Als ich heute morgen den Schulbus bestieg, murmelte ich zerstreut mein übliches „Guten Morgen, Diehsel“. Ich tat dies ganz automatisch, wie an jedem Tag, an dem ich zur Schule muss. Erst als mein Blick auf den Jungen fiel, der da vorne hinter dem Lenkrad saß und mich verlegen anschaute, bemerkte ich meinen Irrtum. Ich wurde rot und stammelte eine umständliche Entschuldigung. Wie schrecklich dumm von mir! Wie kam es, dass ich vergessen hatte, dass Hannes Diehsel nie wieder hinter dem Steuer seines geliebten Busses sitzen würde. Mein „Guten Morgen, Diehsel“, das mir über all die Jahre so in Fleisch und Blut übergegangen war, war überflüssig geworden.
Fünfundzwanzig Jahre lang hatte ich den Weg von meiner kleinen Wohnung zum Gymnasium mit Hannes Diehsel geteilt. Wir fingen beide am gleichen Tag an. Ich als Lateinprofessor und Diehsel als Fahrer. In meiner Erinnerung an all die Jahre gibt es keinen Tag, an dem Diehsel nicht im Dienst gewesen wäre. Und ebenso wenig fällt mir ein Tag ein, an dem Diehsels Bus nicht um Punkt zwei nach halb acht in meine Gasse einbog. Seine Pünktlichkeit war legendär. „Ja servus, Professor“, pflegte er auf meinen Gruß zu antworten.
Da ich an der ersten Station wohne, konnte ich stets den Platz besetzen, der dem Fahrer am nächsten ist. So hatten wir Gelegenheit, jeden Morgen ein paar Worte zu wechseln. Aber nur, wenn der Bus stand, denn während der Fahrt war das Sprechen mit dem Fahrer verboten. So stand es auf dem Schild über Diehsels Kopf. „Ist Vorschrift“, meinte Diehsel einmal und daran hielten wir uns. Regeln hatten eine besondere Bedeutung für Hannes Diehsel, als wären sie der Kitt, der sein Leben zusammenhielt. Und geregelt verlief auch unsere Konversation. Wir hatten im Lauf der Zeit unseren eigenen Plauderfahrplan entwickelt: Michaelisplatz – das Wetter, Altes Rathaus – Politik, Lange Gasse – Sport, Joaneumsgasse – Schulklatsch. Danach kam das Franklin-Gymnasium, wo ich ausstieg.
Ein einziges Mal versuchte ich, aus unser Gesprächsroutine auszubrechen. „Gehst du auch mal ins Theater?“, fragte ich Diehsel. Er drehte sich zu mir um, warf mir nur einen verwunderten Blick zu und wandte sich wortlos wieder der Straße zu. Dabei schüttelte er den Kopf, ganz so, als würde er sich fragen: „Was soll das denn?“ Ich wurde verlegen, hatte ich doch frevlerisch gegen unsere Regel verstossen. Es sollte nie wieder vorkommen. Bis letzten Freitag.
Wir fuhren, wie immer auf die Minute genau, in die Station Joaneumsgasse ein, da drehte sich Diehsel um. „Sag Professor“, begann er, „Der Tod. Fürchtest du dich vor dem?“ Ich war sprachlos. „Darüber hab ich noch nicht nachgedacht, Diehsel“, war alles, was ich endlich herausbrachte. Und dann geschah etwas ganz Unerhörtes. Mit langsamer Drehung schwang Diehsel seine Beine herum und stand auf. Längst hätte sich der Bus wieder in Bewegung setzen müssen, aber Hannes Diehsel lehnte sich an eine Haltestange, als hätte er alle Zeit der Welt. Inzwischen waren auch die anderen Passagiere aufmerksam geworden. Viele von ihnen kannten den zuverlässigen Diehsel schon jahrelang und keiner sagte ein Sterbenswort.
Lange sah er mich nur an und ich versuchte in seinem Gesicht zu ergründen, was ihn bewegte. Aber da war nichts, außer Gelassenheit. „Er wird so schlimm nicht sein, was meinst du, Professor?“, sagte er schließlich so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. „Jeder geht einmal, Diehsel“, antwortete ich, „Und so ist das auch in Ordnung.“ Diehsel nickte ernst und betrachtete dabei seine Schuhe. „’s ist sicher eine gute Ordnung, was?“, murmelte er. Dann so, dass jeder ihn hören konnte: „Servus Professor.“ Und jetzt stieg Hannes Diehsel aus und entfernte sich unter dem Gemurmel der Fahrgäste von seinem Bus. Ich starrte ihm nach und sah ihm zu, wie er ruhigen Schrittes die Joaneumsgasse entlangschlenderte, bis er in die nächste Seitengasse einbog und verschwand.
