Nachbarin sei, die ich dementsprechend hier oder dort gesehen hätte und fragte, ob ich sie einmal kennenlernen dürfe. Ich schlug ein Treffen in einem Cafe in der Innenstadt vor. Martina zeigte sich sehr interessiert an mir, so scheu, wie ich sie in der Diskothek erlebt hatte, war sie offenbar gar nicht. Sie stellte die Frage, woher ich ihren Namen wisse, denn dieser stehe ja nicht auf ihrem Hemde, wie bei einem Soldaten. An diese Frage hatte ich noch gar nicht gedacht, verdammt, ich Trottel, natürlich, diese Frage lag doch auf der Hand, aber in der Kürze der Zeit fiel mir keine passende Ausrede ein. Ich sagte, ja ja, dies sei eine lange Geschichte, die ich in der Kürze der Zeit nicht beantworten könne, aber ich werde ihr demnächst diese Frage beantworten.......Wie auch immer, Martina und ich plauderten noch ein paar Minuten weiter, und je länger wir redeten, desto sicherer wurde ich im Sprechen und Wirken; alle Zweifel waren zerstoben. Ich hatte den Eindruck, Martina gehe es nicht anders. Wir verabredeten uns also für den nächsten Tag im „Cafe Decker"; sie fragte natürlich nach meinem Aussehen und woran sie mich erkennen werde. Ich beschrieb mich so gut ich konnte und erwiderte ferner, daß ich sie bei ihrem Erscheinen ohnedies ansprechen werde, es spiele daher keine allzu große Rolle, ob sie mich anhand meiner Beschreibung identifizieren könne oder nicht. Das leuchtete Martina ein.
Einen Tag später fanden wir uns pünktlich im Eingang des Cafes ein. Als ich auf Martina zuging, um sie anzusprechen, ahnte sie bereits, daß ich es sei, der mit ihr telefoniert habe. Ein nettes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich gab ihr die Hand und bat sie, mit mir hineinzugehen, um Kaffee zu trinken. Wir plauderten wirklich nett. Martina war Verkäuferin von Beruf und hatte gerade ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie zeigte sich sehr weltoffen und deutete an, sie sei schon länger auf der Suche nach einem neuen Freunde, daher freue sie sich, daß ich sie einfach angerufen hätte. Auch sie habe mich bereits einige Male gesehen, auch im „York", als ich hinter ihr stand.
Kurz: Ich entsprach offenbar Martinas Vorstellungen eines Mannes, vom Aussehen her, vom Auftreten her und auch mein beruflicher Status stellte sie zufrieden. Bald waren wir ein Paar! Volltreffer!
So kam es, daß sie mich, da ich eine eigene Wohnung besaß, während des Semesters stets nachmittags nach Feierabend und an ihren freien Wochenenden besuchte, und in ihrem Urlaub den ganzen Tag, sofern dies meine Zeit erlaubte. Wenn sie abends keine Lust mehr hatte, nach Hause zu gehen, so übernachtete sie einfach bei mir und sagte zu Hause telefonisch Bescheid. Ich besaß zwar nur ein enges Einmannbett, aber wenn man in jedem Falle mit zwei Personen darin schlafen wollte, so konnte man das irgendwie arrangieren. Wir verbrachten eine glückliche Zeit miteinander. Inzwischen hatte ich Martina auch erläutert, wie ich wirklich auf ihren Namen gekommen sei; augenzwinkernd war sie meinen Ausführungen gefolgt.
Martinas Familie allerdings empfand ich als ein wenig kleinbürgerlich. Diese Leute erwarteten vom Leben wenig oder nichts; sie waren schon bei billigen Musiksendungen im Fernsehen und einem Glas Wein zufrieden. Nie war mir aufgefallen, von Martinas Weltoffenheit einmal abgesehen, daß sie tiefergehende oder weiterführende Fragen zum Leben gestellt oder gar witzige oder extravagante Ansichten vertreten hätten. Ich konnte wirklich nicht erkennen, daß auch nur ein Familienmitglied ein Suchender und somit Leidender gewesen wäre, überall herrschte Zufriedenheit über das Erreichte und Zuversicht. So sehr mich das auch störte, ja so neidisch ich in bezug darauf auch reagieren konnte, ohne es zu zeigen natürlich, so schnell hatte ich es vergessen, wenn ich wieder zu Hause war, denn mit Martina selbst konnte ich eigentlich, wenn ich einmal mathematische und physikalische Formeln wegließ, über alles reden.