Der Selbstmord des Hannes Diehsel löste unter denen, die ihn flüchtig gekannt hatten, Verwunderung aus. Ich selbst war bestürzt. Meine eigene bescheidene Recherche nach seinen Gründen brachte nichts ein. Es gab niemanden, der ihm sonderlich nahe gestanden hatte und der mir eine Erklärung hätte liefern können. War es eine schlimme Krankheit, deren qualvolles Ziel er nicht erreichen wollte? Oder hatte sich ein dunkler Schatten über Diehsels Verstand gelegt, der ihn keinen anderen Ausweg sehen ließ? Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nichts anderes, als Hannes Diehsel an diesem Donnerstag, neun Uhr, die letzte Ehre zu erweisen.
Ich werde pünktlich sein.
Fünfundzwanzig Jahre lang hatte ich den Weg von meiner kleinen Wohnung zum Gymnasium mit Hannes Diehsel geteilt. Wir fingen beide am gleichen Tag an. Ich als Lateinprofessor und Diehsel als Fahrer. In meiner Erinnerung an all die Jahre gibt es keinen Tag, an dem Diehsel nicht im Dienst gewesen wäre. Und ebenso wenig fällt mir ein Tag ein, an dem Diehsels Bus nicht um Punkt zwei nach halb acht in meine Gasse einbog. Seine Pünktlichkeit war legendär. „Ja servus, Professor“, pflegte er auf meinen Gruß zu antworten.
Da ich an der ersten Station wohne, konnte ich stets den Platz besetzen, der dem Fahrer am nächsten ist. So hatten wir Gelegenheit, jeden Morgen ein paar Worte zu wechseln. Aber nur, wenn der Bus stand, denn während der Fahrt war das Sprechen mit dem Fahrer verboten. So stand es auf dem Schild über Diehsels Kopf. „Ist Vorschrift“, meinte Diehsel einmal und daran hielten wir uns. Regeln hatten eine besondere Bedeutung für Hannes Diehsel, als wären sie der Kitt, der sein Leben zusammenhielt. Und geregelt verlief auch unsere Konversation. Wir hatten im Lauf der Zeit unseren eigenen Plauderfahrplan entwickelt: Michaelisplatz – das Wetter, Altes Rathaus – Politik, Lange Gasse – Sport, Joaneumsgasse – Schulklatsch. Danach kam das Franklin-Gymnasium, wo ich ausstieg.
Ein einziges Mal versuchte ich, aus unser Gesprächsroutine auszubrechen. „Gehst du auch mal ins Theater?“, fragte ich Diehsel. Er drehte sich zu mir um, warf mir nur einen verwunderten Blick zu und wandte sich wortlos wieder der Straße zu. Dabei schüttelte er den Kopf, ganz so, als würde er sich fragen: „Was soll das denn?“ Ich wurde verlegen, hatte ich doch frevlerisch gegen unsere Regel verstossen. Es sollte nie wieder vorkommen. Bis letzten Freitag.
Wir fuhren, wie immer auf die Minute genau, in die Station Joaneumsgasse ein, da drehte sich Diehsel um. „Sag Professor“, begann er, „Der Tod. Fürchtest du dich vor dem?“ Ich war sprachlos. „Darüber hab ich noch nicht nachgedacht, Diehsel“, war alles, was ich endlich herausbrachte. Und dann geschah etwas ganz Unerhörtes. Mit langsamer Drehung schwang Diehsel seine Beine herum und stand auf. Längst hätte sich der Bus wieder in Bewegung setzen müssen, aber Hannes Diehsel lehnte sich an eine Haltestange, als hätte er alle Zeit der Welt. Inzwischen waren auch die anderen Passagiere aufmerksam geworden. Viele von ihnen kannten den zuverlässigen Diehsel schon jahrelang und keiner sagte ein Sterbenswort.
Lange sah er mich nur an und ich versuchte in seinem Gesicht zu ergründen, was ihn bewegte. Aber da war nichts, außer Gelassenheit. „Er wird so schlimm nicht sein, was meinst du, Professor?“, sagte er schließlich so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. „Jeder geht einmal, Diehsel“, antwortete ich, „Und so ist das auch in Ordnung.“ Diehsel nickte ernst und betrachtete dabei seine Schuhe. „’s ist sicher eine gute Ordnung, was?“, murmelte er. Dann so, dass jeder ihn hören konnte: „Servus Professor.“ Und jetzt stieg Hannes Diehsel aus und entfernte sich unter dem Gemurmel der Fahrgäste von seinem Bus. Ich starrte ihm nach und sah ihm zu, wie er ruhigen Schrittes die Joaneumsgasse entlangschlenderte, bis er in die nächste Seitengasse einbog und verschwand.
Der Selbstmord des Hannes Diehsel löste unter denen, die ihn flüchtig gekannt hatten, Verwunderung aus. Ich selbst war bestürzt. Meine eigene bescheidene Recherche nach seinen Gründen brachte nichts ein. Es gab niemanden, der ihm sonderlich nahe gestanden hatte und der mir eine Erklärung hätte liefern können. War es eine schlimme Krankheit, deren qualvolles Ziel er nicht erreichen wollte? Oder hatte sich ein dunkler Schatten über Diehsels Verstand gelegt, der ihn keinen anderen Ausweg sehen ließ? Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nichts anderes, als Hannes Diehsel an diesem Donnerstag, neun Uhr, die letzte Ehre zu erweisen.
Ich werde pünktlich sein.