Fünfter Teil

Das Studieren ging zügig voran, es war zwar immer noch schwierig und zum Teil auch mühsam, aber es war mir tausendmal lieber, als in einem schweren Handwerksberuf zu arbeiten oder wie Martina den ganzen Tag an der Kasse zu sitzen.
Eines Mittags saß ich wieder in der Mensa; Tischmanieren kannte ich sowieso nicht und so schlang ich wie ein Wolf und schmatzte wie ein Schwein. Immer, wenn ich derart genußvoll beschäftigt war, vergaß ich die Welt um mich herum und konzentrierte mich nur auf das Essen. Als ich dann aber doch eine kurze Pause einlegen mußte, weil meine Speiseröhre die großen Brocken für einen Moment nicht mehr bewältigen konnte, nutzte ich die Zeit, um mir mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn abzuwischen. Plötzlich zupfte etwas an meinem rechten Ärmel. Nanu, ich schaute mich verdutzt um, und wer saß da? Es war Claudia, nur Zentimeter von mir entfernt, die mir zutiefst in die Augen sah! Donnerwetter, damit hatte ich jetzt natürlich nicht mehr gerechnet! Wieder stellte ich mir die Frage, was ich nun tun solle. Ich war doch schon vergeben, was sie aber offenbar nicht wußte, sonst säße sie ja nicht neben mir! Nach einigen Sekunden der lähmenden Überraschung kehrte meine Handlungsfähigkeit zurück, ich beschloß, ohne mich weiter stören zu lassen, aufzuessen und dann einfach zu gehen. Nachdem der letzte Brocken geschluckt war, nahm ich mein Tablett und meine Tasche, lief zügig zur Geschirrückgabe und stellte das Tablett auf das dortige Fließband. Ich warf noch einmal einen Blick zu Claudia, sie schaute mir hinterher, klar. Ich konnte mir vorstellen, daß auch wieder ihre Freundinnen zugegen waren, denen sie ihren Plan bestimmt im Vorfelde mitgeteilt hatte. Ich schaute mich kurz um, konnte aber auf Anhieb niemanden erkennen, der die Szene beobachtet hätte. Wie auch immer, ich war in der Mensa fertig und ging nach draußen, um mit meinem Fahrrad nach Hause zu fahren. Ich spürte die ganze Zeit Claudias Blicke im Rücken; ein - oder zweimal schaute ich mich noch um, und tatsächlich, Claudia stierte mir durch die Fensterscheiben der Mensa hinterher. Ich fuhr nach Hause.
Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als Martina von meinem Schatten zu berichten, um künftigen heiklen Situationen, bei denen Martina vielleicht dabei gewesen wäre, verbal vorzubeugen. Kopfschüttelnd hörte sie die Geschichte von Claudia und mir und konnte es kaum fassen.
In der Folgezeit war es dann so, daß mein Telefon mehrere Male pro Tag läutete, ohne daß sich jemand gemeldet hätte. Morgens war das so, mittags war das so, abends auch und sogar tief in der Nacht. Ganz selten hörte ich beim Abnehmen ein trauriges „Entschuldigung". Es war immer dieselbe Stimme, es war immer eine weibliche Stimme, und es war eine Stimme des Abschieds. Es war die Stimme Claudias, wie sie auch immer meinen Namen herausbekommen hatte.
Ging ich in die Stadt und sah ich in ihr einige Mädchen, die ich überhaupt nicht kannte, so zeigten sie vorwurfsvoll mit den Fingern auf mich und tuschelten. Sie schienen mich also zu kennen, sagten es mir aber nicht. Ging ich in die nächste Buchhandlung und stand dort ein Pärchen in der Ecke, so zeigte die Frau ihrem Begleiter meine Person. Ich konnte zwar nicht hören, was sie dem Manne zuflüsterte, aber ich hatte das Gefühl, sie sage, das ist derjenige, von dem ich dir immer erzählt habe. Lief ich über das Gelände der Hochschule, drehten sich desöfteren einige Studentinnen mit ernsten Gesichtern nach mir um und warfen sich geheimnisvolle Blicke zu.
Ja, war ich denn jetzt balla balla? Hatte ich einen Verfolgungswahn entwickelt? War der KGB hinter mir her? Hä?
Die anonymen Telefonanrufe hörten nicht auf. Tagein, tagaus, klingeling, klingeling. Ja, war denn Claudias Liebe zu mir wirklich so rein und so tief? Litt sie wirklich wie ein Tier, zumal sie zwischenzeitlich wohl herausbekommen haben dürfte, daß ich liiert sei? Oder war sie einfach nur verrückt? Was sollten die Anrufe? Wollte sie vielleicht nur meine Stimme hören? Oder wollte sie mich bloß ärgern? Natürlich hätte ich mir eine Geheimnummer geben lassen können, aber das war mir zu teuer.
Mein Telefon klingelte zwei Jahre lang. Inzwischen war ich mit meinem Studium fertig geworden und durfte mich daher „Diplom - Ingenieur" nennen. Meine kleine Studentenbude hatte ich inzwischen aufgegeben und mir, zumal ich inzwischen Arbeit bekommen hatte, zusammen mit Martina eine größere Wohnung genommen. Der alte Telefonanschluß galt also nicht mehr. Bei der Beantragung des neuen zögerte ich lange, die Telefonnummer im Telefonbuch abdrucken zu lassen, letztlich stimmte ich aber zu und wartete gespannt auf neuerliche anonyme Anrufe. Diese blieben allerdings zu meiner Überraschung aus.
Claudia rief also nicht mehr an, auch ist es mittlerweile bestimmt zehn Jahre her, daß ich sie das letzte Mal gesehen habe; ihr Schicksal ist daher unklar. Hat sie sich umgebracht? Ist sie in der nächsten Nervenheilanstalt gelandet? Und wenn ja, warum ist sie nicht irgendwann wieder entlassen worden? Ist sie vielleicht weit weg gezogen? Hat sie längst geheiratet und ist sie dabei glücklich geworden?
Es liegt auf der Hand, daß Claudia, gleich, was nun aus ihr geworden ist, meine Wenigkeit für den Rest ihres Lebens nicht vergessen können würde. Claudia hatte sich jahrelang in stillem Schmerze und quälender, unerfüllter Sehnsucht verzehrt. Diese Schmerzen dürften so stark gewesen sein, daß sie längst zu einem unauslöschlichen Trauma mutiert waren und Claudia samt ihrer Familie wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang begleiten würden, wenn auch die Zeit die eine oder andere Wunde geheilt haben wird.
Was mich anbelangt, so habe ich diese Situation nicht vorsätzlich herbeigeführt. Ich habe niemandem eine Liebschaft oder Heirat versprochen, und der Umstand, daß Claudia mir immer schöne Augen gemacht hat, reicht, das wußte sie, beim gewöhnlichen Manne vielleicht aus, daß er sie anspricht, bei mir aber, das ahnte sie nicht, nicht unbedingt.

Ich wünsche Claudia das Beste!


Ende
 

anemone

Mitglied
hallo Klaus,

immerhin hat sie eins dadurch erreicht, dass du dich zu dieser Geschichte aufgerafft hast. Schön und anschaulich geschrieben, ich hoffe, es geht ihr gut!

Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht erjagen. GOETHE, Faust I
 

Amanita

Mitglied
sorry....

... ellenlange Absätze, kaum Dialog. Ich konnte das nicht lesen.
War mir persönlich zu langweilig für ne Kurzgeschichte. Pack es bei "Ab 18 & Horror" rein, die lesen so was.

(Der Fairness halber von mir keine Bewertung.)
 



 
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